»Ich verlasse Euch jetzt. Was wollt Ihr mit ihr machen?« fragte sie.

Er bückte sich, lud sich das wimmernde Bündel auf die Schulter und sah Cathérine dann gerade ins Gesicht:

»Das müßt Ihr entscheiden! Es stimmt, dieses Recht stand Euch zu. Brézé hat mir gesagt … Ich wollte sie zu ihrem Mann schicken, aber ich werde sie im tiefsten Verlies für immer verschwinden lassen, wenn das Euer Wunsch ist. Das ist alles, was sie verdient!«

Die junge Frau schüttelte den Kopf, plötzlich ausgepumpt und kraftlos.

»Nein, laßt sie leben … Laßt beide leben, wie sie jetzt sind, da Gott sein Richterwort gesprochen und nicht gewollt hat, daß sie durch unsere Hand sterben! Sie sollen zusammen leben, einer mit dem anderen, mit der Pest ihrer Seelen und dem Grauen darüber, was aus ihnen geworden ist. Sie ist entstellt … er bewegungsunfähig durch sein Fett, vielfach verwundet. Vielleicht wird er nicht mehr genesen … Laßt sie sich selbst ihre Hölle bauen! Die Welt mag sie vergessen. Ich bin gerächt!«

Ihre angespannten Nerven ließen plötzlich nach. Sie packte den Arm Brézés, klammerte sich an ihn und bat:

»Führt mich fort, Pierre! Führt mich von hier fort!«

»Wollt Ihr zu den anderen nach Montrésor?« fragte er sanft.

Sie machte ein verneinendes Zeichen.

»Ich möchte sie nicht mehr sehen! Beendet Eure Aufgabe ohne mich. Die meine ist getan … Ich kehre in die Herberge zurück.«

Doch in dem Augenblick, in dem sie das verwüstete Zimmer verlassen wollte, bemerkte sie auf den Fliesen des Bodens den schwärzen, unheilvoll funkelnden Diamanten Garins. Sie streckte die Hand aus und ergriff ihn. Der verfluchte Stein schmiegte sich wie ein Haustier in ihre Handfläche.

»Er gehört mir!« murmelte sie. »Ich nehme ihn zurück …«

Brézés Arm schlang sich um ihre fröstelnden Schultern und drückte sie sanft an sich.

»Es heißt, daß dieses wunderbare Juwel verflucht sei und Unglück bringe. Ihr habt nichts damit zu tun, Cathérine.«

Sie blickte einen Augenblick auf den unheilvollen Stein, der dunkel blitzend auf ihrer Hand lag.

»Es ist wahr«, sagte sie ernst. »Dieser Stein bringt Tod und Unglück. Doch die, der ich ihn anbieten werde, hat die Macht, das Unglück abzuwenden und den Tod zum Rückzug zu zwingen …«

Von dem jungen Mann gestützt, verließ Cathérine den Schloßturm von Coudray. Auf dem Hof blieb sie stehen, hob die Augen zum Firmament empor. Die Sterne waren erloschen. Nur einer war geblieben, ein außergewöhnlich funkelnder, und im Osten zeichnete sich ein schmaler, hellerer Streifen ab. Die Frische der Morgendämmerung machte sich bemerkbar. Pierre legte Cathérine mit zärtlicher Fürsorge einen Mantel um.

»Kommt!« bat er sie. »Ihr werdet Euch noch erkälten.«

Aber sie rührte sich nicht, hielt ihn im Gegenteil zurück, ohne die Augen vom Firmament zu wenden.

»Gleich wird der Tag geboren«, murmelte sie, »ein neuer Tag! Für mich ist alles beendet, die Seite ist umgeschlagen!«

»Alles kann wieder neu beginnen, Cathérine«, flüsterte er inbrünstig. »Dieser Tag könnte der erste eines neuen Lebens sein, voller Freude und Sonne, wenn Ihr nur wollt! Cathérine, sagt mir …«

Sanft, aber fest verschloß sie ihm mit der Hand den Mund, lächelte traurig in das schöne, bangende Gesicht, das sich ihr zuneigte.

»Nein, Pierre, sprecht nicht weiter … Ich bin müde, sterbensmüde. Bringt mich nur zurück, ohne zu sprechen.«

Mit kleinen Schritten, aneinandergedrückt wie zwei Liebende, stiegen sie wieder in die schlafende Stadt hinunter.

Zwölftes Kapitel

Nachdem Cathérine die hohe Pforte mit den eisenbeschlagenen Flügeltüren durchschritten hatte, sah sie den riesigen Hof des Schlosses von Chinon vor sich. Schottische Bogenschützen, in zwei Reihen angetreten, bildeten Spalier, unbeweglich wie Statuen, nur die Reiherfedern ihrer Mützen bewegten sich leise im Abendwind. Auf der achtzehnstufigen Freitreppe, die zum Großen Saal führte, wo der König sie erwartete, standen zehn Herolde, die Trompeten an der Hüfte …

Cathérines Herz hämmerte dumpf in ihrer Brust. Es waren jetzt zehn Tage vergangen, daß der kühne Handstreich gegen den Großkämmerer gelungen war. Als Gefangener in Montrésor erwartete La Trémoille die unnachgiebigen Bedingungen für sein gerettetes Leben: ein ungeheures Lösegeld, Rücktritt von allen seinen Ämtern, zukünftiger Zwangsaufenthalt in seinem Schloß Sully, dem einzigen, das man ihm ließ. Aber sie wollte das Ungeheuer von einem Tyrannen vergessen, der sie und die Montsalvys so grausam bedrückt hatte. Heute war die Stunde ihres Triumphs. Königin Yolande hatte sie wissen lassen, daß der König sie an diesem Abend des 15. Juni in großer Gala empfangen werde.

Diesen Augenblick hatte sie ungeduldig in Meister Agnelets Herberge erwartet, nun nicht mehr im Verborgenen wie zuvor, sondern frei, nach ihrem Belieben auszugehen oder Besucher zu empfangen. Keine Gefahr bedrohte sie mehr … Hatte sie nicht am Tage nach dem Sturz La Trémoilles Gilles de Rais in aller Herrgottsfrühe Chinon mit seinen Leuten verlassen sehen? Ein fast heimlicher Aufbruch war es gewesen. Noch immer war die alte Arroganz nicht vom Gesicht des Marschalls gewichen, aber es war nichtsdestoweniger ein Besiegter, der sich da auf seine Güter bei Angers zurückzog. Ein trübes Lächeln war über ihre Lippen gehuscht, als sie ihn vorüberziehen sah. »Eines Tages«, hatte sie zwischen den Zähnen gemurmelt, »wirst auch du für das büßen, was du mir angetan hast! Ich werde dich nicht vergessen!«

Als sie sich der Freitreppe näherte, setzten die Herolde die langen silbernen Trompeten an die Lippen, deren schmetternde Klänge die Luft erfüllten und Cathérine vor Erregung beben ließen. Instinktiv suchte sie hinter sich die Gestalt Tristan l'Hermites, der ihr respektvoll im Abstand von drei Schritten folgte. Indessen mischte sich eine leise Bitternis in die Freude dieses Abends … Sie hatte gehofft, in dieser so wichtigen Minute Pierre de Brézé bei sich zu haben. Aber seit er mit ihr den Schloßturm von Coudray verlassen und sie nach Hause gebracht hatte, war er wie vom Erdboden verschwunden. Niemand hatte ihr sagen können, was aus ihm geworden war. Nur Tristan hatte geglaubt, ihn gesehen zu haben, wie er noch am selben Tage in gestrecktem Galopp aus Chinon hinausgeritten war. Niemand hatte ihn wiedergesehen …

Die Trompeten schwiegen, doch als Cathérine langsam die Stufen der Freitreppe hinaufschritt, öffneten sich die hohen Türflügel des strahlend erleuchteten Großen Saals. Hundert Fackeln brannten in dem riesigen Raum, dessen über sechs Meter hohe Wände vollständig mit Gobelins bekleidet waren. Frische Blüten bedeckten die Fliesen bis hin zum großen Kamin im Hintergrund. Eine farbenprächtige Menge war dort versammelt, die still wurde, als die Tür sich öffnete. Nahe dem Kamin bemerkte Cathérine den hohen, von einem blau-goldenen Baldachin gekrönten königlichen Sessel, in dem der König saß, neben ihm stehend der junge Mann, den sie in der Nacht von Amboise gesehen hatte, Charles d'Anjou, strahlend vor Jugend in seinem golddurchwirkten Kostüm. In einer Fensternische sah sie die Königin, von ihren Damen umgeben, aber ihr Blick kehrte zu einem bejahrten, hochgewachsenen Mann zurück, der sie, auf einen weißen Stab gestützt, am Saaleingang erwartete: der Graf de Vendôme, Zeremonienmeister und Erster Verwalter des königlichen Hauses.

Schon verneigte er sich vor ihr und bot ihr die Hand, um sie zum Thron zu führen, als eine weibliche Gestalt in prächtiger Trauerkleidung schnell zwischen den sich verneigenden Gruppen der Herren und Damen vorschritt. Von Bewegung ergriffen, erkannte Cathérine die Königin Yolande. Diese wandte sich liebenswürdig an Louis de Vendôme, der schon das Knie beugte.

»Wenn es Euch recht ist, Vetter, werde ich selbst Madame de Montsalvy zum König führen!« sagte sie.

»Das Protokoll hat zu schweigen, wenn die Königin befiehlt!« erwiderte der Großmeister lächelnd.

Yolande reichte Cathérine, die in einen tiefen Hofknicks vor ihr versank, die Hand. »Kommt, meine Kleine!«

Seite an Seite, inmitten tiefer Stille, schritten die beiden Frauen durch die ganze Länge des Saals, die eine imposant und schön unter der hohen Krone, die ihre dunklen Flechten wie eine Aureole umrahmte, die andere von Schönheit strahlend trotz der Strenge ihrer düsteren Kleidung. Beide in Trauer, doch Yolandes Kleidung war aus Samt und Seide, während Cathérine sich nur feine Wolle erlaubt und ihren blonden Kopf in einen Trauerflor gehüllt hatte. Je mehr sie sich dem Thron näherten, desto mehr schnürte ihr die Feierlichkeit des Augenblicks das Herz zusammen. Die dürftige Gestalt des Königs in dunkelblauem, diskret mit Gold verziertem Samtgewand wuchs und wuchs, und Cathérine dachte schmerzlich, daß die freundschaftliche Hand, die sie führte, die Arnauds hätte sein müssen. Ohne das verfluchte Leiden wären sie diese Triumphstraße zusammen entlanggeschritten und bestimmt nicht in Trauerkleidung. Ihm, ihrer verlorenen Liebe, widmete sie diese Minute, denn ihm gehörte sie. In den Tiefen ihrer Erinnerung sah sie ihn wieder wie eine vom Blitz gefällte Eiche vor den Trümmern seines zerstörten Heims, das auf Befehl dieses selben Königs in Brand gesteckt worden war, der sie jetzt erwartete. Sie glaubte, das Schluchzen dieses starken und heldenmütigen Mannes noch zu hören, und mußte die Augen schließen, um ihre Tränen zurückzuhalten.

Doch plötzlich, aus ihren qualvollen Träumen gerissen, wurde ihr die unglaubliche Ehre bewußt, die Yolande ihr erwies, denn auf ihrem Wege verneigten sich die Herren und Damen oder beugten das Knie, und die der Königin dargebrachte Huldigung strahlte auch auf ihre junge Begleiterin aus. Sie sah, wie selbst Prinzen von königlichem Geblüt sich verbeugten, und als sie an den Stufen des Throns angelangt waren, erhob sich der König. Seine braunen, glanzlosen Augen richteten sich mit Interesse auf Cathérines Antlitz. Die junge Frau fühlte, daß sie errötete. So stiefmütterlich Karl VII. von der Natur auch behandelt worden war, strömten seine schwächliche Gestalt und sein unschönes Gesicht dennoch Majestät aus. Er war eben der König, jener König, dem man, wenn man Montsalvy hieß, uneingeschränkt sein Blut, sein Leben und sein Vermögen zu Füßen legte. Ohne den Blick zu senken, den sie fest auf den des Herrschers gerichtet hatte, beugte Cathérine langsam das Knie, während die Stimme der Königin Yolande sich erhob.