«Ich habe nie gewagt, sie ihr zu nehmen!«schrie Otto Heinrich.»Ich liebe Trudel!«

«Und Trudel liebt Sie auch! — Sie haben sie geküßt!«

«Ja.«

«Schuft! Wer meine Tochter küßt, beleidigt mich! Nur weil ich ein alter Mann bin, fordere ich nicht Rechenschaft mit der Pistole. Aber der Mann, der einmal Trudel in sein Haus nimmt, wird Sie wie einen tollen Hund zu Boden knallen… ich werde dafür sorgen, daß die Flamme brennt!«

Wie gelähmt stand Otto Heinrich vor diesem Haß. Er fand keine Antwort als ein schwaches resignierendes Achselzucken und wandte sich ab.

Erst in der geöffneten Tür blickte er sich noch einmal um und sagte langsam:

«Wenn es einen Gott gibt, wird er Sie einmal für diese Stunde strafen!«

Dann schloß er die Tür, lehnte sich an ihren Rahmen und bedeckte die Augen mit seinen Händen. So stand er eine Zeitlang, bis er langsam die Treppe empor in seine Kammer stieg, sich auf das Bett warf und das Gesicht in die Decken vergrub.

Schlafen. dachte er. nur schlafen, nichts mehr hören, nichts mehr sehen. nichts als schlafen. eintauchen in die Dunkelheit. versinken. schlafen. ewig schlafen.sterben.

Und vor dem Fenster rieselte wieder der Schnee.

Am Abend dieses Tages brachte einer der Gesellen einen Brief zu Otto Heinrich auf die Kammer und ein zusammengefaltetes Papier.

Otto Heinrich, der dabei war, seine Habe zu ordnen und einzupacken, da nach dieser Auseinandersetzung ein Bleiben im Hause Knackfuß unmöglich war, nickte dem Jungen knapp zu, nahm die Briefe und legte sie auf den kleinen Tisch.

Dann räumte er erst den Koffer ein, schrieb eine kurzgefaßte Austrittserklärung aus den Diensten der Frankenberger Apotheke und faltete dann erst das lose Blatt auf.

Es war ein kurzer Brief des Prinzipals.

Keine Anrede, keine Anschrift — das Schreiben begann wie ein Kanonenschuß.

«Da Sie einsehen werden, daß nach dem heutigen Vorfall nie gekannter Disziplinlosigkeit ein Verbleiben Ihrer Person in meiner Apotheke unmöglich geworden ist, sehe ich mich gezwungen, Sie aus meinen Diensten zu entlassen.

Sie werden andererseits aber einsehen müssen, daß es mir jetzt am Beginn eines Jahres und bei den unwegsamen Straßen und Postverbindungen fast unmöglich ist, einen neuen Provisor in Dienst zu stellen.

Aus dem Bestand der Apotheke möchte ich nicht noch einmal eine Enttäuschung wählen. Ich muß Sie daher — sehr gegen meinen und sicherlich auch Ihren Willen — ersuchen, Ihre Stellung bei mir bis zum Eintreffen des neuen Kollegen weiterhin zu bekleiden. Ich werde bemüht sein, diesen unhaltbaren Zustand schnellstens zu ändern. Da sich demnach eine weitere Zusammenarbeit nicht vermeiden läßt, ersuche ich Sie, auf Ihrem Zimmer zu speisen und tunlichst den persönlichen Verkehr mit mir auf ein erträgliches Mindestmaß zu beschränken.

Ihr Dienst beginnt wie immer morgen 8 Uhr früh im Laboratorium.

Knackfuß, Apotheker zu Frankenberg.«

Otto Heinrich ließ das Papier auf seinem Schoß sinken und blickte halb erstaunt, halb ärgerlich vor sich hin.

«Er braucht mich, das ist alles«, dachte er.»Er kann mich nicht entbehren, er will keinen Skandal. er sucht einen Weg, mich weiter zu fesseln, zu quälen und in die Verzweiflung zu treiben. - Aber ich gehe! Ich bleibe nicht!!«

Doch je länger er darüber grübelte, um so größer wurde seine Hoffnung, Trudel vielleicht doch noch einmal zu sehen, sie zu sprechen oder nur zu erfahren, wo sie in Chemnitz wohnte und ob man schreiben konnte, wie das Herz blutete in der Sehnsucht nach ihren Lippen.

So nahm er den zweiten, verschlossenen Brief vom Tisch, drehte ihn mehrmals um, da er keine Anschrift und keinen Absender enthielt, schüttelte den Kopf und erbrach das Kuvert.

Ein kleines, mit einer zierlichen Schrift eng beschriebenes Papier fiel heraus, und Otto Heinrich, der das zu Boden geflatterte Blatt aufhob, las auf der Rückseite das Wort >Trudel<.

Ein heißer, beißender Stich jagte ihm durch das Herz.

Bebend rückte er an die Lampe und schraubte sie heller.

«Trudel«, dachte er.»Trudel«, flüsterte er.»Trudel, liebste, liebste Trudel. Du schreibst mir. o Trudel. Liebste.«

Mit zitternden Lippen begann er zu lesen.

«Mein liebster, einziger Geliebter!

Zürne nicht! Das Leben ist so anders als der Wunsch der Herzen, und Glück ist seltener als eine Stimme Gottes, die die Seele trifft.

Ich bin Dir weit entfernt, wenn Deine Hand den Brief erbricht, weit, Liebster, weit. so weit, daß nie ein Weg mehr uns zusammenführt.

Es ist des Vaters Wille, daß ich gehe. Und ich gehorche, denn des Vaters Leben ist mir heilig, auch wenn er Dich und mich verbannt und Herzen tötet, weil sie glücklich sind. Doch bleibe ich bei Dir, so wird der Vater sich am Gram verzehren, und unser Glück wäre Fluch, und unser Leben nur die Flucht vor einem Totenbild, vor einem Vater, der beim letzten Atem noch die Faust hob.

Ich muß gehorchen. Leben heißt Gehorsam, denn nur Gehorsam wird uns unsere Ehre schützen. Ich weiß, daß nun auch Du mir fluchst — Liebster, ich ertrage es, denn meine Seele ist gestorben, wenn sie diesen Brief geschrieben, und nur der Körper atmet noch… wer weiß, wie lange noch… es ist die Qual nur eines aufgeschobenen Todes.

Ach Liebster, vor Dir liegt die ganze Welt. Erobere sie, erfülle sie mit Deinem Geist, gib ihr ein Beispiel, sei ein Mensch, der würdig ist, zu leben.

Und… Liebster… liebe eine andere Frau und suche Trost in ihren Armen vor des Lebens Sturm. Vergiß mich. Nenne mich nur einen Traum, eine Vision, vielleicht auch einen Gedanken.

Wie will ich glücklich sein, wenn ich einst lobend von Dir höre. wie will ich mich erfreuen, wenn Dein Leben freudvoll wird — ich habe zu den Sternen, die der Himmel mir verdeckte, Wunsch und Gruß für Dich gesandt und will, wenn sie am Himmel glitzern, in sie sehen und Deine Augen treffen, wenn auch Du zu ihnen schaust.

Weine nicht — ich habe Dich wie nie einen Menschen geliebt. Sieh, nun sind unsere Herzen gleich, wehmütig in der Sehnsucht, traurig in Erinnerungen, frierend im Atem der Welt.

Leb wohl! Ich küsse Dich — die Haare, die Augen, den Mund und Deine zarten, schmalen Hände, die mich so oft streichelten.

Leb wohl. Auf immer Lebewohl. auf ewig. Trudel.«

Langsam sank der Kopf Otto Heinrichs hinab, bis er mit dem Gesicht auf der Platte des Tisches lag. Schlaff hingen die Arme herab, der Brief war auf die Erde geflattert, den Körper schüttelte ein Schluchzen.

«O warum hast du das getan?«flüsterte er.»Trudel. das ist die Einsamkeit, die grenzenlose Einsamkeit. der Tod.«

Die Haare fielen ihm an den Seiten über das Gesicht. Die Hände zuckten.

«Mein Urteil.«, stammelte er.»Mein Todesurteil, von ihr, die alles, alles für mich war.«

Und dann weinte er, haltlos, laut, daß seine Seele überfloß und im Schmerz ertrank. Weinte, bis sein Körper zusammenfiel und die Erschöpfung ihn im Schlaf erlöste.

Über den Tisch hingesunken lag Otto Heinrich bis zum Morgengrauen.

Als er starr vor Frost erwachte, war sein Herz vom größten Schmerz befreit. Doch es war kalt geworden, Eis wie die wundersamen Blumen an den zugefrorenen Fenstern, gefühllos, tot. einsam wie das kalte All.

Bevor er hinunter in das Laboratorium ging, nahm er den Brief Trudels nochmals zur Hand und schrieb unter den Namen der Liebsten ein kleines, resignierendes Gedicht.

Hämisch und voll Spott hob es sich von den Worten des Abschiedes ab.

Frech und ungerecht.

Kalt und einsam.

Ich kenne einen armen Wicht, der bildete sich ein, ein Mädchenherz betröge nicht und müßte redlich sein.

Er ist enttäuscht und wünschet nun im stillen kühlen Grab zu ruhn, wo alle Qualen enden.

Er schleuderte den Brief auf den Tisch und wandte sich brüsk ab. Dann stieg er die Treppe hinunter in das Laboratorium.

Ein neuer Mensch, dessen Sehnsucht es war, zu sterben.

Ein Mensch, dem der Tod zur Wonne würde.

Ein Mensch, dessen Leben schon gestorben war und der nur atmete, weil die Natur es wollte.

Ein Mensch, der Gott deshalb anklagte, weil er schwieg.

Ein einsames Herz.

Kapitel 4

Es ist Sonntag, der 1. Februar 1835.

_Durch Frankenberg rasselt mit schnaubenden Pferden eine Extrapost, wirbelt den Schnee in den engen Gassen auf und läßt die

Bürger in die Haustüren flüchten.

In der Kutsche klammern sich an den Lederbügeln vier Herren in grauen Reiseanzügen und dunkelgrauen Zylindern auf den Plätzen fest und blicken ab und zu hinaus in den aufstäubenden Schnee.

Kalt steht die Morgensonne schräg über den Bergen.

Der Schnee leuchtet.

Die Pferde legen sich ins Geschirr, es kracht in den Deichseln, und der Kutscher auf dem Bock hat den Schal über den Mund gezogen, damit die Kälte ihm nicht die Lippen aufreißt.

Vor der Apotheke in Frankenberg hält mit einem Ruck die Kutsche, und die graugekleideten Herren springen aus dem hölzernen Kasten.

Hinter den Scheiben der Läden und des Laboratoriums kleben die Gesichter der Neugierigen, am Brunnen auf dem Markt stauen sich die einkaufenden Frauen — Herr Knackfuß selbst eilt aus seinem Kontor in den Laden und kommt gerade zurecht, als die vier Herren durch die klingelnde Tür eintreten.

«Eine königliche Post aus Dresden«, flüstern die Frauen draußen am Brunnen.»Eine Extrapost für Knackfuß! - Der Alte hat ein Glück!«

Aber es war nicht das Glück, das mit dieser Post aus Dresden kam, sondern im Privatkontor, in das Herr Knackfuß die Herren bat, zeigten die vier Reisenden ihre königlichen Ausweise.