Der Weg bog jetzt ab und führte durch ein kleines Gehölz, dessen Zweiggewirr undurchdringlich schien. Der holprige, schwierige, von eingefahrenen uralten Wagenspuren und schlammig gebliebenen Löchern ausgehöhlte Boden konnte nicht oft betreten worden sein. Der Himmel an diesem Tagesende (Cathérine und Gauthier hatten wesentlich mehr Zeit gebraucht, als sie glaubten, um Calves zu erreichen) verschwand hinter dem dichten Gewölbe des Blattwerks. Dieses Gehölz wirkte, als sei es eine von Menschen errichtete Baumschranke zum Schutz vor den Ausgestoßenen der Leprastation … Und dann plötzlich, am Fuß des Abhangs, schwenkten die beiden Reiter um einen steilen Felsen herum und befanden sich wieder am Ufer des Flüßchens.

Über dem hier verengten Tal, in dem nur das melancholische Lied des Wassers zu hören war, lastete eine Atmosphäre beklemmender Trauer. Am Rand des Wäldchens hielt Cathérine brüsk ihr Pferd an. Gauthier tat es ihr nach, und beide verharrten nebeneinander, bewegungslos, verblüfft. Einige Klafter vor ihnen ragten die Umfassungsmauern einer Art Meierei empor … nur die Umfassungsmauern, denn in der Mitte gab es nichts als geschwärzte Mauerreste, verkohlte Balken, einen stehengebliebenen Spitzbogen, der der Eingang der Kapelle gewesen sein mußte. Das große Portal, herausgerissen und in seinen Angeln hängend, gab den Blick auf den Innenhof der Leprastation frei, der voll ausgeglühten Schuttes lag. Einzig das unheilvolle Krächzen der Raben, die am Himmel kurvten, und das Rauschen des Flüßchens störten die Stille.

Cathérine wurde totenblaß, schloß die Augen und schwankte im Sattel, einer Ohnmacht nahe.

»Arnaud ist tot!« stammelte sie. »Es war sein Geist, den ich gestern nacht gesehen habe!«

Mit einem Satz sprang Gauthier zu Boden. Seine starken Arme hoben die junge Frau aus dem Sattel. Besorgt, weil sie erschreckend blaß war und mit den Zähnen klapperte, bettete er sie auf die Wegböschung und machte sich daran, ihr kräftig die erstarrten Hände zu massieren.

»Dame Cathérine! Vorwärts! … Kommt zu Euch! Habt Mut, ich bitte Euch!« flehte er sie an.

Doch ihr war, als entrinne ihr das Leben, als flösse es ihr aus dem Körper wie Wasser, als schwinde mit ihm ihr Bewußtsein. Verzweifelt gab er ihr zwei Ohrfeigen, sich mit aller Gewalt beherrschend, um sie nicht durch ein Übermaß an Kraft zu töten. Die blassen Wangen wurden schnell wieder rot, Cathérine öffnete die Augen und sah ihn verblüfft an. Er lächelte zerknirscht:

»Verzeiht mir, ich hatte keine andere Wahl! Wartet, ich werde Euch ein wenig Wasser holen.«

Die niedergebrannten Gebäude umgehend, lief er zum Fluß, füllte den Becher, den er am Gürtel trug, und kam zurück, um Cathérine mit der Fürsorglichkeit einer Mutter zu trinken zu geben. Die Wirkung trat sofort und jäh ein; die junge Frau brach in Tränen aus.

Vor ihr stehend, ließ er sie weinen, denn er kannte die beruhigende Macht der Tränen. Er sagte kein Wort, tat nichts, um den schrecklichen Tränenstrom aufzuhalten, der aus ihr hervorbrach. Und mählich beruhigte sich Cathérine … Nach einer kurzen Weile hob sie ihr versteinertes Gesicht mit den verweinten Augen zu dem Normannen.

»Wir müssen herausbekommen, was passiert ist!« sagte sie mit sich festigender Stimme.

Gauthier reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie ließ sie nicht los, glücklich, diese Kraft, diese Wärme zu spüren, die sie für das Kommende brauchen würde. Von ihm gestützt, schritt sie zum zerstörten Portal, über dem noch das Wappen der Abtei Saint-Géraud d'Aurillac zu sehen war, zu der die Leprastation gehörte. Aber ihr Herzschlag setzte einmal aus, als sie über die Schwelle trat, über die Arnaud eines Tages geschritten war … für immer!

Noch liefen ihr Tränen über die Wangen, schwer, unversiegbar, aber sie kümmerte sich nicht darum. Die Zerstörung im Innern war vollkommen, total. Es blieben nur angekohlte, verbogene Trümmer, die Cathérine an die Ruinen von Montsalvy erinnerten. Die Feuersbrunst hatte alles verwüstet, ausgenommen einige besonders dicke Mauern, die dem Brand widerstanden hatten. Aber nirgends war mehr ein Dach, keine einzige Tür, nichts als geborstene Steine, über die Gauthier sich beugte.

»Das Feuer muß erst vor kurzem gewütet haben«, sagte er. »Die Steine sind noch warm!«

»Mein Gott!« seufzte Cathérine mit schwacher Stimme. »Wenn ich daran denke, daß er da unten liegt … mein vielgeliebter Mann … meine Liebe!«

Sie ließ sich zwischen den Trümmern auf die Knie fallen und versuchte, die Steine wegzuräumen, an denen sich ihre zitternden, unbeholfenen Hände verletzten. Gauthier hob sie mit Gewalt auf.

»Bleibt nicht hier, Dame Cathérine, kommt mit mir!«

Aber sie sträubte sich mit unerwarteter Heftigkeit.

»Laß mich … ich will hierbleiben! Er ist hier, sage ich dir!«

»Ich glaub's nicht und Ihr auch nicht! … Aber selbst wenn er hier wäre, was würde es Euch nützen, Euch an diesen heißen Steinen die Finger zu verbrennen?«

»Ich sage dir, er ist tot!« rief Cathérine außer sich. »Ich sage dir, daß ich seinen Geist gestern nacht gesehen habe … Er ist mir erschienen, maskiert, im Zimmer meiner Schwiegermutter. Er hat sich über ihr Bett gebeugt, und dann ist er verschwunden!«

»Und er ist nicht zu Euch ins Zimmer getreten? War die Dame Isabelle wach, oder schlief sie?«

»Sie schlief. Sie hat nichts gesehen! Zuerst glaubte ich an einen Traum, aber jetzt weiß ich, daß ich nicht geträumt habe, daß ich den Geist Arnauds gesehen habe …«

Sie begann wieder zu schluchzen. Gauthier packte sie an den Schultern, schüttelte sie heftig und brüllte sie an:

»Und ich sage Euch, daß Ihr keinen Geist gesehen habt! Daß Ihr auch nicht geträumt habt … Ein Geist wäre zu Euch gekommen! Ganz bestimmt wußte Messire Arnaud nichts von Eurer Rückkehr, also hat er gar nicht versucht, sich Euch zu nähern.«

»Was willst du damit sagen?«

Mit einem Schlag zur Ruhe gebracht, blieb Cathérine der Mund offen, und sie starrte Gauthier an, als wäre er plötzlich verrückt geworden.

»Ich will sagen, daß ein Geist alles, was die Lebenden betrifft, weiß. Er hätte sich zu Euch umgewandt. Und dann, wozu die Maske?«

»Du glaubst doch nicht, daß ich Arnaud gesehen haben könnte … Arnaud in Person?«

»Ich weiß nichts! Aber es geschehen seltsame Dinge. Angenommen, Fortunat ist zu Messire Arnaud gegangen und hat ihm gesagt, seine Mutter liege im Sterben! Selbst auf der Schwelle des Todes, hat sie von Leprakranken nichts mehr zu fürchten … Vielleicht hat er sie noch ein letztes Mal sehen wollen, während er nicht zu Euch hinüberging, weil er von Eurer Rückkehr nichts wußte. Fortunat wußte ja auch nichts davon …«

»Wo kann er also jetzt sein? Und was ist hier vorgegangen? Was bedeuten diese Ruinen, diese Stille, diese Einöde?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Gauthier nachdenklich, »aber ich werde versuchen, es herauszubekommen. Und was die Frage betrifft, wo er ist, so habe ich eine Idee, daß Fortunat es uns sagen könnte … Wie er uns vielleicht auch sagen könnte, wo Morgane und Roland geblieben sind!«

Sanft führte er sie aus den Ruinen heraus. Cathérine hängte sich wie ein ängstliches Kind bei ihm ein und sah ihn mit verwunderten Augen an.

»Glaubst du wirklich, was du da sagst?«

»Hab' ich schon etwas gesagt, was ich nicht glaube? Besonders zu Euch?«

Ein zitterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, den Tränen noch so nahe, daß der Normanne sein Herz vor Mitleid schmelzen fühlte. Er liebte sie genug, um seine eigene Liebe zu vergessen und nichts anderes zu wünschen, als sie glücklich zu sehen. Ach, das Schicksal bestrafte sie allzu hart. Wie viele gegenwärtige und kommende Tränen für eine Schwäche, deren sie sich schuldig gemacht hatte!

»Mach mir nicht zuviel Hoffnung«, bat sie ihn. »Siehst du, ich könnte daran sterben …«

»Bleibt stark, wie Ihr es immer gewesen seid. Und bemühen wir uns, es herauszubekommen … Brechen wir auf. Wir werden sicher jemand finden, der wissen wird, was sich zugetragen hat.«

Sie nahmen ihre Pferde und verließen das einsame Tal, kehrten zu den bewohnten Gefilden, zum freieren Himmel zurück … Diesmal ritt Gauthier an der Spitze, nach einer Spur von Leben in der verlassenen Landschaft suchend. Cathérine folgte, den Kopf gesenkt, bemüht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, die gleichermaßen zwischen Hoffnung und Kummer schwankten. Mit einem Schlag war all das, was bislang für sie von Wichtigkeit gewesen war, unwichtig geworden. Nur eins zählte jetzt noch: herauszubekommen, ob Arnaud tot war oder lebte. Denn es konnte für sie keine Ruhe mehr geben, bevor sie sich darüber nicht Gewißheit verschafft hätte.

Als sie das düstere Gehölz hinter sich hatten, hob Gauthier sich in den Steigbügeln, sah sich um und wies dann nach Süden:

»Ich sehe den Rauch eines Bauernhauses auf einer Anhöhe … Von da oben muß man die Dächer des Hospitals sehen können. Dann müßte man auch …«

Es war ein ganz kleines Haus, bescheiden unter seinem verwaschenen Strohdach. Um den Bewohnern keinen Schreck einzujagen, banden Gauthier und Cathérine ihre Pferde an einen Baum und kletterten zu Fuß den steilen Pfad hinauf, der bis zur Tür führte. Das Geräusch ihrer Schritte rief eine alte Bäuerin in gelber Haube auf die Schwelle. Sie mußte sehr alt sein, denn sie war ganz bucklig und stützte sich mit der freien Hand auf einen Kornelkirschstock, aber die Augen, die sie zu den Fremden emporhob, waren jung und durchdringend geblieben.

Cathérine reichte ihr ein Goldstück und fragte, ob sie ihr eine Auskunft geben wolle.

»Gold«, sagte sie, »schönes, gutes Gold! Es ist schon sehr lange her, daß ich das gesehen habe! Was wollt Ihr wissen, mein junger Edelknappe?«

»Wann ist das Hospital abgebrannt?«