Es war die Nacht zum Freitag, den 13. Februar 1835.
Ein trüber Tag war in einen feuchtkalten Abend übergegangen, der die Schneedecke in einen breiigen Morast verwandelte, grau, unansehnlich, häßlich, unter den Schuhen quietschend. Nun, in der Nacht, brach der Mond durch.
Eine widerliche, kalte Feuchtigkeit lag in der Luft. Sie drang durch die Kleider, durch die Ritzen der Fenster und Türen und schien sich wie eine unsichtbare Wand selbst um den Ofen zu legen.
Fröstelnd ging Otto Heinrich noch einmal durch alle unteren Räume, dann setzte er sich im Laboratorium unter die Lampe und las in einem dicken, in Leder gebundenen Buch über das Wesen der Toxikologie.
Eintönig tickte aus einer Ecke eine Uhr.
Vor dem schmalen Fenster, das auf die Straße führte, geisterte gleich das Mondlicht und floß über die Fensterbank ins Zimmer.
Noch sieben Tage, dachte Otto Heinrich, und die Post fährt mich nach Dresden und Böhmen. Noch sieben Tage, und du hast aufgehört, ein Mensch zu sein, der unbescholten ein Tropfen des großen Menschenmeeres ist.
Er klappte das Buch zu und stützte den Kopf in die Hände.
Was würde der Vater sagen, wenn er es erfährt?
Die Mutter würde weinen. die gute, gute Mutter.
Kummer starrte vor sich auf den Dielenboden und schloß die Augen. Er sah Dresden vor sich, das große Haus in der Rampschen Gasse, die Freunde Maltitz und Seditz, den Maler Caspar David Friedrich und den Baron von Puttkammer.
O Mutter, liebe, liebste Mutter… warum ist das Leben nur schön, wenn man ein Kind ist.?
Langsam sank Otto Heinrichs Kopf auf die Platte des Tisches. Unbewußt schob er die Hände unter, so daß sein Gesicht wie auf ei-nem Kissen lag.
Versunken im Gestern schlief er und träumte von einem fernen Paradies, durch das er schritt, ohne es geahnt zu haben.
Plötzlich schreckte er auf und lauschte.
Klopfte es nicht an der Tür?!
Schlaftrunken ging er durch den Laden und öffnete das kleine Klappfenster, das in die Tür eingeschnitten war.
Eine junge Frau im langen Umhang stand zitternd auf der Straße.
Otto Heinrich öffnete die Tür, mit schnellen Schritten trat die Frau ein.
«Meinem Kind geht es schlecht«, stammelte sie, als müsse sie sich für die nächtliche Störung entschuldigen.»Es hat Magenkrämpfe. Der Doktor ist bei ihm. Er gab mir ein Rezept, das ich sofort besorgen muß. «Sie nestelte unter dem Umhang einen Zettel hervor und gab ihn Otto Heinrich. Ihre Hände waren lang, schmal und blaugefroren.»Sie möchten es sofort mischen, Herr Apotheker. Der Doktor wartet.«
Kummer nahm das Rezept mit zur Lampe und las die kritzelige Schrift. Es war ein Narkotikum, vorsichtig dosiert, gefährlich in größeren Mengen.
«Das Rezept steht unter dem Giftgesetz«, sagte Otto Heinrich und fühlte bei dem Wort Gift einen merkwürdigen Schauder.»Ich darf es nur geben, wenn Sie mir durch einen amtlichen Ausweis bekannt sind.«
Die junge Frau stammelte etwas und schüttelte den Kopf.
«Ich bin aus einem Dorf bei der Stadt. Mit dem Wagen bin ich über die Straße gehetzt wie der wilde Jäger. Mein Kind, Herr Apotheker, es stöhnt so… es wälzt sich im Bett. Mit Krämpfen! Herr Apotheker, da dachte ich nicht an Ausweise. Helfen. dachte ich nur. helfen, und der Doktor wartet und sagt, es sei schlimm! Wenn ein Doktor das sagt. muß es schlimm sein. «Und plötzlich brach sie in Weinen aus und lehnte sich an die Wand.»Helfen Sie mir, Herr Apotheker. ich bin ja ganz allein. mein Mann ist gestor-ben. Ich habe doch nur das eine Kind… helfen Sie mir… mein Kind.«
Das Weinen erstarb in einem haltlosen Schluchzen.
Otto Heinrich schwankte. Er trat an das Fenster und blickte hinaus. Am Brunnen auf dem Markt stand ein vierrädriger Bauernkarren. Das Pferd in der Deichsel zitterte an allen Gliedern nach der tollen Fahrt.
«Warten Sie einen Augenblick«, sagte er zu der jungen Frau und schob ihr einen Stuhl hin.»Ich werde Ihnen die Tropfen mischen.«
«Haben Sie Dank, Herr Apotheker.«, schluchzte sie und sank auf den Stuhl.
Ein Häufchen Leid.
Eine Mutter.
Mutter.
Wie in einem Traum ging Kummer ins Laboratorium und öffnete die Klappen des Giftschrankes.
Hohl stierten ihn die vielen Zeichen der Totenköpfe an. Und das Wort Mutter vor seinen Augen wurde zum grinsenden Schädel.
Mechanisch sah er auf das Rezept, zog einige Flaschen heraus, stellte die Feinwaage ein, legte die Schälchen zurecht und maß die Mengen der Arzneien ab.
Langsam ging er dann wieder zum Giftschrank.
Bleich fiel das Mondlicht auf die Totenköpfe.
Sie schienen zu leben.
Aus ihren Augenhöhlen leuchtete es schwach.
Gebannt sank Otto Heinrich auf den Stuhl und starrte auf die Flaschen.
«Was wollt ihr?«flüsterte er.»Ruft ihr mich?«Seine Stimme war heiser und hohl, als spräche sie in einem weiten, leeren Raum.»Könnt ihr nicht länger warten.?«Er tastete mit den Blicken über die Totenköpfe, zitternd bewegten sich seine Lippen.»Wie schön ihr seid.«, flüsterte er endlich und lächelte.
Gift. Gift. Hunderte Gifte.
Cyan. Urari. Curare. Belladonna. Kleesalz. Gift!
Mit zitternden Händen griff er nach einer Flasche.
Was stand auf dem Rezept. Belladonna. 0,02. Belladonna.
Die Etiketten verschwammen vor seinen Augen, eine bleierne Müdigkeit, fast eine Lähmung drückte ihn herab.
Ein wilder Wirbel zuckte vor seinem Blick. Cyan. Kreosot. Belladonna. Kleesalz. Oxalsäure. Ein Wirbel, ein toller Wirbel. die Flaschen tanzten durcheinander.
Mit großer Anstrengung griff Kummer aus dem Tanz der Flaschen Belladonna.
Er wog die Menge ab, gewissenhaft, exakt.
0,02 g.
Er mischte die Arzneien, schüttelte sie und tropfte die Flüssigkeit in eine Flasche.
Eine würgende Übelkeit drückte ihm auf den Magen.
Achtlos schob er die Flasche Belladonna zur Seite und verpackte die fertige Medizin. Das Rezept legte er in den Giftkasten.
Dann trat er wieder in den Laden, gab der jungen Frau das Fläschchen und wünschte dem Kind gute Besserung.
«Wie soll ich Ihnen danken?«schluchzte die Frau und trat auf die Straße. Eisige Luft strömte in den Laden.»Wenn Sie jemals ein Kind besitzen werden, werden Sie wissen, was Dankbarkeit ist.«
Sie eilte zu dem Wagen, sprang auf den Bock und schnalzte laut mit der Zunge.
Hart zog das Pferd an und jagte mit dem klappernden Wagen über den Markt.
Erst als er am Ende der Hauptstraße in der Nacht verschwamm, trat Otto Heinrich in den Laden zurück und schloß sorgsam die Tür.
Der Druck in seinem Gehirn hatte nachgelassen, nur die Glieder waren noch schwer wie Blei.
Er stellte den Stuhl wieder an die Wand und ging dann ins Laboratorium.
Bedächtig wusch er die Schalen, stellte die Feinwaage unter Glas und nahm dann die Flasche Belladonna, um sie wieder in den Gift-schrank zu stellen.
Als er sie hochhob, stutzte er und drehte das Etikett zu sich herum.
Auf der Flasche stand: Curare.
Für einen Augenblick verschwamm vor Otto Heinrich die Umwelt in einen feurigen, brennenden Nebel. Eine prickelnde Lähmung rieselte durch den Körper. Dann wurde der Nebel leichter, und wie durch einen Schleier sah er den Giftschrank geöffnet vor sich.
In der zweiten Reihe, die dritte Flasche von links, stand Belladonna!
Ein schüttelfrostartiges Zittern überfiel ihn, schlaff sank die Hand mit der Curare-Flasche auf den Tisch. Dann zuckten die Hände empor und krallten sich vor die Augen.
«Unmöglich«, stammelte er.»Unmöglich.«
Er ließ die Arme sinken und starrte wieder auf die Flasche vor sich.
Da schrie er, gellend, tierisch, schrie und klammerte sich an den Giftschrank, schüttelte ihn und wimmerte. Er riß das Rezept aus dem Kasten, las wohl einen Namen, aber keine Adresse. Der Arzt war bei dem Kinde, er war nicht zu erreichen, und die Mutter jagte durch die Nacht und brachte das Gift, das grauenvolle, lähmende Gift. den Tod!
Den Tod aus seiner Hand!
Da wimmerte er wieder, hilflos, ratlos. denn was nützte ein Wagen, wenn er nicht wußte, wo die junge Frau wohnte; und wenn er ihr nachfahren könnte — sie wäre längst vor ihm da und hätte dem Kind die Medizin gegeben.
Die Medizin!
Das Gift!
Curare!
«Nein!«schrie Otto Heinrich.»Nein! Nein.«
Er stürzte auf den Giftschrank zu und riß die Flaschen heraus. Einzeln, hintereinander schleuderte er sie in die Ecke, wo sie zerschellten und die Gifte, der tausendfache, schreckliche, entsetzliche Tod, sich zu einer Lache stinkender Flüssigkeit vermählten.
«Satan!«schrie Kummer, wenn Flasche nach Flasche zersplitter-te.»Satan! Satan!«
Dann wimmerte er wieder, irrsinnig vor Schuld und Gewissen, Entsetzen und Grauen, sah die junge Frau vor sich und hörte ihre Worte:»Sie werden wissen, was Dankbarkeit ist, wenn Sie einst ein Kind besitzen.«, und trommelte wieder an den Giftschrank, ohnmächtig in Schmerz und Wut.
In der Ecke tickte hart die Uhr.
«Aufhören!«schrie er.»Aufhören!«
Er sprang in die Ecke und stellte sich unter das tickende Pendel, stierte auf das Zifferblatt und sah das Schleichen des großen Zeigers.
«Jetzt kommt sie an«, flüsterte er.»Sie tritt ein, lächelt, nimmt ein Glas, öffnet die Flasche, zählt die Tropfen, eins. zwei. drei. vier. fünf. sechs. sieben. acht. neun. zehn. bis zwanzig. Sie beugt sich über das Kind, streichelt ihm über die schweißnassen Haare, hält das Köpfchen gerade und. und. nein. Halt! Halt!«Otto Heinrich schrie und hieb mit der Faust die Uhr herunter.»Halt! Nicht geben, nicht geben. «Wimmernd lehnte er an der Wand.»Es ist der Tod.«
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