Er schüttelte den Kopf und steckte das neben ihm liegende Buch in die Rocktasche.

Kummer sann einen Augenblick vor sich hin, ehe er eine Antwort gab. Dann sagte er langsam und bedächtig:

«Ich glaube, daß diese Welt einmal untergeht, weil sie sich überzüchten wird!«

«Und diese Überzüchtung beginnt bei der Vormachtstellung des Intellektualismus!«rief der Fremde laut und leidenschaftlich aus.»Junger Freund, Sie haben einen guten Gedanken gefaßt! Überzüchtung! Das ist es! An ihr starben Ägypten, China, Karthago, Rom, Griechenland, die Phönizier und Perser. Überzüchtung ist der Untergang aller Völker gewesen — der geschichtliche Untergang, von dem es keine Erholung gibt. Wehe dem Deutschland, das einmal so herrisch ist, sich übervollendet zu nennen! Er könnte sterben, ohne die Auferstehung der schöpferischen Kräfte nochmals zu erleben!«

Otto Heinrich Kummer hatte mit leuchtenden Augen zugehört. Jetzt ergriff er in einer freudigen Aufwallung die Hand des Fremden und drückte sie.

«Sie sprechen die Wahrheit, Herr. Sie sprechen mir aus der Seele. In langen Nächten habe ich gegrübelt, ob ich wohl einen Menschen finde, der mich versteht. Ich ging nach hier in die Verbannung, weil ich angeblich träumte, ich nahm das schwerste Los auf mich — die Heimatlosigkeit und Einsamkeit —, und ich finde auf der Augustusburg einen Menschen, der mit mir eines Gedankens ist!«Er ließ die Hand los, verbeugte sich und sagte:»Gestatten Sie mir, daß ich als der Jüngere meinen Namen nenne: Otto Heinrich Kummer aus Dresden, weiland Apotheker in Frankenberg.«

Der Fremde nahm seinerseits den Hut von den schon leicht ergrauten Haaren, verbeugte sich leicht und antwortete:

«Ich danke Ihnen, junger Freund. - Von Maltitz.«

Mit aufgerissenen Augen prallte Kummer zurück.

«August Freiherr von Maltitz«, stammelte er.»Der Dichter der Pfefferkörner?!«

«Setzt Sie das so in Erstaunen? Die meisten verlassen meine Nähe, wenn sie meinen Namen hören. Mein Name hat für das Bürgertum und die Aristokratie etwas wie den Pestgeruch an sich. «Er lachte schallend, indem er seinen Hut wieder aufsetzte und einige Schritte aus der Grotte trat.»Da Sie den ersten Schreck überwunden haben, lieber Herr Kummer, werden Sie mir einen kleinen gemeinsamen Spaziergang wohl nicht abschlagen?«

«Ich wüßte nicht, was mir eine größere Ehre wäre.«, stammelte der erfreute und im ersten Augenblick betroffene Jüngling.

«Bitte, werden Sie jetzt nicht konventionell«, rief Herr von Maltitz ernst.»Sprechen Sie so weiter wie bisher. Ich hasse billige Konventionen und gelernte Moralsprüche. Denken Sie an Luther: Man muß dem Volke aufs Maul sehen! Maul sagte er, nicht Mund oder gar Lippen. Plebejisch Maul! Das ist eine Visitenkarte für den ganzen Mann, den ich für den größten Revolutionär seit Christus halte!«

Langsam schritten sie nebeneinander durch den Park und verließen den Komplex der weitausladenden Augustusburg. Unter hohen Tannen wandelten sie in den trüben Oktobertag hinein, bis sie an einer Quelle, die aus einer Felsspalte unterhalb des Schloßparkes entsprang, anhielten und sich auf die Stöcke stützten.

«Denken Sie nicht«, nahm Maltitz die Unterhaltung wieder auf, die den Weg über geruht hatte,»daß ich Ihnen Unterricht in der Behandlung neuer Lebensformen geben möchte. Nichts liegt mir ferner als das! Aber es ist wohltuend, auch für mich, einmal einen Menschen aus der Zukunft Deutschlands zu sprechen, der nicht auf dem Boden des billigen Hurrapatriotismus steht. Für diese Jugend habe ich meine >Pfefferkörner< geschrieben und mein Drama >Schwur und Rache<. Nicht Rache an der Borniertheit dieser Spießer, sondern Rache an dem absolutistischen, ekelhaft nationalen deutschpreußischen Geist, den der sogenannte Befreiungskrieg erst richtig entfesselte und zu einer geschichtlich lächerlichen Manie werden ließ. Auch Kleist überwand ihn nicht — er war mehr sein Verfechter auf idealer Basis. Aber mit diesen Idealen baut man keine neue Weltanschauung! Das nämlich ist der Grund allen modernen Staatswesens: Wir müssen lernen, die Welt und ihre Gesetze anders zu schauen — wir müssen eine Weltanschauung haben, eine objektive Sicht unserer Grenzen und Pflichten. Wir müssen aus dem kreisförmigen Denken heraus in ein flächenförmiges Denken übergehen. Wir dürfen nicht sagen: hier Deutschland — dort Frankreich oder England oder Belgien! Wir sind eine europäische Gemeinschaft, eine große Schicksalsgemeinschaft, die einmal an ihrem Rubikon stehen wird! — Das wollen die Herren in Berlin und Dresden, München und Stuttgart und wo sie alle residieren, nicht wissen. Das sehen sie in ihrem Serenissimustum nicht ein, denn noch steht ihr Thron und gibt es Mätressen genug, die ihnen den realen Sinn umnebeln. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß auch Rom und Griechenland, Weltreiche wie die der Pharaonen und der Chinesen einfach untergingen und geschichtlich starben mit allen Werten ihrer hochentwickelten Kultur, weil sie von innen heraus verfaulten an der Trägheit einer sich von Fall zu Fall wandeln müssenden Anschauung des gemeinsamen Schicksalsraumes — eben der Welt!«

Herr von Maltitz schwieg und fing mit der Hand spielerisch einige Wassertropfen auf, die von der Felsenquelle zu ihm emporspritzten. Otto Heinrich Kummer, der der Rede mit wachsendem Erstaunen und fiebernder Begeisterung gefolgt war, stieß nun den Stock in den Rasen und lief vor der Quelle hin und her.

«Alles Worte, Worte — Herr von Maltitz! Sie dringen nicht tief genug in das Volk, um es aufzureißen. Ich habe mit meinem Vater schon einen Disput über dieses Thema gehabt. Er nannte mich einen billigen Schwätzer und drohte mir mit einer Verbannung, wenn ich in seinem Hause weiter solche Revolten anzünde.«

«Ihr Herr Vater?«Maltitz betrachtete Kummer von der Seite und wiegte den Kopf.»Aus Dresden kommen Sie? Ich kenne in Dresden nur einen Kummer, der einen solchen Sohn hervorbringen könnte.«

«Mein Vater ist Benjamin Kummer, der.«

«Natürlich — der Münzmarschall!«rief laut lachend Herr von Maltitz.»Wie konnte ich nicht von Anfang an darauf kommen?!«Er trat an den jungen Apotheker heran und legte ihm die Hand auf die schmale Schulter.»Allerdings — bei einem solchen königstreuen Beamtenvater haben Sie es schwer, die neue Zeit zu proklamieren. Wer kennt in Dresden nicht den Münzmarschall Kummer! Man darf ihm seinen Patriotismus nicht verübeln. Ein Mann, als Mensch ebenso groß wie als Künstler, wuchs er in dieser strengen Atmosphäre auf und kann die Haut nicht wechseln, ohne sich selbst aufzugeben. Die Hochachtung des Alten und Erprobten ist der letzte Halt seiner Sittlichkeit als Beamter. Das ist selbstverständlich. Um so schwerer wiegt es, daß sein Sohn ein Sucher ist, ein Tastender, ein Rufer.«

«Und ein Einsamer«, fiel Kummer ins Wort.»Ein grenzenlos Einsamer, Herr von Maltitz.«

«Das sind wir alle, wir Glücksucher für die Menschheit. Oder kennen Sie einen Propheten, dem das eigene Volk zujubelt? Wie sagt doch Kleist? — Das Leben nennt der Derwisch eine Reise. Mein lieber Kummer, in dieser Kutsche sitzen wir nicht auf weichen Polstern!«

«Aber manchmal wird es unendlich schwer, ein Ausgestoßener der Gemeinschaft zu sein.«

«Es ist das Los aller Gladiatoren, ob in der Arena oder auf dem schlüpfrigen Pflaster der Politik. Das >Ave, Imperator, morituri te salutant< wird unsterblich sein, wie das >ecce homo< des Christentums! Daran müssen Sie sich gewöhnen, junger Freund — man kann nur Großes schaffen, wenn man Feinde hat, die einen zur doppelten Kraft anspornen. Und allein an der Masse der Gegner erkennt man, wie weit oder wie nahe man dem Ziele ist. Wenn eine ganze Welt gegen einen steht, kann man sicher sein, den Sieg bald errungen zu haben. Das ist das merkwürdige Gesetz dieses kosmischen Planeten: eine Größe wird erst groß durch Verdammnis!«

Mit einem resignierenden Achselzucken bedeutete Maltitz, daß er das Thema für beendet betrachtete, und wandte sich ab, hinab ins Tal nach Augustusburg zu gehen.

«Ich darf Sie doch für den heutigen Tag als meinen Gast betrachten, Herr Kummer«, sagte er, und als er sah, daß der Apotheker zögerte, machte er eine wegwischende Handbewegung und fügte seiner Einladung hinzu:»Mir schwant, daß wir manches noch zu bereden und uns noch von mancher Seite zu beschnuppern haben. Das kann am tröstlichsten geschehen bei einer Flasche Wein und einem dicken Kotelett. «Und mit einem dionysischen Lächeln zwinkerte er Otto

Heinrich zu.»Merken Sie sich eins, junger Freund — man darf über alle Ideale nicht die schönste aller Realitäten vergessen: das Essen!«

Lachend und in angeregtem Gespräch stiegen sie den Burgberg hinab und kletterten auf steilen Bergwegen durch dichte Tannen hinunter in die Stadt, überquerten das Flüßchen auf einer mäßig geschwungenen Steinbrücke und schritten durch die schmucke Hauptstraße dem Hause des mit alten Sprüchen verzierten Ratskellers zu.

Dort trafen sie ein, suchten sich einen Tisch in einer der holzgetäfelten Ecken, bestellten bei der drallen Kellnerin einen halben Liter Wein und zündeten ihre Pfeifen an, es sich in dem behaglichen Raum gemütlich zu machen.

Als der Wein in einer Karaffe auf dem Holztisch stand und der erste Schluck probiert war, lehnte sich Maltitz weit in seiner Bank zurück und blies den dicken Rauch aus seiner Pfeife gegen die mit breiten Balken verzierte, hölzerne Decke.

«Wir haben beide nicht erwartet, heute noch in Augustusburg eine angeregte Stunde zu verbringen«, sagte er.»Am allerwenigsten ahnte ich, daß ich einen jungen Menschen treffe, der, aus einem inneren Drang heraus, selbständig denkt. Das tun nämlich heute die wenigsten. Sie glauben, was ihnen von oben herab in die Ohren geblasen wird, und bekränzen die Dummheit, wenn sie laut genug schreit.«