Auf der Straße traf Cathérine ihre Bauern in fröhlichen Gruppen an, die Gesichter unter den nach hinten geschobenen Strohhüten sonnverbrannt, die Kittel über der schwitzenden Brust weit geöffnet. Die Frauen hatten ihre Kleider geschürzt und gingen mit nackten Beinen, den Rechen oder die Forke auf der Schulter. Alle grüßten Cathérine mit einem Lächeln, einem Lüpfen des Hutes oder einem kurzen Knicks und einem freundlichen »Le bonsoir, not' dame!«, so daß es ihr warm ums Herz wurde. Diese braven Leute hatten sie spontan unter sich aufgenommen, der Leiden wegen, die sie mit ihnen geteilt hatte, und in Erinnerung an Arnaud … Sie war wirklich zu Hause in Montsalvy!

Das Haus des Amtmanns Saturnin und seiner Frau Donatienne lag dem Südtor Montsalvys und seinem viereckigen Wehrturm unmittelbar benachbart. Mit seinem hohen Giebel war es eines der schönsten Häuser des Dorfs, fast ein Bürgerhaus, und Donatienne hielt es auf geradezu flämische Weise sauber. Als Cathérine es erreichte, erwartete sie schon der alte Saturnin auf der zwei Stufen hohen Schwelle, die Kappe in der Hand. Die Sorge ließ sein Gesicht noch runzliger erscheinen, und das vorspringende Kinn schien sich um ein Haar mit der langen, messerscharfen Nase zu treffen. Er begrüßte Cathérine respektvoll und reichte ihr die Hand, um ihr beim Eintreten ins Haus behilflich zu sein.

»Es ist ein Schäfer hier, Dame Cathérine … Er ist soeben aus Vieillevie eingetroffen, einem Dorf etwa vier Meilen von hier im Tal des Lot, und er hat merkwürdige Dinge zu berichten. Aus diesem Grunde habe ich es vorgezogen, ihn nicht in die Abtei zu bringen, sondern Euch bitten lassen – ich hoffe, Ihr vergebt mir die Kühnheit – hierherzukommen.«

»Das habt Ihr gut gemacht, Saturnin«, beeilte Cathérine sich zu erwidern, der es ein wenig den Atem verschlagen hatte, als er vom Tal des Lot sprach. »Was hat er denn so Merkwürdiges zu erzählen?«

»Ihr werdet es gleich hören. Tretet nur ein!«

In der Küche, in der das Zinn auf dem Kaminsims wie Silber glänzte und der Steinboden so weiß war, daß er wie Samt aussah, saß ein in einen Kittel aus Schafsfell über grobem Leinen gekleideter junger Mann auf einer Bank neben dem Tisch aus dunklem Kastanienholz. Er aß Brot und Käse, die Saturnin ihm hingestellt hatte, sprang aber sofort höflich auf, als er Cathérine eintreten sah, grüßte linkisch und erwartete stehend, daß man zu ihm sprechen würde.

»Dieser Junge«, sagte Saturnin, »ist einer der Schäfer des Herrn de Vieillevie. Du, mein Junge, stehst vor der Dame de Montsalvy. Sage ihr, was du am Sonntagmorgen gesehen hast.«

Der Schäfer wurde ein wenig rot, zweifellos durch die Anwesenheit dieser großen Dame verschüchtert, und seine Stimme war zuerst kaum hörbar; doch schon bei seinen ersten Worten spürte Cathérine, wie ihr leidenschaftliches Interesse erwachte.

»Am Sonntagmorgen hütete ich meine Schafe auf der Ebene über der Garrigue …«

»Sprich lauter!« befahl Saturnin. »Man kann dich schlecht hören!«

Der Junge räusperte sich und hob die Stimme.

»Ich sah zwei Reiter, die aus Montsalvy zu kommen schienen. Der erste, groß und von schöner Gestalt, war ganz in Schwarz gekleidet: er trug sogar eine schwarze Maske, aber er ritt eine wundervolle schneeweiße Stute …«

»Morgane!« murmelte Cathérine gefesselt. »Morgane und …«

»Der andere war ein kleiner, magerer gelber Mann mit kohlschwarzen Augen und einem Spitzbärtchen. Sie hielten neben mir, und der Kleinere sprach mich an. Von dem anderen … dem Reiter mit der Maske, habe ich kein Sterbenswörtchen gehört. Er sah mich nicht an. Er hielt sich etwas abseits, mit seiner behandschuhten Rechten den Hals seines Tieres tätschelnd, das ungeduldig auf dem Boden scharrte.«

»Was hat der Kleinere zu dir gesagt?« fragte Saturnin.

»Er hat mich gefragt, ob ich den Amtmann von Montsalvy kenne. Ich habe geantwortet, ich hätte ihn zwei- oder dreimal gesehen und ich sei Schäfer des Herrn de Vieillevie. Dann hat der kleine gelbe Mann gefragt, ob ich bereit sei, Meister Saturnin etwas zu überbringen, ob man mir vertrauen könne. Ich habe ja gesagt, aber ich brauche einen Vorwand, um hierherzukommen. Zufällig hatte ich Käse zu verkaufen. Ich sagte also, daß ich in dieser Woche nach Montsalvy gehen würde. Dann hat er mir noch eine Frage gestellt. Er hat mich gefragt, ob ich lesen könne. Ich habe geantwortet: Nein …«

»Und dann?« fragte Cathérine, auf die Folter gespannt. »Was hat er hinzugefügt?«

»Nicht viel. Er hat aus seinem Wams ein zusammengefaltetes und versiegeltes Pergament gezogen und mir aufgetragen, es so schnell wie möglich zu Meister Saturnin zu bringen. Und er hat mir einen Taler für meine Mühe gegeben!«

»Dieser Brief«, fragte Cathérine, »wo ist er?«

»Hier!« antwortete Saturnin, Cathérine die versiegelte Botschaft reichend, die sie mit zitternder Hand in Empfang nahm.

»Ihr habt ihn nicht geöffnet?«

»Das ist nicht meine Sache«, entgegnete der Amtmann, den Kopf schüttelnd. »Lest nur!«

Tatsächlich waren einige Worte auf das Pergament geschrieben: »Für Dame Cathérine de Montsalvy, sobald sie zurück ist.«

Plötzlich schien es Cathérine, als drehten sich die gekalkten weißen Wände vor ihren Augen. Diese Worte, daran gab es keinen Zweifel, hatte Arnaud selbst geschrieben! Mit einer instinktiven Bewegung drückte sie das Pergament ans Herz, während sie gegen die Erregung ankämpfte, die in ihr aufstieg. Saturnin bemerkte es, wollte den Schäfer entlassen.

»Du hast deine Botschaft gut überbracht, mein Junge. Geh nun und ruh dich aus.«

Doch Cathérine hielt ihn zurück:

»Warte! Auch ich möchte dir danken, Schäfer …«

Sie wühlte in ihrem Almosenbeutel, aber der junge Mann machte eine abweisende Bewegung.

»Nein, edle Dame! Ich habe meinen Lohn schon erhalten! Kauft meinen Käse, wenn Ihr wollt, sonst nehme ich nichts an.«

»Ich kaufe deinen ganzen Käse, Kleiner! Und Gott segne dich!«

In die Hand des sprachlosen Schäfers leerte sie ihre Börse. Der Junge trat zurück, sie mit Segenswünschen überhäufend, die sie nicht einmal mehr hörte. Sie wollte allein sein, um die kostbare Botschaft zu lesen … Als der Schäfer verschwunden war, hob sie die Augen zu Saturnin.

»Niemand«, sagte sie, »darf erfahren, wer den Schäfer getroffen hat, niemand in Montsalvy! Und besonders nicht Dame Isabelle!«

»Es war Messire Arnaud, nicht wahr?«

»Ja, Saturnin, er war es! Das Hospital in Calves ist gestern nacht abgebrannt. Er konnte entrinnen, durch welches Wunder auch immer, aber es ist besser, daß sie es nicht erfährt. Nur Donatienne, Sara und Gauthier dürfen es wissen.«

»Seid ohne Furcht. Niemand wird davon erfahren. Für jedermann hier, selbst für den Abt, ist Messire Arnaud in Carlat gestorben. Sie werden weiter daran glauben! Jetzt lasse ich Euch einen Augenblick allein.«

»Danke, Saturnin … Ihr seid gut!«

Er ging auf Zehenspitzen hinaus und schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Cathérine setzte sich auf den blitzsauberen Stein des gelöschten Kamins und öffnete langsam das Pergament. Ihre Hände zitterten vor Erregung und Freude, aber die Tränen brannten ihr derart in den Augen, daß sie zuerst Mühe hatte, die festen Schriftzüge ihres Gatten zu entziffern. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, über die Augen, als wollte sie den Schleier, der sie bedeckte, wegreißen.

»Mein Gott«, sagte sie mit einem nervösen Lachen. »Ich werde es nie lesen können! Ich muß mich beruhigen!«

Sie zwang sich, zwei- oder dreimal tief zu atmen, und trocknete sich die Tränen. Diesmal wurde der Text klar.

»Cathérine«, lautete das Pergament, »ich bin im Gebrauch der Feder nie sehr geschickt gewesen, aber bevor ich für immer verschwinde, wollte ich Dir ein letztes Mal Lebewohl sagen und Dir das Glück wünschen, das Du verdienst. Du hast es gefunden, wie man mir sagt, und mein Wunsch ist belanglos. Bin ich nicht ein Toter, der noch atmet und der – ach! – nicht aufgehört hat zu denken? … Aber ich habe noch die Fähigkeit, Dir zu sagen, daß Du von nun an frei bist, kraft meines eigenen Willens!«

Cathérines Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Ihre Finger krampften sich um das Pergament, doch tapfer fuhr sie in ihrer Lektüre fort. Das Folgende war noch schlimmer:

»Der, den Du auserwählt hast, wird Dir alles geben, was ich Dir nicht habe geben können. Er ist tapfer und Deiner würdig. Du wirst reich, gefeiert und geehrt sein! Doch ich, Cathérine, ich, dem es, obwohl tot, noch nicht gelungen ist, die Liebe in meinem Herzen abzutöten, ich kann nicht mehr in diesem Lande bleiben, in dem Du nicht mehr sein wirst. Was ich ertragen konnte, solange Du in meiner Nähe warst, kann ich nicht mehr, wenn Du Dich entfernst! Ich möchte nicht mehr wie eine Ratte in ihrem Loch krepieren, mich langsam in einer Höhle zum Sterben legen. Ich möchte am hellichten Tage sterben … und allein! Fortunat, der nie aufgehört hat, mit mir in Verbindung zu bleiben, hat mir, bei Gefahr seines Lebens und trotz meiner Gegenwehr, geholfen zu fliehen. Er wird mein letzter Freund gewesen sein …

Denkst Du noch an den Pilger, den wir beide getroffen haben? Er hieß Barnabe, glaube ich, und ich höre noch, wie er uns sagte: ›Erinnert Euch in den schweren Stunden, die Euch bevorstehen, an den alten San-Jago-Pilger …‹ Erinnere Dich, Cathérine! An der Gruft des Apostels hat er seine Sehkraft wiedererlangt … So Gott will, werde ich die verfluchte Krankheit in Galicia los. Dann werde ich unter einem angenommenen Namen dem Heiligen Vater meinen Degen gegen die Ungläubigen anbieten. Sollte jedoch die Gnade der Heilung dem Sünder, der ich bin, verweigert werden, werde ich trotzdem eine Gelegenheit finden, als Mann zu sterben.

Hier trennen sich unsere Wege für immer. Du gehst dem Glück, ich meinem Schicksal entgegen. Leb wohl, Cathérine, meine Kleine …«