Bendler holte Atem. Die Luft war so kühl. Dort drüben das Pferd. Es schnaubte, wieherte unterdrückt. - Es hatte Angst.

«Nun tu's doch, Junge«, sagte er.»Na los!«

Die Läufe begannen zu schwanken.

«Willst wohl beweisen, daß du ein tapferer Soldat bist?. Nur, wem?. Dir selber?. Wer sonst sieht es denn, daß du einem Freischärler die Pistole auf die Brust setzt? — Niemand, Junge.«

Ein leiser, halb klagender, halb knurrender Laut. Dann flog die Pistole plötzlich hoch, beschrieb einen Bogen und landete im Laub des Weges. - Der Oberkörper des Dragoners aber war zurückgebogen, ein Arm winkelte sich um seinen Hals, eine Klinge blitzte in der fahlen Dämmerung.

Sottkas Dolch.

«Sottka!«

Bendler brüllte, schlug mit der flachen Hand das Messer weg. Die Schneide spaltete ihm die Haut. Blutperlen sprangen auf. Und da waren Sottkas glühende Augen, funkelten in einem sonderbaren, wie zu einer fahlen Steinmaske erstarrten Gesicht.

«Laß den Mist, verflucht noch mal!«

«Verflucht noch mal? Er wollte dich umbringen.«

«Das wollte er nicht. Das hatte ich ihm schon ausgeredet.«

Den Kopf gesenkt, die Schultern eingekrümmt, stand der Soldat zwischen ihnen.»Bitte«, murmelte er,»bitte.«

«Ja, bitte!«

Bendler riß die ledernen Fuchsbänder heraus, die er stets in seinen Taschen mit sich führte, und band dem Dragoner die Hände auf den Rücken.»Da rüber, zu deinem Kameraden. - Wird's schon!«

Der Dragoner nickte erleichtert.

Bendler wandte sich wieder Sottka zu.»Hättest ihn wohl gern auch noch erstochen, was?«

«Gerne oder nicht«, der schmale Mund Sottkas blieb starr,»noch ein Tyrannenknecht weniger, die Welt könnte mir dankbar sein.«

«Die Welt, die Welt. All deine Reden, die wunderschönen Appelle, die du angeblich geschrieben hast — im Grunde kümmert dich das alles gar nicht. Für dich geht es nicht um Freiheit, um eine neue Gesellschaft, um Ideale oder sonst etwas, das alles ist für dich nur der Weg, deine Mordlust zu befriedigen. Du bist krank, Sottka! Das bist du: eine kranke, mordlüsterne, widerliche, kleine Ratte. Ich will's noch deinem Buckel zugute halten, wenn jetzt raus will, was immer in dir schlummerte. Aber nicht in meiner Gegenwart, Sottka. Nicht mehr. Das werde ich nicht zulassen. Eher schieße ich dich über den Haufen.«

«Bendler, ich hab' dir gerade.«

«Das Leben gerettet?«höhnte Willi Bendler.»Und was für ein Leben soll das sein, wenn man mit solchen Scheißkerlen, wie du einer bist, durch die Wälder ziehen muß? Manchmal begreife ich mich selber nicht. Aber eines sag' ich dir: Nimm dir so was nicht mehr heraus. Nie mehr.«

Haß war es, der in den grauen Augen hinter den Brillengläsern flackerte. Ein Haß, der ihn nicht erreichen konnte. Es gab Wichtigeres.

Bendler wandte sich um und ging zu den anderen.

Sie hatten versucht, den Wagen wieder auf die Straße zurückzustemmen. Es war ihnen nicht gelungen. Wozu auch? Die vier Pferde waren an Baumstämmen festgebunden, knabberten friedlich an den Zweigen, die beiden Dragoner lehnten mit dem Rücken gegen die Böschung und blickten mit dem betroffenen, schicksalsergebenen Ausdruck der Gefangenen zu ihnen herüber.

«Na, wie steht's? Was habt ihr gefunden?«

«Wirst dich wundern, Willi. Pulver, soviel, daß du ganz Frankenberg mitsamt deiner Apotheke in die Luft jagen kannst, falls du das willst.«

«Will ich nicht. Was weiter?«

«Die Gewehre der Dragoner. Auch der Kutscher hatte eine Pistole. Eine französische Reiterpistole. Richtiggehender Luxus. Na ja, und dann wäre da noch das.«

Der >Frosch< beugte sich und hob eine viereckige, eisenbeschlagene Holzkassette vom Boden.

«Und?«

«Achthundert Dukaten.«

«Mach keine Witze.«

«Kein Witz. Sind sogar achthundertfünfzig.«

Bendler pfiff leise durch die Zähne.

«Na dann«, sagte er.»Ich nehm' eines der Pulverfässer. Wir füllen es später in Säcke um. Die in Böhmen brauchen Nachschub.«

«Und die da drüben?«

Bendler überlegte.

«Laufenlassen können wir sie nicht. Dann steigen sie doch auf ihre Gäule und sind in zwei Stunden in Frankenberg. Das Risiko können wir uns nicht leisten. Ein bißchen Vorsprung brauchen wir schon. bindet sie an den Bäumen fest. Und gebt ihnen vorher was zu trinken. Die Frühpost kommt um elf. Soldaten müssen an Strapazen gewöhnt werden. Das ist nur gut für ihre Karriere.«

Im Gänsemarsch zogen die Männer den Hang hinauf. Bendler war der letzte. Noch einmal wandte er sich zu den Gefangenen.

«Übrigens, Freunde, habt ihr nicht Lust, zu uns zu kommen? So ein Waldleben ist doch gesünder als die Kaserne.«

Er erhielt keine Antwort. Nur eine Krähe schrie vom nächsten Gipfel.

Ahnungslos wie der entflohene Freund ratterte Otto Heinrich durch den Morgen Frankenberg entgegen. Das Schicksal, das in dieser Nacht durch eine dünne Holzwand einer alten Kutsche machtlos wurde, entfernte sich mit jedem Pferdetritt und überließ den Jüngling seinem höheren Geschick.

Schon als die Post gegen Mittag in Frankenberg einlief und Trudel, trotz ihres heiligen Versprechens, ihn nicht an der Posthalterei erwartete, ahnte Otto Heinrich, daß etwas Schlimmes im Hause Knackfuß vorgefallen war.

Ungeduldig wartete er, bis die Postknechte das Gepäck vom Dache schnürten und verteilten, reichte dem Postillion ein kleines Trinkgeld und eilte dann mit großen Schritten in die Stadt, bis er am Markt das große Apothekerhaus liegen sah.

Eine unerklärliche, fremde Unruhe trieb ihn vorwärts. Ohne den Laden zu beachten, lief er durch den seitlichen Privateingang die Treppen hinauf in seine Kammer, sah, daß der Ofen nicht geheizt war und der Staub noch dick im Raume lag, packte seinen Koffer in die Ecke, überlegte dann kurz, zog ihn wieder hervor und begann, sich erst zu waschen und dann umzukleiden.

Mit Widerwillen und leichtem Ekel benutzte er das alte, abgestandene Wasser in dem zerbeulten Zinkeimer auf dem kleinen Flur. Das Handtuch war noch das alte wie vor seiner Reise, das Bett war unberührt, wie er es verlassen hatte.

Von einer jagenden Angst getrieben, rannte Otto Heinrich die Treppe hinunter, lief durch den Privatkorridor und zögerte erst, als er vor dem Kontor des Prinzipals stand.

Mit einem Ruck zog er seine Jacke zurecht, klopfte dann an und trat mit festem Schritt in das Zimmer.

Am Stehpult stand Knackfuß und rechnete im Hauptbuch.

Als er Otto Heinrich eintreten sah, klappte er es mit einem lauten Knall zu und schoß hinter dem Pult hervor. Seine Augen waren starr, und der faltige, schmale Mund zuckte wie in Krämpfen.

«Er. Er.!«Seine Stimme überschlug sich und wurde schrill.»Er wagt es noch, mir unter die Augen zu treten?!«

Otto Heinrich Kummer brauchte eine Zeit, um sein Staunen und seinen Schreck zu überwinden, ehe er eine Antwort fand.

«Ich weiß nicht.«, stotterte er unsicher, denn die fremde Anrede in der dritten Person, die nur bei Lehrlingen und einfachen Gesellen üblich war, verwirrte ihn noch immer.»Ich weiß nicht, was.«

«Er weiß nicht?!«Der alte Knackfuß schrie, daß seine Stimme in dem engen Raum gellte.»Er Lump! Er Schuft! Schleicht sich mit süßen Reden in mein Herz, ich mache Ihn zum Provisor, schenke Ihm Vertrauen, und Er. Er schändet meine Tochter. Er lockt sie nachts in Lauben, wie ein Verbrecher, der die Nacht braucht, um zu leben. Er säuselt ihr sein Unglück vor, verführt mit schönen Reden das ahnungslose, reine Herz, bringt Schande in die gottgeweihte Seele und steht dann da, ein Haufen Dreck, ein Mörder kindlicher Unschuld, und fragt: ich weiß nicht, was. Hinaus! Hinaus, Er Satan!!«

Knackfuß hielt sich an dem Rand des Stehpultes fest und atmete röchelnd.

Die Haut seines Gesichts war fahlgelb. Das Weiße der Augäpfel überzog sich mit rotem Geäder.

Otto Heinrich, der stumm die Schmähungen ertragen hatte, sah mit einem Schimmer Mitleid auf die gebrochene Gestalt des alten Mannes. In seinem Innern aber jagten die Gedanken. In den Halsschlagadern fühlte er hart den rasenden Puls klopfen.

Wo ist Trudel? schrie es in ihm. Was ist hier geschehen?! Der Alte bringt es fertig und erwürgt in seiner Wut die eigene Tochter!

«Was ist mit Trudel?«keuchte Otto Heinrich und duckte sich, als wolle er jeden Augenblick auf Knackfuß springen.

«Sie ist fort!«

«Wo fort? Wohin?!«

«Fort!«

«Wohin!!!«Der Jüngling schrie es und packte den Alten an den Rockaufschlägen.

Mit tödlichem Haß sahen sich die beiden in die Augen.

«Zu meinem Bruder. Nach Chemnitz. Dort bleibt sie, bis ich ihr den Mann ausgesucht habe, den sie heiraten muß — und wird!«

«Teufel! Infamer Teufel!«Stöhnend schüttelte Kummer den Apotheker wie eine Puppe hin und her.»Gib mir Trudel wieder. Du. Du. gib sie mir wieder.«

«Nie. «Die Augen Knackfuß' sprühten Triumph und Haß.»Nie! Ich würde euch verfluchen, wie nie ein Vater fluchte!«

«Wir brauchen deinen Segen nicht! Die Welt ist groß und weit!«Und plötzlich schleuderte er den Alten an das Stehpult zurück, daß es krachte und zu schwanken begann.»Ich werde sie mir holen, und wenn die Hölle dazwischen läge!«

Knackfuß, der sich an das Pult geklammert hatte, um nicht hinzustürzen, richtete sich auf und zog die verrutschte Halsbinde gerade. Mit pfeifendem Atem trat er aus der Reichweite seines Provisors und ging hinter das hohe Stehpult.

«Wenn Sie den Tod wollen, tun Sie es«, sagte er verwunderlich kalt und nüchtern.»Ich habe nie einen Menschen so gehaßt wie Sie! Noch in der Brautnacht würde ich Sie und Trudel mit Gewalt vergiften!«

«Sie sind ein Satan!«

«Die Unschuld meiner Tochter ist mein Heiligtum!«