»Ohne Schwierigkeiten?«

»Ein Goldstück vermag viel. Cathérine, und zufällig hat der junge Esperat einen gesunden Sinn fürs Kommerzielle. In dem Wunsch, seinem Vater einen guten Kunden zu erhalten, hat er gar keine Schwierigkeiten gemacht, mich über die Befehle, die er für den Tagesanbruch erhalten hat, ins Bild zu setzen.«

Cathérine hatte ihr Kleid nun geschnürt und schüttelte jetzt Sara, die sich schwer wecken ließ.

»Es ist sehr hübsch, so gut unterrichtet zu sein«, murrte sie. »Aber da wir keine Vogelflügel haben, sehe ich nicht, wie wir aus einer mit hohen Mauern umgebenen und mit schweren, wohlverschlossenen und bewachten Toren versehenen Stadt hinauskommen sollen. Wir sitzen in einer Mausefalle, denn die Stadt scheint mir zu klein, als daß man sich in ihr verstecken könnte.«

»Trotzdem werden wir hinauskommen … jedenfalls hoffe ich's. Beeilt Euch, Cathérine. Bruder Etienne muß schon bei den Pferden sein.«

Cathérine schlug die großen Augen auf und sah Jacques an, als wäre er plötzlich verrückt geworden.

»Wollt Ihr etwa zu Pferde fort? Ihr fürchtet Euch wahrhaftig vor nichts. Ein Pferd macht doch Geräusche. Und nun erst vier Pferde!«

Ein flüchtiges Lächeln erhellte das ernste Gesicht des Pelzhändlers. Seine Hand legte sich einen kurzen Augenblick auf Cathérines Schulter und drückte sie.

»Wollt Ihr nicht versuchen, mir Vertrauen entgegenzubringen, meine Freundin? Ich kann natürlich keinen Eid leisten, daß der Schritt, zu dem ich Euch überrede, richtig ist. Ich sage nur, daß ich mein Bestes tun werde. Aber genug der Worte! Kommt!«

Im Nu machten die beiden Frauen sich fertig. Die Gefahr witternd, beeilte sich Sara, ohne unnütze Fragen zu stellen. Vorsichtig Jacques Coeur folgend, mühten sie sich mit der abgetretenen Treppe ab, setzten die Füße so nahe wie möglich am Geländer auf, um zu vermeiden, daß ihre Schritte zu hören waren. Die Stille war so tief, daß schon das Geräusch ihres Atems sie in Schrecken versetzte. Sie erreichten unbehindert das Erdgeschoß. Jacques Coeur, der Cathérine an der Hand hielt, zog sie schnell quer durch die Gaststube zur Hintertür der Herberge. Dort genügte es, darauf zu achten, nicht an die Bank oder den Tisch zu stoßen, denn die steinernen Fliesen des Bodens ächzten nicht. Als der Pelzhändler aber die Hand auf die Klinke legte, hielt ein trockenes Knacken ihn zurück und veranlaßte ihn und seine Begleiterinnen, sich mit klopfenden Herzen an die Wand zu pressen.

Es war nur eine Lächerlichkeit. Die Dienstmagd hatte die Glut mit Asche bedeckt, um das Feuer am Morgen nicht erst wieder anzünden zu müssen, und ein glimmendes Holzscheit mußte geborsten sein. Jacques atmete erleichtert auf, während Cathérine einen Seufzer ausstieß. Sie tauschten einen Blick und ein ziemlich zitterndes Lächeln. Langsam, Zoll um Zoll, öffnete sich die Kastanienholztür. Jacques blies seine Kerze aus, stellte sie auf den Boden, zog Cathérine hinter sich her, und Sara schloß die Tür wieder. Unter dem Wetterdach ihnen gegenüber drang ein Lichtschimmer aus der Stalltür, dem sie zustrebten.

»Wir sind's, Pater!« flüsterte Jacques.

Bruder Etienne war tatsächlich im Stall an der Arbeit. Mit Hilfe von Lappen, die er in der Küche des Gastwirts hatte entwenden können, umwickelte er sorgfältig die Hufe der Pferde, und das mit solcher Ruhe, als läse er sein Brevier. Jacques und Sara halfen ihm dabei. Nach einigen Augenblicken war alles für den Aufbruch fertig, und während Cathérine eiligst den Torweg öffnete, führten die drei anderen, den Pferden die Nüstern zuhaltend, eins nach dem anderen so lautlos wie möglich auf die Straße. Diese verlief auf die Kirche Sainte-Croix zu. Von dort zog sich eine Art Marktplatz zum Bergfried und zum Schloß hinauf, dessen vierschrötige Umrisse sich vom dunklen Himmel abhoben. Cathérine raffte ihren Mantel um den Hals zusammen. Der Wind, der von der Ebene her blies, war scharf, trocken und schneidend. Kein Licht durchdrang die Nacht, ausgenommen bei der Zugbrücke des Schlosses oben, wo ein Feuer in einer Eisenpfanne wie ein roter Stern glänzte. Der steinerne Wasserfall der Häuser schien der kunstlosen Festung zu entspringen, deren zackige Krone die spitzgiebligen Dächer beherrschte, die sich eins aufs andere stützten. Weiter unten, vor der Kirche, erhob sich eine Art Turm aus fensterlosen Mauern.

»Das Gefängnis!« sagte Jacques Coeur nur, als ob er den Mut Cathérines stärken wollte. »Folgt mir. Wir müssen zum Schloß hinauf.«

»Zum Schloß?« fragte Cathérine wie ein Echo.

»Natürlich. Justin Espérât erwartet uns dort an der Umfassungsmauer. Da oben, dem Plateau zu, geht nämlich die Mauer des Kastells in die Stadtmauer über.«

»Und dann? Ich begreife immer noch nichts.«

»Ihr werdet schon begreifen. Der Himmel ist offenbar mit uns. Der Frost war in diesem Winter so stark, daß Steine gesprungen sind und in der Mauer sich eine Bresche geöffnet hat. Natürlich wird diese Bresche bewacht, bis das Ende der Frostperiode die Ausbesserung gestattet. Und es trifft sich gut, daß Espérât von der ersten Morgenstunde an dort Wache hat.«

Diesmal schwieg Cathérine. Sie hatte nichts mehr einzuwenden. Und dann war der Aufstieg mühsam, und je länger man stieg, desto mehr erschwerte die Kälte das Atmen. Zudem mußten sie die Tiere fest am Zügel halten, damit sie nicht ausglitten.

Bald wurden die Schatten dichter. Sie folgten der Fassade des Schlosses. Die große Zugbrücke war hochgezogen, doch die des Ausfalltors war an Ort und Stelle. Ein Soldat stand Wache, schwer auf seine Lanze gestützt. Dort brannte auch die Feuerpfanne. Jacques Coeur hob die Hand, um Halt zu gebieten, und näherte sich Cathérine.

»Wir müssen fast direkt vor der Nase des Postens vorbei. Dafür gibt es nur ein Mittel: ihn beschäftigen!« flüsterte er.

»Aber wie?«

»Ich glaube, das geht Bruder Etienne an. Unglaublich, was man mit einer Franziskanerkutte alles anstellen kann!«

Ohne Zweifel wollte Cathérine um weitere Erklärungen bitten, doch der Mönch reichte Jacques Coeur bereits die Zügel seines Pferdes.

»Laßt mich machen! Paßt nur den richtigen Augenblick ab, und macht sowenig Lärm wie möglich.«

Der Mönch streifte seine Kapuze wieder über den Kopf, schob die Hände in seine Ärmel und machte sich beherzt auf den Weg, dem Lichtklecks entgegen, in dem der auf seine Lanze gestützte Soldat friedlich döste. Gedeckt hinter ihrer Strebemauer, hielten die anderen den Atem an. Das Geräusch der Schritte des Mönchs hatte den Soldaten aufgeschreckt. Hastig richtete er sich auf.

»Wer ist da?« fragte er mit vor Müdigkeit heiserer Stimme. »Was wollt Ihr, Pater?«

»Ich bin Pater Ambrosius vom Kloster Saint-Jean«, log der Kapuziner mit prächtiger Sicherheit. »Ich komme, um dem im Sterben liegenden Mann die Sakramente zu geben.«

»Jemand liegt im Sterben?« fragte der Soldat erstaunt. »Wer soll denn das sein?«

»Wie kann ich das wissen? Einer von euch kam und bat um einen Priester, der die Beichte abnehmen soll. Mehr hat man mir nicht gesagt!«

Der Posten schob seinen Helm zurück und kratzte sich den Kopf. Offensichtlich wußte er nicht, wozu er sich entschließen sollte. Schließlich schulterte er seine Waffe.

»Ich hab' diesbezüglich keine Befehle, Pater. Folglich kann ich's auch nicht auf mich nehmen, Euch Einlaß zu gewähren. Geduldet Euch einen Augenblick!«

»Beeilt Euch, mein Sohn!« sagte Bruder Etienne mürrisch. »Der Wind ist schneidend!«

Der Mann verschwand unter dem niedrigen Spitzbogen des Ausfalltors. Er ging zur Wachstube, um Instruktionen einzuholen.

»Jetzt!« flüsterte Jacques Coeur.

Sie verließen ihre Deckung und überquerten schnell das erleuchtete Gelände. Die mit Tüchern umwickelten Hufe der Pferde verursachten kein Geräusch. Drei Herzschläge, und schon waren sie wieder ins Dunkel getaucht, aber Cathérines Atem ging so heftig, als hätte sie einen langen Lauf hinter sich. Der Winkel eines Turmvorsprungs bot den Flüchtigen neue Zuflucht. Inzwischen erschien der Soldat von neuem.

»Entschuldigt, Pater, aber man hat Euch schlecht informiert! In dieser Nacht liegt niemand im Sterben.«

»Aber ich bin sicher …«

Der Mann schüttelte mißbilligend und ehrlich betrübt den Kopf.

»Es kann nur ein Irrtum sein. Oder vielleicht hat jemand einen Schabernack mit Euch getrieben …«

»Einen Schabernack? Und das einem Diener des Herrn? Oh, mein Sohn!« entrüstete sich der Mönch mit vollkommener Unbefangenheit.

»Verflixt! In den unglücklichen Zeiten, in denen wir leben, Pater, darf man über rein gar nichts erstaunt sein. An Eurer Stelle würd' ich mich tummeln und schleunigst zu Eurem Ofen zurückkehren!«

Bruder Etienne hob die Schultern und zog seine Kapuze tiefer über sein Gesicht.

»Da ich nun schon mal draußen bin, werd' ich zum Clermonttor gehen und die alte Marie besuchen, der es sehr schlecht geht! Die Nächte sind lang, wenn der Tod sich nähert, und in den ersten Morgenstunden ist die Todesangst meist am schlimmsten! Gott behüte Euch, mein Sohn!« Bruder Etienne erteilte flüchtig seinen Segen und verließ dann den Lichtkreis, während der Soldat sich neuerlich auf seine Waffe stützte und seine trübsinnige Wache wiederaufnahm.

Einige Augenblicke später war der Franziskaner wieder bei den drei anderen angelangt. Je weiter die Nacht fortschritt, desto schärfer wurde die Kälte, und hinter der dicken, rauhen Mauer der Stadt, in deren Schutz sich ein paar baufällige, dem Untergang geweihte Häuser duckten, hörte man den Wind pfeifen und ungehindert über das Hochplateau fegen. Wortlos hatte Jacques Coeur sich wieder an die Spitze des kleinen Trupps gesetzt. Man wand sich jetzt durch einen engen Schlauch, der sich zwischen der Stadtmauer und der des Schlosses hinzog und in einer Sackgasse endete. Vom Boden stiegen unerträgliche Gerüche auf, so stark, daß selbst die Kälte sie nicht zu mildern vermochte. Cathérine, die mutig gegen den Brechreiz ankämpfte, hatte das Gefühl, in eine klebrige, feuchte Welt einzudringen, in der die Luft sich in ekelhaften Gestank verwandelte. Die mit Tüchern umwickelten Hufe der Pferde glitten auf unzähligen Abfällen aus. Der Fluß war weit, die Menschen dieses Viertels hatten da einen bequemen Schuttabladeplatz gefunden.