Dreizehntes Kapitel
Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, als Cathérine ihr Zimmer verließ und zum Vieleckturm ging, wo Pierre de Brézé wohnte. Sie hatte eine Migräne vorgetäuscht, um Königin Marie und die anderen nicht in den Obstgarten begleiten zu müssen, wo man einige Stunden die Lieder eines Minnesängers anhören und die Sonne genießen wollte …
Die Sache mit der Migräne war nicht einmal eine Notlüge. Seit dem Morgen preßte ein Eisenring sich um Cathérines Schläfen. Sie hatte entsetzlich schlecht geschlafen, und das Erwachen, spät am Morgen, war höchst unerfreulich gewesen. Sie hatte so oft nach Sara rufen können, wie sie nur wollte – niemand hatte geantwortet. Und als sie sich, beunruhigt, ohne es sich eingestehen zu wollen, endlich entschlossen hatte, die am Abend zuvor so fest verschlossene Tür zu öffnen, hatte sie die kleine Kleiderkammer leer vorgefunden. Niemand war da, nur auf einer Truhe lag, deutlich sichtbar, ein Stück Pergament.
Sie hatte es kaum mit den Fingerspitzen zu berühren gewagt, weil sie sich vor der Botschaft fürchtete, deren Inhalt sie schon erriet. Die wenigen, von Sara in großen, ungelenken Buchstaben hingekritzelten Worte hatten sie kaum überrascht: »Ich kehre nach Montsalvy zurück … Du brauchst mich nicht mehr …«
Der Schmerz, der sie durchzuckt hatte, war so grausam gewesen, daß sie sich mit geschlossenen Augen an die Wand hatte lehnen müssen, um sich zu beruhigen. Aber unter den geschlossenen Lidern waren Tränen hervorgequollen, brennend heiß, drängend … Wie einsam sie sich plötzlich fühlte, wie verlassen … fast mißachtet! Gestern hatte sie den giftigen, von Geringschätzung geladenen Blick des Grafen de Pardiac ertragen müssen. Und nun, an diesem Morgen, war Sara geflohen, als ob mit einem einzigen Schlag das Band, das sie aneinanderkettete, durchschnitten worden wäre … Dieses Band, das seine Wurzeln, wie Cathérine jetzt begriff, tief in ihrem Herzen hatte. Mit diesem Bruch war ein Stück von ihr abgetrennt worden … ein Stück, das sehr wohl die Achtung vor sich selbst sein konnte!
Ihre erste Reaktion war es gewesen, aus dem Zimmer zu stürzen. Sie wollte Sara verfolgen und, wenn nötig, mit Gewalt zurückbringen lassen. Sie mußte am frühen Morgen geflohen sein, bei Öffnung der Schloßportale, konnte also noch keine große Wegstrecke hinter sich gebracht haben. Doch dann besann sich Cathérine. Die Soldaten des Königs einer solchen Frau auf die Spur hetzen wie einem Verbrecher? Das konnte sie ihr nicht antun. Saras Stolz würde es ihr nie verzeihen, und nichts würde sich zwischen ihnen wieder einrenken. Die einzige Lösung war, sich selbst nach ihr auf die Suche zu machen … Sie war dazu entschlossen.
Warum hatte nur in dem Augenblick, als sie sich eben fertig angezogen hatte, ein Page an ihre Tür klopfen müssen, der, das Knie beugend, ihr eine neue Botschaft überbrachte … eine Botschaft diesmal von Pierre?
»Wenn Ihr mich ein wenig liebt, meine Vielgeliebte, dann kommt … kommt mich heute nachmittag besuchen. Ich werde alle wegschicken … Aber kommt! Mein Fieber nach Euch verzehrt mich mehr, als meine Wunde schmerzt. Ich erwarte Euch … Schlagt mir die Bitte nicht ab!«
Die Worte entflammten ihre Augen wie am Abend zuvor der Atem des jungen Mannes ihre Lippen. Ein heftiges Verlangen überkam sie, sofort zu ihm zu eilen und in seinen Armen zu weinen. Sie unterdrückte es, aber der Zauber des Briefchens hatte gewirkt. Cathérine hatte nicht mehr den Wunsch, Sara schleunigst nachzujagen, und bot alle möglichen Vernunftgründe zu ihrer Entschuldigung auf … Nach allem floh ihre alte Freundin nicht ans Ende der Welt, wo sie sie niemals wiederfinden würde. Ihr Ziel war lediglich Montsalvy … Ihre Verstimmung würde sich eines Tages schon wieder einrenken. Und wenn sie Sara nachliefe, würde sich die Gute natürlicherweise sehr wichtig vorkommen, während sie selbst sich unnötig kleiner machte. Dasselbe Gefühl, das sie abends zuvor daran gehindert hatte, an die Tür zu klopfen, hielt sie jetzt zurück, ein Pferd satteln zu lassen.
Um die Wahrheit zu sagen, vermied es Cathérine, sich allzu genau zu prüfen. Unbewußt war sie keineswegs stolz auf sich, aber je mehr ihre wahre Natur protestierte, desto mehr versteifte sie sich in ihre Auflehnung. Das Lächeln Pierres hatte ihr eine Binde vor die Augen gelegt. Er repräsentierte etwas, wovon sie glaubte, daß es ihr nie mehr widerfahren könnte: Liebe, Genuß, das süße Gefühl, sich anbeten zu lassen, in einer Welt ohne Leiden angenehm zu leben, kurz und gut, alles, was zum Erbe der frühen Jugend gehörte. Sie war wie die vom glitzernden Spiegel faszinierte Lerche. Ihre Augen wollten, konnten nichts anderes mehr sehen …
Auf der Schwelle des Turms, in dem Brézé logierte, erwartete sie derselbe Page wie am Morgen, um sie zu seinem Herrn zu führen. Er grüßte sie mit einer tiefen Verbeugung und entledigte sich dann schweigend seines Auftrags. Eine Tür öffnete sich unter seiner Hand, und Cathérine fand sich ein wenig geblendet in einem von den Strahlen der untergehenden Sonne durchfluteten Zimmer, in dem Pierre auf seinem Bett ausgestreckt lag.
»Endlich!« rief er, ihr beide Hände entgegenstreckend, während der Page sich diskret zurückzog und die junge Frau aufs Bett zutrat. »Ich habe schon Stunden auf Euch gewartet!«
»Ich zögerte zu kommen«, murmelte sie, bestürzt, ihn im Bett zu finden. Noch nie war er ihr schöner, anziehender vorgekommen als in diesem Augenblick. Sein kräftiger nackter Oberkörper hob sich von der Steppdecke und den Kopfkissen aus roter Seide ab. Ein Verband lag um seine linke Schulter, aber er schien nicht übermäßig zu leiden.
Sein Gesicht war vielleicht ein wenig blaß, doch seine Augen strahlten. Und wenn das Fieber zweifellos seinen Anteil an der ungewöhnlichen Wärme seiner Hände hatte, die Cathérines Hände hielten, so war es sicherlich nicht die einzige Ursache.
»Ihr zögertet?« fragte er vorwurfsvoll und versuchte, sie zu sich zu ziehen. »Warum?«
Sie widerstand, plötzlich gehemmt. Das Ungewöhnliche ihrer Anwesenheit im Gemach eines Mannes wurde ihr auf einmal bewußt.
»Weil ich gar nicht hiersein dürfte. Bedenkt, was man sagen würde, wenn man mich hier überraschte! Nach allem, was gestern geschehen ist …«
»Nichts ist gestern geschehen. Ich bin eine Treppe hinuntergefallen und habe mir dabei die Schulter aufgeschlagen. Ich habe ein wenig Fieber und bin deshalb auf meinem Zimmer geblieben. Was gibt es Normaleres? Ihr habt mich besucht, barmherzig wie ein Engel, um Euch nach meinem Befinden zu erkundigen. Was gibt es Natürlicheres?«
»Und … Bernard?«
»Ist mit dem König seit heute morgen auf der Wildschweinjagd, wie Ihr zweifellos wißt. Und glaubt Ihr vielleicht, ich lasse mich durch ihn einschüchtern? Setzt Euch neben mich, Ihr seid zu weit weg … Und nehmt vor allem diesen Schleier ab, der Euer entzückendes Gesicht verbirgt.«
Sie gehorchte ihm lächelnd, gerührt über dieses Verlangen eines verwöhnten Kindes, das so sehr von seiner stolz zur Schau getragenen Männlichkeit abstach.
»Da«, sagte sie. »Aber ich bleibe nur einen Augenblick. Der König wird bald zurückkehren und Bernard mit ihm.«
»Ich möchte seinen Namen nicht mehr hören, Cathérine!« rief der junge Mann, rot vor Zorn. »Ihr seid wieder frei, und er hat nichts zwischen uns zu suchen. Er hat Euch unwürdig behandelt. Er wird mir noch Rechenschaft geben müssen! … Süße Freundin«, fügte er zärtlich hinzu, als er sah, wie Cathérines Gesicht sich verfinsterte, »gebt mir das Recht, über Euch zu wachen.«
»Aber … ich hindere Euch ja nicht!« entgegnete Cathérine seufzend. »Wacht über mich, mein Freund … Ich habe es dringend nötig!«
»Und ich ersehne es mit aller Kraft! Ihr habt noch nicht begriffen, wie sehr ich Euch liebe, Cathérine, sonst hättet Ihr mir schon Euer Jawort gegeben.«
Während er sprach, zog er sie unmerklich an sich und drückte ganz zart seine Lippen auf ihre gesenkten Lider. Seine Stimme klang einschläfernd, fast schnurrend.
»Warum warten? Seit Eurer Wiederaufnahme in Gnaden gibt es hier niemand, der nicht erwartet, daß wir unsere Verlobung bekanntgeben. Selbst der König …«
»Der König ist sehr gut. Aber ich könnte nicht, so bald …«
»So bald? Viele Frauen heiraten kaum einen Monat nach dem Tod ihres Gatten wieder. So könnt ihr nicht bleiben, allein der Welt gegenüber, vergebens schön. Ihr braucht einen Degen, einen Verteidiger und einen Vater für Euer Kind.«
Seine Lippen glitten in kleinen schnellen Küssen zu denen der jungen Frau hinunter. Er riß sie leidenschaftlich an sich, und sie schloß unter seinem Kuß die Augen, eingehüllt von einem köstlichen Wohlbefinden. All ihre Traurigkeit war verflogen.
»Sagt, was Ihr gern wollt, meine Liebe«, bat er zärtlich. »Laßt mich Euch zu der Meinen machen und allen die Stirn bieten! Sagt ja, Cathérine, meine Kleine …«
Das zärtliche Wort durchbrach den Zauberkreis, in dem Cathérine sich glücklich hatte gehenlassen. Meine Kleine! So hatte Arnaud sie genannt … und mit welcher Liebe! Sie glaubte noch, die Stimme ihres Gatten zu hören, wenn er ihr diese Worte ins Ohr flüsterte. Cathérine, meine Kleine! Niemand konnte es sagen wie er … Mit plötzlich feuchten Augen, aber trockenen Lippen stammelte sie.
»Nein, es ist unmöglich!«
Sie riß sich von ihm los, zwang ihn, seine Arme von ihr zu lösen, die sie einen Augenblick zuvor so fest gedrückt hatten. Er klagte mit einem Anflug von Gereiztheit:
»Aber warum unmöglich? Warum nicht? Es würde niemand überraschen, das habe ich Euch schon gesagt! Nicht einmal Eure Familie! Selbst die Dame de Montsalvy erwartet, daß Ihr meine Frau werdet. Sie versteht, daß Ihr nicht allein bleiben könnt …«
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