»Seit drei Nächten schon wacht sie über unsere Dame. Gewöhnlich schläft sie neben dem kleinen Herrn. Sie ist eingeschlafen …«

Während er sprach, nahm er eine Kerze von einer Truhe, ging leise zu einer draußen neben der Tür brennenden Fackel und zündete die Kerze an der rauchigen Flamme an. Dann kam er zurück, begab sich ans Kopfende des Bettes, in dem der kleine Michel schlief, und hob das zitternde Licht über den Kopf des Kindes. In größtem Erstaunen ließ Cathérine sich auf die Knie fallen und faltete die Hände wie vor dem Tabernakel.

»Mein Gott!« stammelte sie. »Wie schön er ist! Und … wie er ihm schon ähnlich sieht!« fügte sie mit heiserer Stimme hinzu.

Es stimmte. Unter dem dichten Gewirr seiner zerzausten goldenen Locken hatte der kleine Michel schon das klare Profil seines Vaters. Seine runden, rosigen Wangen, auf die die gebogenen Wimpern einen zarten Schatten warfen, waren noch ganz von kindlicher Süße, aber das Naschen hatte etwas Stolzes an sich, und eine eigenwillige Falte zeichnete den fest geschlossenen Mund.

Cathérines Herz schmolz vor Zärtlichkeit, doch sie wagte nicht, sich über den Kleinen zu beugen. Er sah wie ein schlafendes Engelchen aus, und sie fürchtete, daß die geringste Bewegung ihn wecken würde.!

Gauthier, der das Kind gleichfalls mit einer Art Stolz betrachtete, bemerkte es.

»Ihr könnt ihn umarmen«, sagte er lächelnd. »Wenn er einmal schläft, kann neben ihm der Blitz einschlagen. Er zuckt nicht mit der Wimper.«

Darauf beugte sie sich hinunter und drückte die Lippen mit Entzücken auf die kleine, ein wenig feuchte Stirn. Tatsächlich wachte Michel nicht auf, aber ein Lächeln huschte über seinen kleinen, fest zusammengepreßten Mund.

»Mein Kleiner!« flüsterte Cathérine, von Liebe erstickt. »Mein ganz Kleiner!«

Sie hätte ohne weiteres die ganze Nacht neben dem Bett ihres Sohnes kniend und seinen Schlaf bewachend zugebracht, doch aus dem anschließenden Zimmer drang ein Röcheln. Donatienne fuhr aus ihrem Schlummer auf, hastete in den hinteren Teil des Raums und war nicht mehr zu sehen.

»Dame Isabelle muß aufgewacht sein!« flüsterte Gauthier.

»Ich gehe hinein!« sagte Cathérine.

Jetzt drang ein erschütterndes Atemgeräusch, von trockenem Husten unterbrochen, zu ihr heraus. Rasch betrat sie das Zimmer, das kaum größer als eine Mönchszelle und auch kaum weniger kahl war. Auf dem schmalen Bett in einer Ecke lag, sehr abgemagert, Isabelle de Montsalvy. Donatienne beugte sich über sie und versuchte, ihr etwas dampfenden Heilkräutertee aus einer Schale einzuflößen, die sie von einem kleinen Ölkocher genommen hatte.

Aber die alte Frau war unfähig, auch nur einen Schluck hinunterzubringen. Wie sie gealtert und seit ihrer Abreise geschrumpft war, und wie zerbrechlich sie jetzt schien! Ihr Körper wirkte ätherisch, ohne jede Substanz, und im fahlen, völlig blutlosen Gesicht sah man nur noch den eingefallenen Mund, der nach Luft rang, und die zu groß gewordenen Augen.

Donatienne wandte sich mit einem entmutigten Seufzer ab, um die Schale wieder zurückzustellen. Und jetzt sah sie Cathérine. Ihre müden Augen begannen zu strahlen, vor Freude und Tränen gleichermaßen.

»Dame Cathérine!« stammelte sie. »Gott sei gelobt! Ihr kommt zur rechten Zeit!«

Rasch legte Cathérine einen Finger auf die Lippen, um der alten Frau Schweigen zu gebieten, doch diese schüttelte traurig den Kopf.

»Oh, wir können sprechen! Sie hört nichts! Das Fieber ist so stark, daß sie nur im Delirium spricht!«

Tatsächlich drangen einige unzusammenhängende Worte über die pergamentenen Lippen der Kranken, unter denen Cathérine erschüttert ihren und Arnauds Namen unterscheiden konnte … Der heftige Hustenanfall hatte allmählich nachgelassen, doch die Atemzüge blieben schwer und röchelnd. Der Ausdruck der Augen war ein einziges Flehen. In ihrem Delirium schien Isabelle entsetzlich zu leiden, und Cathérine spürte, daß sie der Grund dieses Leidens war.

Sacht nahm sie die brennend heiße Hand, die sich in den rauhen Stoff der Decke krampfte, und drückte ihre Lippen darauf. Dann legte sie sie an ihre Wange, wie sie es früher so oft getan hatte.

»Mutter«, bat sie leise, »Mutter, hört mich! Seht mich an! Ich bin da … bei Euch! Ich bin's, Eure Tochter Cathérine … Cathérine!«

Etwas schien sich in dem leeren, schmerzlichen Blick zu beleben. Der Mund schloß sich, öffnete sich wieder und hauchte:

»Cathérine!«

»Ja!« sagte die junge Frau beharrlich. »Ich bin's … Ich bin da!«

Die Augen drehten sich in ihren Höhlen, ihr Blick schien etwas zu suchen, glitt zu der jungen Frau, die sich über sie beugte, um die abgezehrten Finger zu drücken.

»Es hat keinen Zweck, Dame Cathérine«, murmelte Donatienne betrübt. »Sie ist nicht bei Bewußtsein.«

»Aber doch! Sie kommt zu sich! Mutter! Seht mich an! Erkennt Ihr mich?«

Sie nahm ihren ganzen Willen zusammen, völlig darauf konzentriert, den schweifenden Geist der Kranken zu erreichen, zu fesseln. Sie wünschte so sehr, ihre Kräfte auf diesen erschöpften Körper übertragen zu können, daß sie den Eindruck hatte, ein warmer Strom vereinige ihre Hände. Noch einmal flehte sie:

»Seht mich an! Ich bin Cathérine, Eure Tochter! Die Frau Arnauds!«

Bei der Nennung seines Namens lief ein Schauder über die trockene Haut Isabelles. Ihr Blick, diesmal klar, haftete auf dem ängstlichen Gesicht der jungen Frau.

»Cathérine!« hauchte sie. »Ihr seid zurückgekommen?«

»Ja, Mutter … ich bin zurückgekommen! Und ich werde Euch nicht mehr verlassen … nie mehr!«

Die dunklen Augen der Kranken sahen sie mit einer Mischung von Bangen und Zweifel an.

»Ihr … bleibt hier? Aber … dieser junge Mann … Brézé?«

»Er hat seine Träume für Wirklichkeit gehalten! Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen! Ich bin Cathérine de Montsalvy und bleibe es, Mutter. Ich bin ›seine‹ Frau … Nichts als seine Frau!«

Ein intensiver Ausdruck der Erleichterung breitete sich über die Züge der Kranken. Ihre Hand, die sich an die Cathérines klammerte, wurde weich und gab nach, und ein leises Lächeln öffnete ihre Lippen.

»Gott sei gesegnet!« hauchte sie. »Ich kann in Frieden sterben!«

Einen Augenblick schloß sie die Augen, öffnete sie wieder und sah Cathérine zärtlich an. Durch ein Zeichen gab sie ihr zu verstehen, daß sie sich zu ihr herunterbeugen solle, und flüsterte geheimnisvoll:

»Ich habe ihn wiedergesehen, wißt Ihr …«

»Wen, Mutter?«

»Ihn, meinen Sohn! … Er ist zu mir gekommen! … Er ist immer noch so schön! O ja, so schön!«

Ein heftiger Hustenanfall schnitt ihr brutal das Wort ab. Ihr Gesicht wurde purpurrot, der Blick flackerte. Die arme Frau fiel zurück und kämpfte gegen das Ersticken an. Der Augenblick der Beruhigung war vorüber.

Donatienne näherte sich wieder mit ihrer Tasse:

»Der Bader sagt, wenn sie hustet, soll man ihr einen Absud aus Klatschmohn, getrockneten Malven und Veilchen zu trinken geben, aber es ist nicht leicht …«

Mit Cathérines Hilfe gelang es ihr trotz allem, der Kranken ein wenig von der Flüssigkeit einzuflößen. Der Husten klang weniger hohl, und langsam entspannte sich der verkrampfte Körper, doch die Augen öffneten sich nicht wieder.

»Vielleicht wird sie jetzt ein wenig schlafen«, flüsterte Donatienne. »Legt Euch auch hin, Dame Cathérine. Die lange Reise muß Euch ermüdet haben. Ich werde noch bis gut in den Morgen hinein wach bleiben.«

»Ihr seid erschöpft, Donatienne.«

»Bah! Ich bin rüstig!« sagte die alte Bäuerin mit einem wackeren Lächeln. »Und Euch nun wieder hier zu wissen gibt mir Mut.«

Mit dem Kopf machte Cathérine eine Bewegung zu der Kranken hin, die tatsächlich einzuschlafen schien.

»Ist sie schon lange krank?«

»Seit über einer Woche, gnädigste Dame! Sie hat unbedingt hinübergehen wollen … nach Calves, mit Fortunat! Sie wollte nicht mehr länger von ihrem Sohn getrennt sein … Unterwegs geriet sie in starke Regengüsse, die drei Tage lang ununterbrochen fielen. Trotzdem wollte sie nirgendwo anhalten. Fortunat ist es nicht gelungen, sie zu bewegen, Schutz zu suchen. Durchweicht, erstarrt und mit den Zähnen klappernd kehrte sie heim. In der folgenden Nacht bekam sie hohes Fieber. Seitdem ist die Krankheit nicht besser geworden …«

Mit gerunzelter Stirn hatte Cathérine Donatienne zugehört, ohne sie zu unterbrechen. Die Reue nagte an ihr. Sie verstand die Reaktion Isabelles sehr wohl. In ihrem Mutterherzen hatte sie das Leid, das Cathérine Arnaud angetan hatte, ausgleichen wollen, selbst wenn ihr Sohn nichts davon wußte. Wie hätte er auch in dieser Gruft von einer Leprastation davon erfahren sollen? Machten nicht alle Geräusche der Außenwelt an der Schwelle der lebendig Begrabenen halt, die nur unter der Bedingung geduldet wurden, daß sie sich abseits von allem hielten und sich der Vergessenheit anheimgaben?

Mechanisch fragte Cathérine:

»Wo ist eigentlich Fortunat?«

Gauthier, der in die Betrachtung Michels versunken war, antwortete:

»Heute ist Freitag, Dame Cathérine. Fortunat ist gestern nach Calves aufgebrochen, wie er es jede Woche tut. Nicht ein einziges Mal hat er's versäumt … und er geht stets zu Fuß, aus Demut.«

»Habt ihr denn genug Lebensmittel hinzuschicken?«

»Nein. Manchmal nimmt Fortunat nur ein kleines, rundes Weißbrot oder einen Käse mit und zuweilen sogar überhaupt nichts. Dann setzt er sich auf eine Anhöhe, von der aus man die Krankenstation sehen kann. Dort bleibt er stundenlang und blickt hinüber … Er ist ein seltsamer Bursche, aber ich versichere Euch, Dame Cathérine, ich habe noch niemals solche Treue angetroffen.«