«Liebster. «Trudel sah ihn mit großen Augen an und zitterte.»Liebster. denke doch auch an mich.«

«Ich habe daran gedacht! Vielleicht zu oft, und ich bückte mich vor Tritten, wo ich eigentlich hätte widertreten müssen! Aber ein-mal steht auch der stärkste Mensch an seiner Grenze. Da geht es nicht mehr, Trudel, da mußt du durchbrechen… da bist du wie ein Tier, das man hetzt und hetzt und in der Falle noch quält.da beißt du um dich und vergißt, daß du einmal ein Versprechen gabst, das aber unhaltbar ist, solange du noch fühlst und Ehre hast!«

Er schwieg einen Augenblick und atmete schwer, vermied es aber noch immer, in Trudels Augen zu schauen.

«Als ich dann vor ihm stand, um Urlaub nach Dresden bat, als er dann meine Arbeit schmähte und mich zum Tollen reizte, da warst du nicht mehr da, nicht mehr in den Gedanken, nicht mehr im Gefühl, nur tief im Herzen — und dort schwiegst du, ergriffen von der Einsamkeit, die du dort fandest. Ich aber schrie meinen Haß und meine Wahrheit dem Peiniger ins Gesicht. Als er dann umsank, war ich zuerst entsetzt, dann rief ich dich. ich fühlte nur den einen Wunsch: Heraus aus dieser Hölle!«

Er schwieg und blickte auf den gefrorenen Boden. Das Mädchen, das ihn bei seiner Beichte unverwandt angesehen hatte, senkte nun den Kopf, bis er auf seinen Schultern lag und die goldgelben Strähnen ihres Haares an seiner Wange und seinem Nacken kitzelten.

Ein leises Schluchzen erschütterte ihren Körper.

«Und kaum, daß er aus seinem Anfall erwachte, ging er ins Kontor und schrieb in das Kassenbuch deine Reisekosten und ein Extragehalt für das Fest ein«, weinte sie leise.

Otto Heinrich fuhr herum und fing das Mädchen auf, das durch den plötzlichen Ruck ins Wanken geraten war.»Was tat er?«stotterte er und schob die Linke unter Trudels Kinn, ihr den Kopf hochhebend.»Er läßt mich nach Dresden fahren?!«

«Er hat eine gute Seele«, schluchzte das Mädchen.»Oh, warum versteht ihr ihn alle nicht und haßt ihn, weil er sich seiner Güte schämt und hart ist?! Und du, gerade du. «Sie weinte auf und verbarg das tränennasse Gesicht in ihren blaurotgefrorenen Händen.

«Wie konnte ich das wissen«, stammelte Otto Heinrich.»Er nannte mich einen Flegel, einen Rotzkerl, einen Schuft.«

«Liebster.«»Ja, einen Schuft auch! Da konnte ich nicht schweigen, da durfte ich nicht, wenn mir der Name meines Vaters, den ich trage, heilig ist! Ich hätte ihn ermorden können, ich war in diesem Augenblick zu allem fähig, ich… ich. Trudel, ich weiß nicht mehr, was Unrecht oder Recht ist, wenn man liebt und gleichzeitig wie ein Hund gehetzt wird.«

Er blickte aus dem Fenster und drückte das Mädchen fest an seine Brust. Als er spürte, wie sie vor Kälte zitterte, öffnete er seinen Mantel, schlug ihn um den schmalen Mädchenkörper und preßte ihn eng an sich, rieb ihre Hände und hauchte sie an, küßte ihre Wimpern, an denen die leicht gefrorenen Tränen leise knisterten, und drückte dann auch den Kopf an sich, das ganze zarte Geschöpf in seinen weiten Mantel hüllend.

Draußen rieselte unentwegt der Schnee.

Tief eingeschneit lag die Laube inmitten der Tannen, denen die Schneelast die Zweige zur Erde bog. Die Wege waren unkenntlich, eine große, weiße Fläche war der Garten, und nur der fahle Schein, den der Schnee zurückwarf, erhellte die lautlose Nacht.

Die Lichter in den Nachbarhäusern waren längst erloschen. Eine klirrende Kälte kroch in die einsame, zugeschneite Laube.

Eng umschlungen standen die Liebenden.

Sie froren und zitterten.

Doch sie wagten nicht, hinaus durch den Schnee in das Haus zu gehen, denn diese Hütte war ihr Reich, wo niemand von der lauten Welt sie störte und wo die Herzen fühlen durften, was ewig ist und göttlich groß wie das Wunder der weißen, lautlosen Flocken, die sie umspielten.

«Ich habe dich lieb«, sagte Trudel nach langem Schweigen.»Es ist so schwer zu lieben.«

Otto Heinrich streichelte ihr über die eisigen Wangen.

«Frierst du, Liebste? Du sollst nicht zittern, in meinen Armen nicht — nicht vor Frost und nicht vor Angst. «Er preßte sie so fest an sich, daß sie leise aufschrie und nach Atem rang.»Verzeih«, stammelte er.»Alles, was ich mache, ist voll Schmerz und Unrecht. Ich bin ein Mensch, der Unglück bringt und Tränen.«

«Du bist ein großes, großes Kind.«, flüsterte das Mädchen und schmiegte sich in seine Arme.»Ein Kind, Liebster, ungezogen, unüberlegt — und lieb, so lieb.«

Sie küßten sich und schwiegen dann, schauten auf die stummen, tanzenden Flocken, auf die weißen Tannen und die Schatten der Häuser.

Und sie froren nicht mehr. sie waren zu glücklich, um Kälte zu spüren. Unwirklich wurde die Welt, in einem Nebel von Glück versank die Besinnung auf Erde und Mensch. sie waren nur Ich und Du. nur Wir. nur eins im Taumel der Seligkeit.

Doch ihre Körper standen und zitterten vor Frost. standen in einer Laube, deren Dach sich unter der Decke des Schnees bog und die in einer Flut wirbelnder Flocken versank.

Langsam schneite die Laube zu, und der Vorhang des Schnees wurde dichter.

Wie ein Geheimnis dehnte sich die Nacht.

Nur einmal drang ein schwacher Laut in diese Stille. Ein Tannenzweig, plötzlich vom abgerutschten Schnee befreit, schnellte empor.

Doch lautlos, ohne Pause, rieselte der Schnee. tänzelte und schwebte. in dicken Flocken, eng aneinandergereiht. lautlos. ständig. Schnee. endloser Schnee.

Das Weihnachtsfest in Dresden ging schnell vorbei. Otto Heinrich traf das große Haus in der äußeren Rampschen Gasse im festlichen Schmuck an, duftend nach Tannen, frischem Gebäck und gebratenem Fleisch, er fand seine kleine Schwester Anna Luise voll seliger Erwartung auf das kleine Wunder der Weihnacht und den Bruder Johannes Benno gerüstet, eine große und feierliche Hausandacht zu halten, nur der Vater ging bedrückt umher, zwang sich zu einer sauren Fröhlichkeit und bemühte sich nach Kräften, der Mutter nicht das schöne Fest in Galle zu verwandeln.

Als Otto Heinrich in die Halle trat, kam ihm der Vater ernst entgegen. Sie drückten sich die Hand, sahen sich stumm an und nickten sich zu. Es war ein stiller Schwur, zu schweigen und das harte Los mit Stärke und Geduld zu tragen.

Am ersten Tag des Festes, dem abends die Bescherung vorausging und das Glück der kleinen Anna Luise bis zum Bersten füllte, kamen die Gäste ins Haus.

Es waren nur noch wenige. Verfemt, geächtet lag das breit hingelagerte Marienbad im Schnee, und die sonst gastoffenen Türen klapperten nur selten hinter den Mänteln der spärlichen Besucher.

Freiherr von Maltitz kam und gratulierte.

Und Herr von Seditz.

Der Baron von Puttkammer.

Der Ritter von Bruneck.

Und der Maler Caspar David Friedrich.

Der letzte Romantiker. Der Rhapsode des Mondscheins. Der Mystiker des Gefühls — Sucher im Dunkel.

Der Maler C.D. Friedrich, der Freund, der den Münzmarschall nach Rügen begleitete und dort seine berühmten 36 Bilder malte. Der letzte Große, der die Treue hielt, weil er wußte, wie verschlungen die Wege der Wahrheit sind, verschlungen wie die Mischung der Farben, ehe sie den richtigen Glanz erzeugen.

Der stämmige Münzmarschall saß in seinem Sessel am knisternden Kamin und überblickte die kleine Gesellschaft.

«Fünf Gäste«, sagte er gedehnt.»Im vorigen Jahr waren es fast fünfzig!«

«Wieviel du ihnen warst, erkennst du erst heute«, erwiderte Friedrich und nippte an einem Glase voll dampfenden Punsches.»Die Freunde des Glücks sind die Feinde des Unrechts.«

«Die Welt ist schlecht«, sagte der Münzmarschall und starrte in die Flammen.

«Die Welt ist schön«, erwiderte langsam von Maltitz.»Nur die Menschen sind es, die sie zur Hölle machen.«

«Und selbst die Hölle ist schön.«, Herr von Seditz räkelte sich in seinem Sessel.»Sie trennt die Schlacke von dem edlen Metall.«

Dann schwiegen sie und tranken den dampfenden Punsch.

Sie spielten Schach und rauchten holländischen Tabak. Das Dor-chen — wie der Hausherr seine Gattin nannte — brachte kurz vor Mitternacht noch Tee, Gebäck und eine Flasche, die man stürmisch feierte und mit lautem Vivat begrüßte.

Tokaier war es, blutrot, dick wie Serum, ölig, schimmernd im Glas wie dunkelster Rubin.

Von Maltitz schnalzte mit der Zunge. Er zog den Propfen aus der Flasche, daß es knallte.

Dann wurde es still am knisternden Kamin — es sprach allein der Wein.

Der Schein der Flammen zuckte über die dunkel getäfelten Wände und die schwere Rautendecke.

Erst weit nach Mitternacht verließen die Gäste gemeinsam das einsame, große Haus in der Rampschen Gasse. Otto Heinrich ging mit ihnen. Caspar David Friedrich und Maltitz hatten ihn untergehakt und sprachen leise auf ihn ein.

Man ging durch den knisternden, verharschten Schnee zur Brühl-schen Terrasse. In einem kleinen Weinlokal, nahe der Frauenkirche, war in einem Hinterzimmer schon ein Tisch gedeckt.

Der Wirt stand in der Tür und dienerte.

Was in dieser Nacht besprochen wurde, erfuhr man nie. Es war ein toller Plan, den Münzmarschall zu retten.

Als Otto Heinrich gegen Morgen auf sein Zimmer gehen wollte, traf er den Vater noch im Arbeitszimmer an.

Stumm sahen sie sich an.

Dann sagte Otto Heinrich leise:

«Es geht gut, Vater. Die Zukunft gehört uns.«

Und der Münzmarschall legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter, wandte sich dann ab und trat an das verhängte Fenster.

«Ich tat dir manches Unrecht, Otto Heinrich. Ich bin ein alter Mann, verzeihe mir.«

Im Rücken des Marschalls klappte eine Tür. Eilige Schritte ent-fernten sich. Sie hallten in den weiten Räumen.

Otto Heinrich floh vor seinen Tränen.