Zweiter Teil
Die Rache
Fünftes Kapitel
In der tiefen Nische eines Fensters des Schlosses von Angers stehend, blickte Cathérine zerstreut hinaus. Sie war nach den Reisetagen so müde, daß sie kaum mehr fähig war, sich für ihre Umgebung zu interessieren. Als sie vor kurzem mit Sara und Bruder Etienne die Loire erreicht hatte, wäre sie um ein Haar vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen, von den überstandenen Schrecken gar nicht zu reden. Zwölf Tage lang durch das von Elend und Hungersnot verwüstete Limousin, durch die Mark und Poitou, wo die blutigen Zeichen der englischen Unterdrückung überall frisch und unheilverkündend zu sehen waren, hatten die drei Reisenden um ihr Leben gerungen, gegen die Kälte, gegen die Menschen, selbst gegen die Wölfe, die bis zu den Toren der Scheunen vordrangen, welche sehr oft die einzige Zuflucht bildeten. Essen war ein Problem geworden, und jede Mahlzeit, von Tag zu Tag seltener, war ein schwieriges Abenteuer. Ohne die Abteien, die sich ihnen dank der Kutte des Franziskaners oder dem Geleitbrief der Königin Yolande öffneten, wären Cathérine und ihre Gefährten ohne Zweifel elendiglich Hungers gestorben und hätten den königlichen Strom nie erreicht. Naiverweise hatte sich die junge Frau vorgestellt, wenn sie erst einmal das Herzogtum Anjou, Yolandes Lieblingsland, erreiche, werde sich der ganze Alptraum in Rauch auflösen. Aber es war eher noch schlimmer gekommen!
Unter dem sintflutartigen Regen, der sie an den Grenzen des Herzogtums empfangen hatte, waren Cathérine und ihre Freunde durch die im vergangenen Herbst von den Landsknechten Villa-Andrados verwüsteten Ländereien geritten. Sie hatten derart heimgesuchte Dörfer gesehen, daß keine Seele mehr in ihnen übriggeblieben war, um die Leichen zu bestatten; erst der Winter hatte die Geschäfte des Totengräbers besorgt. Sie hatten herausgerissene Rebstöcke gesehen, Felder, auf denen in diesem Frühjahr nicht einmal mehr Gras wachsen würde, aufgebrochene Kirchen, niedergebrannte Abteien und Burgen, schwarze Einöden, da und dort von krummen Pfählen, die einstmals Bäume gewesen waren, durchsetzt; sie hatten die Reste der verbrannten Wälder und die Skelette der am Wegrand verendeten Tiere gesehen, so, wie die Wölfe sie zurückgelassen hatten.
Sie hatten, in Höhlen geflüchtet, wohin Angst und bittere Not sie trieben, Männer, Frauen, Kinder gesehen, die viel eher wilden Tieren als menschlichen Wesen ähnelten und vor denen sie hatten fliehen müssen. Für diese Elenden war jeder Reisende eine mögliche Beute. Eines Abends waren sie aus den Klauen einer dieser Horden mit knapper Not durch die Polizisten der Herzogin-Königin gerettet worden, die ein mit Proviant beladenes Fuhrwerk eskortierten, das der schwer geprüften Bevölkerung Hilfe brachte.
Als endlich die wie geschlossene Schanzen befestigte Ponts-de-Ce mit ihren vier Brücken, die drei Inseln und die Burgfeste verbanden, sich vor ihnen erhoben hatten, konnte sich Bruder Etienne trotz seines Muts und seiner Selbstbeherrschung nicht enthalten zu murmeln:
»Endlich am Ziel!«
Auf Grund seines Geleitbriefs konnten sie ohne die geringste Schwierigkeit passieren, und bald hatten sich die mächtigen Mauertore von Angers zu ihrer großen Erleichterung hinter ihnen geschlossen. Doch wenn die herzogliche Residenz auch die Verheerungen des Kastiliers nicht zu erdulden gehabt hatte, wenn das Elend des Landes in dieser reichen und gut verteidigten Stadt auch nicht so grausam empfunden worden war, waren deren Auswirkungen doch von den ernsten Gesichtern und der mißtrauischen Haltung der Bevölkerung abzulesen. Man sah nur verschlossene Mienen, Trauerkleidung, und die normale Geschäftigkeit einer blühenden Stadt herrschte nicht in den stillen Straßen, in denen man nur leise wie in einer Kirche sprach. Indessen machte alles den Eindruck von Energie und Ordnung. Keine Bettler, keine betrunkenen Soldaten, keine mannstollen Mädchen! Diese zur Lebenslust wie geschaffene Stadt mit ihren Gärten, ihren blauen Dächern und weißen Häusern hatte sich in eine stets wachsame Festung verwandelt. Selbst die Flüchtlinge, die sie wie eine Henne, die ihre junge Brut unter ihrem Gefieder versammelt, aufgenommen hatte, waren so in der Stadt untergebracht worden, daß sie die Ordnung und Verteidigung nicht störten. Alles zeigte hier deutlich, daß Yolande von Anjou zu regieren, zu helfen und sich zu schlagen verstand.
Das riesige Schloß, das seine schwarzgrauen Türme aus Granit und Schiefer, um seinen kolossalen Wehrturm gruppiert, in der Maine spiegelte, verstärkte diesen Eindruck. Ein Wald von blauen, wie Stahl glänzenden Spitztürmchen, eine Unzahl von Glockentürmen, Wehrgänge und vergoldete Wetterfahnen krönten es. Überall auf den Zinnen zeigten sich Bewaffnete mit Speeren, Armbrüsten oder Sicheln, und ganz oben auf dem Burgturm knatterte eine riesige Standarte in dem mit Regen geladenen, vom Meer her wehenden Wind. Blau, purpur, weiß und gold, trug diese Fahne die Kreuze Jerusalems, das Wappen von Sizilien, die Lilien Anjous und die Streifen Aragons: die Wappen der Herzogin-Königin, die man goldbekränzt und in den Händen eines Engels über dem Stadttor wiederfand.
In Angers konnte Bruder Etienne in der Stadt und im Schloß herumgehen, wie es ihm gefiel, und es fehlte nur noch, daß ihm die Wachen Ehrenbezeigungen erwiesen. Cathérine konnte den riesigen Hof nur durch einen Regenvorhang sehen, nachdem sie die tiefen Gräben überquert hatte, und außerdem schwamm ihr unter der von Wasser triefenden Kapuze vor Müdigkeit alles vor den Augen. Im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als ein Bett, ein richtiges Bett mit Laken, um ihren Körper ausstrecken zu können, der von den Nächten auf Felsen und der nackten Erde zerschunden war. Aber zuerst mußte sie sich Madame Yolande präsentieren. Bruder Etienne ließ seine beiden Gefährtinnen in einem großen Saal des herzoglichen Quartiers zurück, dessen hohe Fenster auf die mit schweren Ketten gesperrte Maine und die Unterstadt hinausblickten. Sara ließ sich sofort auf eine Bank vor dem Kamin fallen und schlief im Nu ein. Cathérine blieb stehen. Alle ihre Muskeln schmerzten so sehr, daß sie fürchtete, nicht mehr aufstehen zu können, wenn sie sich setzte …
Sie brauchte übrigens nicht lange zu warten. Nach einigen Minuten erschien der Mönch wieder.
»Kommt, mein Kind, die Königin erwartet Euch!«
Einen letzten Blick auf Sara werfend, die sich nicht gerührt hatte, folgte Cathérine Bruder Etienne. Er führte sie durch eine niedrige Pforte, vor der zwei mit Hellebarden bewaffnete Posten unbeweglich wie Statuen auf gespreizten Beinen standen. Dahinter öffnete sich ein großer Raum, dessen Wände völlig mit Tapisserien bespannt waren. Ein riesiger, aus Stein gehauener Kamin, in dem ein ganzer Baumstamm brannte, erhellte ihn zusammen mit einer Anzahl großer gelber Kerzen, die in einem bronzenen Dreifuß staken. Ein kolossales Bett, die zurückgeschlagenen Vorhänge aus purpurnem Samt mit den Lilien Frankreichs bestickt, nahm ein gutes Viertel des an sich schon respektablen Raumes ein. In der Ecke gegenüber saß eine Ehrendame und strickte, ohne beim Eintritt Cathérines den Kopf zu heben. Auch diese hatte keinen Blick für sie übrig. Vom Augenblick ihres Eintritts an sah sie nur die Königin!
In einem großen Ebenholzsessel sitzend, von wärmenden Kissen umgeben, die schmalen Füße fest auf einen Heizschemel gesetzt, sah Yolande ihr entgegen, und Cathérines Herz krampfte sich zusammen, als sie die Verwüstungen bemerkte, mit denen die letzten drei Jahre das feine und edle Gesicht der Herzogin-Königin gezeichnet hatten. Die schwarzen Haare, die unter der strengen Witwenhaube zum Vorschein kamen, waren grau geworden, ihre Züge waren eingefallen, der matte Teint war gelblich wie Pergament. Die Monate des unaufhörlichen Kampfes gegen den bösen Geist Frankreichs und gegen die englischen und burgundischen Feinde lasteten schwer auf den Schultern Yolandes. Die Gefangenschaft ihres Sohns, des Herzogs René de Bar, der in der Schlacht von Bugnéville in die Hände Philippes von Burgund gefallen war, war für die Mutter ein schrecklicher Schlag gewesen. Mit vierundfünfzig Jahren war die Königin der vier Königreiche eine alte Frau. Nur ihre herrlichen schwarzen Augen, gebieterisch und lebhaft, hüteten die Flamme der Jugend. Der abgezehrte Körper verlor sich in den Wogen des schwarzen Kleides und in den Kissen, in die er sich drückte.
Doch als Cathérine vor ihr niederkniete, lächelte Yolande ihr zu und gewann mit einem Schlag ihren Charme wieder. Sie reichte der jungen Frau die weiße Hand, die noch immer vollkommen war.
»Mein Kind«, sagte sie sanft, »da seid Ihr endlich! Ich wünsche Euch schon so lange wiederzusehen!«
Tiefe Ergriffenheit bemächtigte sich Cathérines. Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, an diesem Ort zu sein, zu Füßen der einzigen Frau in der Umgebung des Königs, zu der sie Vertrauen hatte, hatte sich gesehnt, der Königin von Sizilien ihre flehenden Hände entgegenzustrecken und Hilfe und Beistand von ihr zu erwarten, daß die endliche Erfüllung sie unfähig machte zu antworten. Das Gesicht in den zitternden Händen vergrabend, brach sie in Schluchzen aus.
Einen Augenblick betrachtete Yolande die vor ihr kauernde schmale Gestalt in ihrer abgetragenen Kleidung. Auch sie hatte die Müdigkeit in dem entzückenden Gesicht, die Verzweiflung in den großen veilchenblauen Augen, den ganzen Schmerz, den jeder Zug Cathérines, jede ihrer Bewegungen verrieten, wohl bemerkt. Dann stand sie mit einem Ausruf des Mitleids auf, nahm die junge Frau in die Arme, und wie es auch die bescheidene Sara getan hätte, barg sie das süße, in Tränen gebadete Gesicht mütterlich an ihrer Schulter.
»Weint, meine Kleine«, murmelte sie, »weint nur! Die Tränen lindern den Schmerz.«
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