«Sie reden ungerecht.«
«Ich rede, wie ich fühle! Da draußen liegt der Schnee! Warum nehmen Sie nicht eine warme Hand und gehen in die Wälder? Da ächzen die Stämme, und Hase, Fuchs und Schneehuhn huschen durch das stäubende Weiß. Da lebt das Leben weiter unter einem Leichentuch, da spüren Sie den Atem ewig neuer Kraft! — Und auf den Bergen, wenn der Nordwind weht, wenn hoch am Himmel sich die Wolken jagen. da sehen Sie die Macht des Lebens. Geh'n Sie hinunter in die Straßen! Blicken Sie nur einmal in die großen, sehnsuchtsoffenen Kinderaugen, wenn sie die bunten Sachen in den Läden sehen und an das Christfest denken mit dem Lichterbaum. Da sehen Sie Ihr Urteil in den Augen dieser Kinder, das Urteil über Ihre Einsamkeit, in der Sie sich gefallen wie ein eitler Fratz! Ja, gehen Sie zurück zu Ihrer Kindheit, lernen Sie noch einmal, kleinste Dinge wie ein Wunder zu betrachten. Glauben Sie denn nicht, daß man den Menschen heilen kann, indem man ihn zurückführt in das Mär-chenland der Kinder?«
Der Jüngling sah zu Boden.
«Sie sprechen hart«, murmelte er.»Hart… aber fern… so fern.«
«Sie stehen fern, weil Sie in Träumen gaukeln und die Umwelt nicht erkennen! Dort draußen schneit es — waren Sie schon einmal auf der Rodelbahn?«
«Als Kind.«
«Nein, hier? Sie schütteln Ihren Kopf und können mir nicht sagen, warum Sie es verpaßten. Sie kennen doch die Eisbahn unten auf dem See?«
Der Jüngling schüttelte den Kopf und wandte sich ein wenig ab.
«Nicht? Nach der Schanze wagte ich Sie nicht zu fragen. Warum auch Rodelbahn, Eislauf und Schanze? Warum auch Musik, lachende Gesichter, Frohsinn und Lebensfreude?! Man ist ja einsam, ein Philosoph des Weltschmerzes, der Verneinung, des verkannten Ichs! Warum denn Frohsinn suchen, wo man weiß, daß alles nur ein Schein ist und das Leben im Grunde schlecht und faul und sinnlos. Sie Narr! Sie Narr, Otto Heinrich Kummer. Sie. Sie. Mörder an der eigenen Seele.«
«Schweigen Sie!«schrie da der Jüngling auf und preßte die Handflächen an seine Ohren, während ein Zittern durch seinen schmächtigen Körper flog.»Warum quälen Sie mich? Sie sind so grausam, so kalt, so erschütternd wie der Tod.«
«Und es ist nur die Wahrheit.«, sagte das Mädchen leise.
Da blickte Otto Heinrich auf und sah in ihren Augen eine Bitte und eine jagende Angst, und er lächelte, nickte, strich ihr über die Wangen und zog sie nahe zu sich heran.
«Trudel«, sagte er sanft, während sie in seinen Händen bebte.»Trudel. gib mir einen Kuß.«
Da stellte sie sich auf die Zehenspitzen, spitzte die Lippen, schloß mit einem Lächeln in den Augen, duldete es, daß sie sein Arm umfing, und empfing den Druck seiner eisigen Lippen mit dem Schauer, den das erste Erlebnis durch den wartenden Körper jagt.
Als sie sich aus seinen Armen löste, war ihr Herz schwer von Jubel, Glück und dem Bewußtsein einer großen, schweren Pflicht.
«Was soll nun werden?«fragte Otto Heinrich leise und ging zur Tür. Er starrte in die vom Himmel herabtanzenden Flocken, streckte die Hand hinaus und fing einige Kristalle auf.»Sie schmelzen nicht in meiner Hand«, lächelte er und zeigte Trudel seine frostigen Finger.»Es ist so kalt in dieser Welt.«
«Ich will dir eine Sonne sein«, sagte das Mädchen schlicht, und das hohe Wort verlor alles Pathos und wurde ein Schwur, der sie verband.»Du sollst im Frühling wieder Blumen blühen sehen. Liebster. diese Welt ist schön, wenn man ein Auge hat, sie ganz zu sehen.«
Sie küßten sich. Es waren scheue Küsse, kindlich noch und huschend, doch süßer, als kein Kuß mehr sein kann.
«Wir müssen ins Haus«, sagte der Jüngling nach einer Weile gemeinsamen stummen Sinnens, in der ein jeder seine Wünsche baute zu einem stolzen Schloß, in dem sich herrlich leben ließ.»Die Glocke muß schon elf geschlagen haben. Dein Vater könnte dich vermissen.«
«Er schläft schon. Du aber frierst und mußt ins Warme. Daß ich daran nicht dachte. So ohne Mantel in der Kälte. Liebster, Liebster. «Sie drohte lächelnd.»Ich muß dich nächstens überwachen, wenn du ausgehst.«
«Tue es. Ich will auf deine Worte hören, wie ein Kind. «Und leise fügte er hinzu:»Du bist ein herrliches, ein schönes Mädchen.«
Wieder errötete sie leicht und wandte sich ein wenig zur Seite. Verlegen schabte sie ein wenig hereingewehten Schnee mit der Schuhspitze von der Schwelle in den Garten.
«Wir müssen, bis der Vater seine Ansicht ändert, fremd vor den Augen aller Leute sein, fremd wie bisher«, sagte sie nach einer Weile.»Nur abends und in seltenen Stunden auch am Tage, irgendwo, wo wir uns finden, gehören wir nur uns und unserer Zukunft. Wir sind ja noch so jung.«
«So jung und doch vom Leben so geschlagen.«
«Liebster, sprich nicht wieder so. Es soll ja alles licht und frei, so schön und glücklich um dich werden. Habe doch Geduld, vielleicht nur noch wenige Wochen.«
«Ich habe ja Geduld«, flüsterte Otto Heinrich an ihrem Ohr und nahm die Pelzkappe von ihren Haaren, küßte die schweren, blonden Flechten und drückte dann den schmalen Kopf an seine Brust.»Du sollst nicht klagen über mich. Du sollst mich nur noch lieben.«
«Ich hab' dich lieb«, flüsterte sie und schloß die Augen.»So lieb. «Und plötzlich blickte sie zu ihm empor und flehte:»Und zu dem Vater sei nicht böse. bitte, bitte. auch, wenn er schimpft. Er meint es nicht so. Er ist so einsam und zerrissen, so verbittert und verlassen. wie du.«
Der Jüngling nickte.»Hab' keine Angst. Und bitte, geh jetzt. Ich komme nach. man könnte uns belauschen und verraten.«
Noch einmal küßten sie sich, dann eilte Trudel aus der Laube, huschte den Weg hinab und nickte im Laufen einmal kurz zurück. Der Jüngling sah ihr nach, bis ihr wehender Mantel und die flatternden, blonden Haare sich in dem Vorhang rieselnder Flocken auflösten und der lautlose Fall des Schnees ihre Spuren verwischte.
Dann trat er aus der Laube, preßte den Kragen seines Rockes fest an den Nacken und eilte mit langen Schritten dem dunklen Hause zu.
Als Otto Heinrich am nächsten Morgen in seiner kleinen Kammer erwachte und ein langfadiger Dezemberregen gegen die klappernden Schindeln des Daches und das schmale, halbblinde Lukenfenster perlte, fand er das Bett Willi Bendlers schon verlassen, die Decken säuberlich gefaltet und hergerichtet. Die mit neuem Wasser gefüllte Waschschüssel war in die Nähe von Kummers Liegestatt auf einem hölzernen Hocker gerückt, das Rollhandtuch war von der Stange auf dem engen Flur abgenommen und gefaltet neben das Seifenschälchen gelegt, und sogar die kleine Vase mit ein paar bunten Strohblumen, die Bendler einmal von der Jungfer Trudel aus den unteren Räumen zugesteckt erhielt, stand auf dem Hocker — wie ein
Gruß!
Mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst erhob sich Kummer und ging zum Bette Bendlers, auf dessen Kopfkeil er jetzt ein zusammengefaltetes Papier sah.
Ein rasendes Herzklopfen erstickte plötzlich den Atem des Provisors. Ein leeres Bett, ein Brief auf der Decke und draußen ein grauer, regnender Winterhimmel, der den Schnee von gestern erweichte, zusammenschmelzen ließ zu einer laufenden, breiigen Masse, zu Schlamm und kaltem, grauem Morast. mein Gott. Willi Bend-ler. Bendler. das ist doch nicht möglich.!
Otto Heinrichs Hand griff nach dem Brief, dann zuckte er zurück und ließ das Papier liegen. Die immer schwerer werdende Angst schnürte die Kehle zu.
«Mein Gott. das kann doch nicht sein!«stammelte Kummer und starrte auf den weißen Brief. Zögernd trat er wieder auf das Bett zu, nahm mit einem tiefen Atemzug das Papier von der Decke, zögerte wieder und entfaltete es dann entschlossen mit schnellen, überhastigen Griffen.
«Mein lieber Otto Heinrich«, las er, dann verschwammen die Buchstaben einen Augenblick vor seinen Augen, er setzte sich auf Bendlers Bett und starrte vor sich auf den Bretterboden. Nach einer langen Pause erst nahm er den Brief wieder auf und begann ihn langsam zu lesen.
«Das Leben ist wie der Stall des Augias, für den sich kein Herakles findet«, stand da in Bendlers klotziger Schrift.»Ich aber bin kein Mensch, der in der Stille sitzt und zusieht, wie der Kot sich häuft und höher, immer höher steigt, bis er den Mund erreicht und wir an unserem eigenen Dreck ersticken. Ich muß hinaus, ich bin ein Raubtier, das die Freiheit kennt und in den Käfigen der allgemeinen Sitte zur Flöte bürgerlicher Angstmoral tanzen und feixen muß. Ich liebe Menschentum, wenn es sich dehnt und seine Kräfte kennt und segenbringend nutzt. Ich liebe dieses Leben, wenn es den Zweck ergreift, den Menschen zu ver-edeln und zu heben. Ich liebe alles, was mich Mensch sein läßt in einer Freiheit, wo die Kräfte spielen und die Wahrheit mehr ist als ein Anstandswort des bürgerlichen Katechismus. Und darum gehe ich! Nenn' mich jetzt untreu, unmoralisch, einen Schuft — einst wirst Du sehen, daß es mehr gibt als die Pflicht von Mann zu Mann — die Pflicht zum Leben und die Verantwortung vor unserem Menschentum. - Verzeih, wenn ich so gehe. Ich wollte Dich nicht sprechen, weil ich dann nicht hätte gehen können. Nun bist Du einsam — ist die Einsamkeit zu groß, so komm zu mir. Ich bin Dir stets ein Freund. Du findest mich überall, wo sich das Neue Bahn bricht. Leb wohl, ich weiß, daß Du einst kommst. Wir dürfen unser Leben nicht erträumen — wir müssen es entdecken und erobern. Immer.
Dein Willi Bendler.«
Und ganz am Rande stand, eiligst hingeworfen, ein Satz, der so voll Willi Bendler war, daß Otto Heinrich trotz der Bestürzung seines Herzens lächeln mußte:
«Dem Prinzipal gib als meinen letzten Gruß das schöne Drama unseres Goethe >Götz von Berlichingen<. Er wird die Stelle kennen, die ich ihm zum Abschied sage — zum Gurgeln hinterher empfehle ich dann Salbeitee.«
Allein in einer schmalen Kammer unter klappernden Ziegeln, im Hause ein Mann, der einen haßte mit aller Glut und Inbrunst, die in den Hirnen aufgescheuchter Eremiten spukt, ein Mädchen, das man liebt und küßt und das auf ihrer Seele noch den Glanz der Unschuld trägt und das so weit ist, unerreichbar, sternenhaft nur wünschenswert, weil dieses Leben Schranken setzt und die Vernunft in Hohn verwandelt. O wie grausam, wie ekelhaft, wie sinnlos ist doch das Leben.
"Das einsame Herz" отзывы
Отзывы читателей о книге "Das einsame Herz". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Das einsame Herz" друзьям в соцсетях.