Der Apotheker erstarrte.
Erbleichend hielt er sich am Stehpult fest und brauchte eine längere Zeit, sich zu fassen.
«Die Herren sind vom Geheimdienst Seiner Majestät?«stotterte er und blickte von einer grauen Gestalt zur anderen.»In meinem Hause? Ich… wüßte nicht, was Sie hier an Geheimem zu suchen hätten. Meine Gifte sind die für jede Apotheke zugelassenen Destillate — der Schlüssel zum Giftschrank steht Ihnen sofort zur Verfügung —, und Gift wurde nur abgegeben auf Rezept unter genauer Notierung des Namens und des Datums. Sie werden keine Verfehlungen finden, meine Herren! Für die Verwaltung der Gifte trägt mein Provisor jede erdenkliche Sorge!«
Die grauen Herren nickten.
«Ihr Provisor ist es, der uns interessiert«, sagte der größte der Reisenden.»Ein Herr Kummer, wenn ich nicht irre?«
«Sehr recht. - Otto Heinrich Kummer.«
«Sein Vater ist der Münzmarschall Benjamin Friedrich Gotthelf Kummer aus Dresden?«
«Ja.«
«Sie kennen ihn?«
«Flüchtig. Ich lernte ihn in Dresden kennen, als ich den Herrn Kollegen von der Hofapotheke besuchte. Dort empfahl man mir auch den Sohn des Herrn Münzmarschalls.«
Die grauen Herren nickten. Sie blickten in einige Notizhefte und notierten etwas. Herrn Knackfuß überlief es heiß.»Das ist ein Verhör«, dachte er erschreckt.»Ein regelrechtes Verhör. Diese Schande! Man ist in Frankenberg kompromittiert! Und alles wegen dieses Kummers!«
«Ist der Herr Provisor im Haus?«fragte der eine Herr wieder.
«Sehr wohl! Er steht zu Ihrer Verfügung. Nur — wenn ich bitten dürfte — Sie verstehen — Kleinstadt, die Bürger, der Klatsch, die Ehre des Geschäftes.«
«Keine Besorgnis!«Der Herr lächelte leicht.»Wir werden so diskret wie möglich sein.«
«Untertänigsten Dank. «Knackfuß ergriff eine kleine silberne Handglocke und läutete. Der helle Ton zitterte durch das ganze Haus.
Ein Gehilfe im beschmutzten, weißen Mantel trat ein.
«Ich lasse den Herrn Provisor zu mir bitten«, sagte Knackfuß und ärgerte sich, wie dumm der Gehilfe die grauen Herren anstarrte.
Er schob ihnen einige Stühle zu und lächelte gezwungen.
«Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, meine Herren.«
«Gehorsamsten Dank — aber wir stehen lieber!«war die kurze Antwort.
Es klopfte.
Die Tür sprang auf.
Otto Heinrich trat ein und stutzte.
Da hob der Wortführer der Grauen die Hand und schloß das eine Auge. Es war eine schnelle Bewegung, die Knackfuß übersah, aber für Otto Heinrich war sie ein Aufatmen von einer würgenden Bedrückung.
Langsam trat er näher und verbeugte sich kurz.
«Kummer«, sagte er leise.
«Von Seditz«, sagte der eine Herr und verbeugte sich gleichfalls. Die anderen drei nickten stumm und traten etwas zurück.»Ich komme im Auftrag des Geheimdienstes Seiner Majestät des Königs von Sachsen. Ich bedauere die Störung, aber ich bin ermächtigt, an Sie einige Fragen zu stellen.«
Das klang alles sehr förmlich und streng, aber die Augen Seditz' blinzelten und begrüßten den jungen Freund.
Knackfuß, der im Rücken der Herren stand, sah dies nicht. Er krampfte die Hände ineinander und wartete ängstlich und neugierig auf die kommenden Dinge.
Otto Heinrich nickte leicht.
«Ich bin bereit.«
«Sie kennen eine Vera Veranewski Bulkow aus Moskau, die unter dem Namen Madame de Colombique durch Sachsen reiste?«
«Ja. Ich fuhr zufällig mit ihr in der gleichen Kutsche nach Frankenberg.«
Die drei anderen grauen Herren hatten ihre Notizbücher herausgenommen und schrieben Frage und Antwort mit. Knackfuß stand hinter dem Pult und bebte vor Erregung. Eine Frau, dachte er. Wegen einer Frau also — meine arme Trudel. Er war so erregt, daß sein Atem durch die Lippen pfiff.
«Sie wissen, daß diese Dame eine Spionin ist?«fragte von Seditz weiter.
«Ich erfuhr es erst in Dresden.«
«Ah — Sie waren in Dresden?«
«Ja — zu Weihnachten!«
«Und Sie wissen auch, daß Ihr Herr Vater in diese Spionage ver-wickelt ist?«
«Ja.«
Knackfuß schnaubte hinter seinem Pult. Der ehrsame, hochgeachtete Münzmarschall! Sieh, sieh. und der Sohn ist in seiner Apotheke Provisor! Spionage also. Landesverrat, Revolution.? Knackfuß trommelte leise mit den Knöcheln auf die Platte des Stehpultes, stellte dieses Klopfen aber sofort ein, als ihn der mißbilligende Blick eines der Herren traf.
«Was wissen Sie über das Verhältnis Ihres Herrn Vaters zu besagter Madame de Colombique?«
Otto Heinrich zögerte. Diese Frage hatte er nicht erwartet, sie war ihm fremd. Vorsichtig blickte er von Seditz an und sah, daß dieser ein Auge schloß.
«Ich verweigere darüber die Aussage«, antwortete er schnell und atmete erleichtert auf.
Knackfuß, der atemlos das Verhör verfolgte, hatte diese Antwort nicht erwartet. Er schoß hinter seinem Pult hervor an die Seite von Seditz'.
«Herr Kummer«, zischte er.»Sind Sie von Sinnen?! Sie haben den Herren zu antworten!«
«Sie sind nicht mein Vormund«, sagte Otto Heinrich laut.»Ich antworte dort, wo ich es verantworten kann!«
«Mischen Sie sich bitte nicht in das Verhör«, wandte sich Seditz an den Apotheker.»Ich verhöre Sie später genau!«
Dieser letzte Satz machte Knackfuß kampfunfähig. Gesenkten Hauptes ging er wieder hinter sein Stehpult, stützte den Kopf in beide Hände und grübelte nach, daß es seit drei Generationen das erstemal war, daß sein ehrbarer Name in einer Gerichtsakte stand.
Unterdessen hatte Seditz ein Taschenbuch aus dem Mantel genommen und blätterte darin herum.
«Ihr Herr Vater stand unter einem gefährlichen Verdacht«, sagte er dabei.»Seine Majestät haben ihm zeitweilig Seine Gnade entzogen. Die Spionage der Madame de Colombique, die Ihr Herr Vater in den Hof einführte, umfaßte nicht nur die militärischen, sondern auch die staatshaushaltlichen Geheimnisse. Eine böse Affäre für Sachsen!«Er machte eine Pause und blickte dann auf.
«Sie kennen einen Willi Bendler?«
Der Name Bendler riß den sinnenden Knackfuß empor.
«Ein Volksaufwiegler«, rief er.»Flüchtete, um.«
«Ich fragte Herrn Kummer«, unterbrach ihn hart von Seditz.
«Erlauben Euer Gnaden — aber ich kenne ihn besser. Er ist ein Revolutionär, ein gefährliches Subjekt. Ich fand auf seinem Tisch die berüchtigten >Pfefferkörner< des Freiherrn von Maltitz!«
«Ein großer Irrtum«, man merkte es Seditz an, daß es ihm eine tiefe Freude war, den Apotheker zu belehren.»Die >Pfefferkörner< sind nicht berüchtigt, sondern berühmt, und außerdem sind sie hervorragend und dürften Ihnen zeigen, daß eine neue Zeit sich abzeichnet. Aber das verstehen Sie vielleicht nicht!«Und zu Otto Heinrich gewandt, fuhr er fort:»Sie kennen Willi Bendler?«
«Ja. «Kummer nickte, sah aber fragend auf Seditz, da er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte.»Wir wohnten hier im Hause zusammen in einer Bodenkammer. Er war ein guter Kamerad mit einem wahren Charakter, der nichts mehr haßte als das Spießertum! Mit dem Prinzipal lag er ständig im Streit.«
«Das kam so«, unterbrach Knackfuß mit einem wütenden Blick auf Kummer eilig.»Besagter Bendler, impertinent.«
«Ich fragte Herrn Kummer«, schnitt von Seditz ihm das Wort ab.»Ich darf Sie um Ruhe ermahnen. Es sollte mir leid tun, Sie aus Ihrem eigenen Kontor weisen zu müssen. - Erzählen Sie weiter, Herr Kummer.«
«Diese Streitigkeiten aber waren stets nichtiger Natur. Mehr plagte ihn der Drang nach menschlicher und seelischer Freiheit, der Drang nach einem Ideal, das der Idee der Französischen Revolution ein Denkmal setzt: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Aus diesem Drang heraus floh er eines Nachts. Seitdem hörte ich nichts mehr von ihm.«
«Danke, das genügt mir. «Seditz wandte sich an seine drei Begleiter.
«Haben Sie die Aussage, meine Herren?«
«Wort für Wort.«
«Danke. «Er wandte sich wieder an Otto Heinrich und lächelte.»Ich habe Ihnen in diesem Zusammenhang eine Mitteilung zu machen. Auf der Route Potsdam — Küstrin fand man vor wenigen Tagen eine Leiche, die man offensichtlich in einer Postkutsche erstach und aus dem fahrenden Wagen warf. Der Körper zeigte einige Schleifwunden und einen exakten Stich in das Herz. An die Leiche geheftet fand man einen Zettel mit den Worten: >Tod allen Verrätern und Spionen! Es lebe die freie Gerechtigkeit, es lebe die Zukunft der Wahrheit. B.< Unsere Forschungen mit den Berliner Kollegen ergaben, daß ein Willi Bendler der Führer einer Art Freikorps ist, das sich als Ziel nimmt, gegen das Unrecht zu kämpfen. Wir vermuteten, und das erwies sich als richtig, daß die Leiche ein Opfer dieser Freischar war. Es wird Sie aber noch mehr erstaunen, wer das Opfer war: die Madame de Colombique!«
Ein Ruf des Erstaunens flatterte aus Kummers Lippen. Aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr Seditz fort.
«In der Innentasche, eingenäht in das Futter des Mantels, fand man einen Packen wichtiger Geheimpapiere, Spionageberichte, Aufträge, Korrespondenzen und Adressen, die es uns ermöglichten, ein breitangelegtes Spionagenetz einzuziehen und alle Auftraggeber der interessierten fremden Macht zu kennen. Bei den Papieren fand man aber auch den Beweis, daß in Dresden der Hofkämmerer Baron von Kracht die Spionage mit Nachrichten versorgte. Die völlige Unschuld Ihres Herrn Vaters ist damit geklärt.«
«Herr von Seditz. «Otto Heinrich stammelte. Er fühlte, wie sich gegen seinen Willen seine Augen mit Tränen füllten.
«Und noch eines ist geklärt: der unschuldige Verdacht! Baron von Kracht war ein alter Feind ihres Herrn Vaters. Es müssen da persönliche Dinge aus der Jugendzeit eine Rolle spielen. Der Baron verstand es durch seine hohe Hofstellung geschickt, den Verdacht auf Ihren Herrn Vater zu lenken. «Seditz lächelte wieder.»Heute denkt er auf dem Königstein über sein Urteil nach — während der Herr Münzmarschall vergangenen Sonntag von Seiner Majestät huldreich empfangen und wieder in alle Ämter eingesetzt wurde!«
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