Gauthiers Stimme unterbrach ihre Gedanken.
»Es ist jetzt nicht der Augenblick, auszuruhen und zu träumen! Wir müssen uns vor Tagesanbruch auf den Weg machen. Und die Dämmerung wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.«
Sie setzten sich durch den Wald wieder in Marsch. Zum erstenmal seit langer Zeit stürzte sich Cathérine wieder in die Natur, in die enge Verbindung mit der Erde, dem Wald, die sie so sehr geliebt hatte. Erstaunt entdeckte sie, fast wie eh und je, das Gefühl der Vertrautheit mit den großen Bäumen. Es war nicht das erstemal, daß sie Zuflucht bei ihnen gesucht hatte, und nie hatten sie sie enttäuscht. Das halb im Schnee versunkene Unterholz bot einen unwirklichen Anblick. Die Kälte war hier nicht so empfindlich, und die Tannen, die ihre langen, weißgeschmückten Äste fast bis auf den Boden hängen ließen, strahlten majestätische Ruhe aus. In den Lichtungen funkelten im Mondlicht Tausende winziger Kristalle, und die einfache und süße Stille war die einer schlafenden Landschaft. Die Bosheit der Menschen, der Krieg, die Leiden des Herzens machten hier halt wie auf der Schwelle eines Heiligtums, und Cathérine ertappte sich dabei, daß sie an die Einsiedler dachte, die allein in der Tiefe der großen Wälder leben. Sie entdeckte plötzlich, daß sie sie verstand. Soviel Schönheit konnte jeden Schmerz, jedes Leid mildern und besänftigen. Ihre Müdigkeit, die Kälte, all das war von ihr abgefallen. Vor ihr lief die große Gestalt Gauthiers mit gleichmäßigen Schritten wiegend dahin, und sie befleißigte sich, ihre Füße in die von ihm gemachten tiefen Spuren zu setzen. Die anderen taten dasselbe. Auch der Riese gehörte zum Wald, aus dem er stammte wie jeder seiner Bäume. Hier war er zu Hause, und Cathérine fand sich in dem Vertrauen bestärkt, das sie immer in ihn gesetzt hatte. Doch plötzlich blieb er stehen, spitzte die Ohren und gab den anderen ein Zeichen, sich nicht zu rühren. In der Ferne ließen sich die gellenden Töne einer Trompete vernehmen.
»Wecken, jetzt schon?« fragte Cathérine. »Wird es denn schon Tag?«
»Noch nicht. Und es ist auch nicht das Signal zum Wecken. Wartet einen Augenblick auf mich.«
Im Nu hatte Gauthier den Stamm einer Eiche umklammert, war mit affenartiger Geschwindigkeit hinaufgeklettert und den Augen seiner Freunde entschwunden. Die Trompete klang noch immer gedämpft herüber und gab damit das genaue Maß des bereits zurückgelegten Weges an.
»Kommt es vom Lager her oder vom Schloß?« flüsterte Bruder Etienne.
»Im Schloß würde man keine Ursache haben, die Trompete zu blasen … außer bei einem Angriff«, begann Cathérine. Sie kam nicht weiter. Mit äußerster Schnelligkeit herunterkletternd, fiel Gauthier wie eine Kugel zwischen ihr und dem kleinen Mönch zur Erde.
»Es kommt aus dem Lager! Soldaten rotten sich in der Nähe der Umwallung nördlich des Schlosses zusammen. Sie müssen bei diesem verdammten Mondlicht die Spuren gesehen haben. Ich sah Männer in den Sattel steigen.«
»Was sollen wir tun?« jammerte Sara. »Wir können's an Schnelligkeit nicht mit den Pferden aufnehmen, wenn unsere Spuren hinter dem Bach entdeckt werden.«
»Das ist möglich«, gab Gauthier zu. »Durchaus möglich. Wir müssen uns sofort trennen.«
Cathérine wollte Einwände machen, aber er gebot ihr mit so fester Autorität Schweigen, daß sie nicht daran dachte zu protestieren. War es nicht normal, daß er bei diesem Abenteuer der Führer war? Schon fuhr er fort:
»Bei Tagesanbruch müßten wir es ohnehin tun. Ihr müßt Aurillac erreichen, vergeßt das nicht, Dame Cathérine, während ich mich mit MacLaren treffen werde. Ich werde also gehen, allein … Sie werden meiner Spur folgen.«
»Wenn sie nicht der unseren folgen«, bemerkte Sara.
»Nein. Denn ihr werdet alle drei auf diesen Baum klettern und euch dort verborgen halten … bis unsere Verfolger verschwunden sind. Seid ohne Sorge, und überlaßt es nur mir, sie weit genug wegzulocken, so daß ihr euren Weg ungestört fortsetzen könnt.«
Cathérine schien es, als sei die magische Schönheit des Waldes mit einem Schlag erloschen.
Sich jetzt schon von ihrem Freund zu trennen war unerfreulich genug. Mußte sie ihn zudem noch in Gefahr wissen, sich in der Ungewißheit über sein Ergehen das Herz schwer machen? Geteilte Gefahr ist immer leichter.
»Aber«, murmelte sie gequält, »wenn sie dich einholen, wenn sie dich …«
Sie konnte das Wort nicht aussprechen. Zwei Tränen lösten sich aus ihren Augen und rollten ihr die Wangen hinunter. Das Mondlicht ließ sie glitzern. Tiefe Freude breitete sich über das große Gesicht des Riesen.
»Mich töten?« fragte er leise. »Sie werden mir nichts mehr anhaben können, Dame Cathérine. Ihr habt um mich geweint … mir kann nichts mehr passieren. Tut, was ich sagte. Klettert hinauf!«
Er nahm sie um die Taille und setzte sie, offenbar ohne Anstrengung, auf einen Ast. Danach packte er Sara und dann den kleinen Mönch. Wie sie so Seite an Seite auf dem Ast saßen, hatten sie das verstörte Aussehen dreier erstarrter Spatzen. Gauthier begann zu lachen.
»Ihr seht aus wie eine drollige Nestbrut, wie ihr so dasitzt! Der Baum läßt sich leicht erklettern! Steigt so hoch hinauf, wie ihr könnt, und bemüht euch, kein Geräusch zu machen. Wenn ich richtig schätze, werden die Soldaten in einer Stunde unter euch vorbeiziehen. Steigt nicht herunter, bevor ihr euch nicht überzeugt habt, daß sie sich auch wirklich entfernt haben. Mut!«
Starr vor instinktiver Furcht, sahen sie, wie er sorgsam die Spuren verwischte, die ihren Aufenthalt unter der Eiche hätten verraten können, und sodann in der Richtung, der er folgen wollte, einen deutlich erkennbaren Trampelpfad in den Schnee stampfte; dann verschwand er endlich mit einer großen Abschiedsgebärde eiligst zwischen den Bäumen. Jetzt erst blickten die drei Verlassenen sich an.
»Nun«, sagte Bruder Etienne mit Humor, »ich glaube, wir müssen die uns gegebenen Befehle ausführen. Verzeiht, Dame Cathérine, aber ich werde diese Kutte ein wenig schürzen müssen. Zum Klettern ist sie nicht sehr praktisch.«
Gesagt, getan. Der kleine Mönch nahm seine Kutte hoch und stopfte sie unter den seinen Bauch eng umschließenden Strick, hagere, sehnige Beine enthüllend, an deren Ende seine breiten, nackten Füße in ihren Sandalen riesig schienen. Galant half er Sara, die Äste des Baums hinaufzuklettern. Cathérine fand ihre einstige Behendigkeit plötzlich wieder und kletterte ohne Hilfe. Und bald befanden sie sich auf der Hauptgabelung des Baums. Das dichte Geflecht der Zweige, an denen noch einige rotgelbe, trockene Blätter hängengeblieben waren, verbarg beinah den Boden. Die drei Flüchtigen mußten vollkommen unsichtbar sein.
»Jetzt brauchen wir bloß noch etwas Geduld«, meinte Bruder Etienne ruhig, an den knorrigen Stamm gelehnt. »Ich werde die Gelegenheit benutzen und für den tapferen Jungen den Rosenkranz beten. Ich habe so eine Ahnung, daß er Gebete brauchen kann, auch wenn er nicht daran glaubt.«
Cathérine versuchte, es ihm nachzutun, doch ihr Herz war schwer vor Angst, und ihr Geist folgte Gauthier durch den Wald. Sie wagte nicht, sich auszudenken, welchen Prüfungen sie ausgesetzt wäre, wenn dem Normannen etwas zustoßen würde. Er war ihr jetzt teuer, nachdem er kraft seiner Hingabe und Treue einen Teil ihres Herzens erobert hatte. Wie Sara war er alles, was sie mit der Vergangenheit verband. Seine ruhige Kraft, sein klarer und heller Verstand waren beruhigende Bollwerke gegen das Leben und den Schmerz. Und die junge Frau fühlte sich seltsam entblößt und zerbrechlich, seitdem die hohe Gestalt zwischen den Stämmen verschwunden war.
»Gib, mein Gott, daß ihm nichts geschieht!« betete sie still, den Himmel durch die Zweige suchend. »Wenn du mich meines letzten Freundes beraubst, was bleibt mir dann noch?«
Der Lärm eines reitenden Trupps, klirrender Waffen, menschlicher Stimmen, untermischt mit Hundegebell, näherte sich. Anscheinend hatten die Leute Villa-Andrados den Trampelpfad entdeckt. Bruder Etienne und Sara bekreuzigten sich hastig.
»Da sind sie«, flüsterte der kleine Mönch. »Sie sind da …«
Cathérines Blick glitt wieder zum Himmel. Kein Zweifel: Die Nacht verblaßte schon leicht. Der Tag würde anbrechen. Der Wald regte sich mit unmerklichen Geräuschen, Rascheln und anderen Lauten, die ankündigten, daß er bald erwachen würde.
»Vorausgesetzt, daß …«, begann sie.
Aber sie hielt inne, den Arm Bruder Etiennes packend und drückend. Unter den Bäumen sah sie den Helm eines Bewaffneten schimmern. Die dicke Schneedecke dämpfte die Schritte der Männer, aber die Zweige knackten, wenn sie vorübergingen. Mit großen Degenhieben machten sie sich den Weg frei.
Die Soldaten gingen langsam, sehr langsam weiter, die Nase auf dem Boden: zwanzig Bogenschützen zu Fuß, die Waffe über der Schulter, hinter ihnen zehn Reiter. Es waren Kastilier, und Cathérine verstand ihre Sprache nicht. Aber es wurde allmählich immer heller, und sie konnte schon die olivfarbenen, denkbar beunruhigenden Gesichter mit den lang ausgezogenen schwarzen Schnurrbärten unterscheiden. Mit Entsetzen sah sie, daß einer der Reiter am Sattelbogen einen Rosenkranz aus menschlichen Ohren trug, und unterdrückte einen Schrei. Als fühlte er ihre Anwesenheit, hielt der Mann genau unter der großen Eiche an und stieß einen heiseren Ruf aus. Ein Soldat eilte herbei. Der Reiter sagte etwas zu ihm, und Cathérines Herzschläge setzten aus. Aber der Mann mit der abscheulichen Trophäe wollte nur, daß man den Sattelgurt seines Pferdes fester schnallte, und ritt, nachdem dies geschehen war, weiter. Einige Augenblicke später war niemand mehr unter dem Baum. Ein dreifacher Seufzer entrang sich den Flüchtigen. Bruder Etienne wischte sich über die trotz der Kälte schweißtriefende Stirn und schob seine Kapuze zurück.
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