«Die Zeit, in der Gott das Königreich Israel neu errichten wird, ist noch nicht gekommen«, versicherte Saul.»Was du in dem Buch Daniel gelesen hast, hast du falsch ausgelegt. Die Zeit, da der Messias von Israel unter uns erscheinen wird, liegt noch in weiter Ferne.«

Dann zitierte ich ihm Jesaja und Esra und Jeremia, um ihm zu beweisen, daß meine Auslegung der Prophezeiungen die richtige sei.»Es sind die letzten Tage, mein Bruder Saul; du kannst es ja überall sehen. Es sind gewaltige Umwälzungen im Gange. «Saul schüttelte nur den Kopf.»So war es auch zur Zeit der Makkabäer«, entgegnete er.»Doch kein Messias kam.«

«Aber diese hier sind schlimmere Zeiten«, gab ich zu bedenken. Und so gingen unsere Argumente hin und her. Saul war ein guter Rabbi und im Tempel sehr begehrt. Er war ein frommer Jude und kannte den Wortlaut des Gesetzes besser als irgendein anderer. Und so stimmte es mich traurig, daß er nicht an die Rückkehr unseres Meisters glaubte. Denn dies würde ein glorreicher Tag sein, und Zion würde wieder neu erschaffen.

Es begab sich, daß wir Kunde von der Feuersbrunst in Rom erlangten, die große Teile der Stadt zerstört und Krankheit und Hunger über Rom gebracht hatte. Und wir hörten auch, daß unser alter Freund und Bruder Simon in der Arena hingerichtet worden war, da man ihn verdächtigt hatte, an der Legung des Feuers beteiligt gewesen zu sein.

Wir von den Armen versammelten uns in Miriams Haus und sprachen Gebete und sangen Psalmen zum Andenken an diesen Mann, der einst des Meisters bester Freund gewesen war und als erster den Messias in ihm erkannt hatte.

Und wir beteten in dieser Nacht auch, weil wir fühlten, daß der Tod Simons — der seinen Namen in Petrus geändert hatte — und seines Freundes Paulus nur als Ankündigung der letzten Tage gedeutet werden konnte. Nun, da Josuas bester Freund um seinetwillen den Märtyrertod gestorben war wie vor ihm schon Stephanus und Jakobus, der Sohn des Zebedäus, müßte unser Meister zu seinem Volk zurückkehren und es zum Sieg über die Unterdrücker führen. Doch es standen uns noch schlimmere Zeiten bevor. Viele unter den Armen waren Zeloten. Diese Männer gingen nun dazu über, sich zu bewaffnen. Selbst unter den Essenern, die in der Vergangenheit jegliche kriegerische Auseinandersetzung abgelehnt hatten, griffen viele nun zum Schwert, weil sie glaubten, der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit stünde nahe bevor. Sie sagten:»Der Messias von Israel steht schon fast vor den Toren, und er wird uns nicht unvorbereitet antreffen. Er ging fort, damit wir die Botschaft verkündigen und das Wort verbreiten sollten; aber nun ist er auf der Straße, die zur Stadt führt, und wir müssen bereit sein, für Zion zu kämpfen.«

Obgleich ich dem nicht zustimmte und selbst nicht zum Schwert griff, wollte ich meinen Glaubensbrüdern nicht das Recht aberkennen, sich zu bewaffnen. Denn es waren die letzten Tage. Ironischerweise trug Saul nun ein Schwert bei sich, denn er hatte Berichte über Aufstände in ganz Galiläa und Syrien gehört. Von Dan bis Beerscheba begannen Juden sich gegen die Unterdrückung durch Rom aufzulehnen.

Bis spät in die Nacht saßen wir von den Armen in unseren Häusern beim Abendmahl zusammen und horchten auf die Trompeten, welche die Ankunft des Messias verkünden würden. Und in diesen Nächten beobachtete ich Sara, die ihre Arme um Jonathan geschlungen hatte und mit gesenktem

Haupt ins Gebet vertieft war, und ich freute mich, daß sie so gläubig war.

Im Frühling des folgenden Jahres schändete Prokurator Gessius Florus den Tempelschatz. Von da an hatten wir keine Stunde Frieden mehr.

Judy starrte auf die unregelmäßige Handschrift im Übersetzungsheft und konnte sich nicht erinnern, sie gelesen zu haben. Ben war den ganzen Abend, bis spät in die Nacht hinein damit beschäftigt gewesen, das aramäische Schriftstück zu entziffern, und Judy hatte jedes Wort gelesen, sowie er es niedergeschrieben hatte. Doch nun, da es keinen Papyrus mehr zu lesen gab und die letzte Zeile übersetzt war, kam es ihr vor, als sähe sie das Notizpapier zum erstenmal. Auch Ben schien verwirrt auf das zu starren, was er gerade geschrieben hatte. Er hielt den Bleistift noch immer über dem Blatt, und seine Hand wartete darauf, mehr zu schreiben. Doch das sechste Teilstück war jäh zu Ende gegangen und ließ sie beide ratlos zurück. Es verging eine Weile, bevor sie aus ihrer Starre erwachten, und es war Judy, die sich als erste regte. Plötzlich wurde sie sich starker Rückenschmerzen bewußt und bemerkte, wie verspannt ihr Körper war, und so befreite sie sich langsam aus der Haltung, in der sie so lange ausgeharrt hatte, und schaute auf die Uhr.

Es war kurz nach Mitternacht, und sie starrte mehrere Minuten auf das erleuchtete Zifferblatt, bevor ihr eigentlich klar wurde, was sie sah.

«Mein Gott«, murmelte sie und beugte ihre steifen Glieder,»wir haben hier acht Stunden lang gesessen!«Dann blickte sie auf Ben. Er war noch immer über das letzte Foto gebeugt. Den Bleistift hielt er über dem Heft, und seine Augen waren auf die letzte Zeile der aramäischen Schrift geheftet. Ein leichter Schweiß war auf seiner Stirn ausgebrochen und rieselte ihm nun an den Schläfen hinunter auf den Hals. Sein Hemd war naßgeschwitzt, und seine Haut zeigte eine ungewöhnliche Blässe.

«Ben«, sagte Judy ruhig,»Ben, es ist vorbei. Das war das Ende der Rolle.«

Als er nicht antwortete, nahm sie ihm sachte den Bleistift aus den Fingern und ergriff seine Hand.»Ben? Kannst du mich hören?«Schließlich wandte er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Seine braunen Augen wirkten jetzt noch dunkler, da er gänzlich erweiterte Pupillen hatte. Sein Blick war völlig leer und teilnahmslos. Winzige Tränen spiegelten sich darin.

«Ben, du bist erschöpft. Wir haben acht Stunden hier am Schreibtisch verbracht, und sieh dich nur an. Du mußt dich hinlegen. «Ben löste sich langsam aus seiner Betäubung, schluckte heftig und fuhr sich mit einer trockenen Zunge über die Lippen.»Ich hatte vergessen«, begann er heiser,»ich hatte vergessen, wie es damals war. Ich hatte vergessen, wie schlimm diese Tage waren.«

«Ja, das waren sie. Komm mit, Ben.«

Obwohl er imstande war, aufzustehen, mußte er sich doch auf Judy stützen. Sie legte einen Arm um seine Hüfte und schleppte sich mühsam mit ihm ins Wohnzimmer, während sie die feuchtkalte Klebrigkeit seines Körpers spürte. Dort brachte sie ihn durch gutes Zureden dazu, sich auf der Couch auszustrecken und den Kopf auf ein Kissen zu legen. Dann setzte sie sich neben ihn, sah ihm ins Gesicht und wischte ihm behutsam den Schweiß von der Stirn.»Es bleibt nur noch eine Rolle übrig«, flüsterte sie,»nur noch eine einzige. Und dann ist alles vorbei.«

Ben schloß die Augen, und die Tränen flossen an seinem Gesicht herunter. Ein leiser, wimmernder Ton entwich seiner Kehle und schwoll allmählich zu einem rauhen Schluchzen an.»Wir warteten auf den Messias«, jammerte er.»Wir warteten und warteten. Er hatte gesagt, daß er wiederkäme. Er hatte versprochen.«

«Ben.«

«Ich bin nicht Ben!«schrie er plötzlich und stieß ihre Hand weg.»Ich bin David Ben Jona. Und ich bin ein Jude. Der Messias wird kommen, und Zion wird wiederhergestellt, wie es in den alten Büchern prophezeit wurde.«

Judy rührte sich nicht. Sie behielt ihn fortwährend im Auge, entschlossen, sich keine Angst einjagen zu lassen. Einen Moment später fuhr Ben sich mit beiden Händen übers Gesicht und murmelte:»Es tut mir leid. Verzeihe mir. Es war die Überanstrengung, die Anspannung.«

«Ich weiß«, erwiderte sie sanft.

Ben wischte sich die Tränen weg und wandte Judy dann seine volle Aufmerksamkeit zu. Er bemerkte die Sorge in ihren Augen, die liebevolle Art, mit der sie sich um ihn kümmerte.»Wir waren eine Weile dort, nicht wahr?«meinte er.»Wir waren wieder im alten Jerusalem. «Sie nickte.

«Und du warst die ganze Zeit über bei mir. «Er streckte eine zitternde Hand aus und strich über ihr langes Haar.»Ich habe dich jede Minute an meiner Seite gespürt, und es machte mich froh. Du fragst dich wahrscheinlich, was das Ganze bedeuten soll.«

«Ja.«

«Und ich ebenfalls, aber der Sinn und Zweck von dem allen ist auch mir nicht enthüllt worden. Es sollte eben sein, und so sollten wir uns damit abfinden. Bald wird meine letzte Rolle eintreffen, und diese ist wirklich die letzte, und dann wird uns Gottes Absicht offenbart. «Judy richtete sich auf und schaute weg. Sie ließ ihre Augen durch das dunkle Zimmer schweifen und versuchte angestrengt, etwas zu sehen, was nicht da war. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, wie es gewesen war, eine Weile in Jerusalem zu verbringen, an der Seite eines Mannes zu sein, den sie liebte, sich vollkommen einem Glauben zu verschreiben, der, wie sie wußte, den Kern aller anderen Glaubensrichtungen bildete.

In diesem Augenblick gelangte Judy zu einer überraschenden Erkenntnis. Als Ben über ihr Haar strich und mit besänftigender Stimme auf sie einredete, wurde ihr klar, daß sie, während sie in der Nacht zuvor verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Ben zu sich selbst zurückzubringen, heute nacht gar nicht mehr sicher war, daß sie dies wollte.

Wie sie ihn so ansah, in Bens Gesicht schaute, dessen Augen jedoch einem anderen Mann gehörten, wußte sie, daß sie, wenngleich sie ihn letzte Nacht zu sehr geliebt hatte, um ihn zu David werden zu lassen, ihn heute nacht zu sehr liebte, um ihn zurückzuverwandeln.»Du bist glücklich, nicht wahr?«flüsterte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.»Ja, das bin ich.«

Wie kann ich dann nur wünschen, daß du wieder unter Bens Qualen zu leiden hast? fragte sie sich verzweifelt. Ist es nicht weniger grausam, dich in diesem Zustand zu belassen?» Judith, du hast ja Tränen in den Augen.«

«Nein, nein, das kommt nur von dem vielen Lesen. Acht Stunden. «Sie erhob sich jäh und wandte sich von der Couch ab. Diesen Mann zu lieben und bei ihm zu bleiben bedeutete nur eines: daß auch sie die Wirklichkeit aufgeben und den Wahnsinn mit ihm teilen mußte.