Füßescharren und lautes Stimmengewirr von unten verhinderten, daß sie hörte, wie die Tür ganz leise geöffnet wurde. Sie gewahrte nicht, daß eine hohe, schattenhafte Gestalt ihrem Bett zuglitt, zuckte jedoch zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte, während das Holz des Bettes unter dem Druck eines Knies ächzte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, daß ein Mann sich über sie beugte und daß dieser Mann kein anderer als Ian MacLaren war. Aber sie war nicht besonders überrascht darüber. Im Grunde konnte sie in ihrem jetzigen Zustand äußerster Entkräftung nichts mehr erstaunen, nichts mehr treffen.
»Ihr schlaft nicht, nicht wahr?« fragte der Schotte. »Ihr gefallt Euch darin zu leiden, Euch dummerweise zu quälen …«
In der Stimme des jungen Mannes schwang zunehmender Zorn mit. Cathérine bemerkte seine Verbitterung, versuchte aber nicht, sie sich zu erklären.
»Was kann Euch das ausmachen?« fragte sie.
»Was mir das ausmacht? Ich habe jetzt schon viele Monate beobachtet, wie Ihr lebt. Oh, ganz von weitem! Habt Ihr jemals auch nur im geringsten einem von uns Beachtung geschenkt, ausgenommen vielleicht unserem Hauptmann Kennedy, weil Ihr ihn braucht? Wir wissen, was Ihr alles gelitten habt, aber in unserem Land im Norden hält man sich nicht bei unfruchtbarem Jammern auf. Das Leben bei uns ist zu beschwerlich, als daß man es mit Tränen und Seufzern vergeudete.«
»Was soll das alles? Sagt, was Ihr zu sagen habt, aber sagt es klar und deutlich. Ich bin todmüde …«
»Todmüde? Wer ist das nicht in diesen Zeiten, in denen wir leben? Warum seid Ihr nicht wie irgendeine andere Frau? Glaubt Ihr, Ihr seid die einzige, die auf dieser Erde leidet, oder ist es wahrhaftig das einzige, wozu Ihr fähig seid: Euch wie ein furchtsames Tier in eine Ecke zu verkriechen und zu weinen, bis zur Verdummung zu weinen, bis Ihr vergeßt, wer Ihr seid, ja sogar vergeßt, daß Ihr ein lebendes Wesen seid?«
Die harte Stimme, verächtlich und doch warmherzig, durchstieß den dichten, schmerzhaften, aber schützenden Nebel, in den Cathérine sich hüllte. Sie konnte nicht übergehen, was er sagte, weil sie im Grunde ihres Wesens dunkel fühlte, daß er recht hatte.
»Auch bei uns sterben die Menschen, schnell oder langsam, die Frauen leiden in ihrem Herzen und in ihrem Fleisch, aber keine hat Zeit, ihre Leiden des langen und breiten auszukosten. Das Land ist zu rauh, das Leben, das einfache Leben ist ein täglicher Kampf, und man kann sich den Luxus von Tränen und Seufzern nicht leisten.«
Jähe Empörung ließ Cathérine emporfahren. Sie setzte sich auf, hielt sich Laken und Decke vor die Brust.
»Und? Worauf wollt Ihr letzten Endes hinaus? Warum kommt Ihr hierher, um mich zu quälen? Könnt Ihr mich nicht in Frieden lassen?«
Über das scharfe Gesicht MacLarens huschte sein spöttisches Lächeln.
»Endlich reagiert Ihr! Das wollte ich … und noch etwas anderes.«
»Was?«
»Das …«
Ehe sie sich's versah, hatte er sie in die Arme genommen. Sie konnte sich nicht rühren, während eine Hand ihr sanft über die Haare strich und ihren Kopf zurückbog. Als Ian sich anschickte, sie zu küssen, wollte sie sich instinktiv wehren, wollte sie ihn zurückstoßen. Vergebliches Bemühen: Er hielt sie fest. Und dann hatte sie keine Kraft mehr. Und schließlich schlich sich wider ihren Willen ein heimtückisches Gefühl des Vergnügens bei ihr ein, gleich dem, das sie empfunden, als er ihre Wunde verbunden hatte. Die Lippen des jungen Mannes waren zart, und die Umklammerung seiner Arme hatte etwas Beruhigendes. Cathérine hörte plötzlich auf zu denken, um sich ganz dem weiblichen Instinkt, so alt wie die Welt, hinzugeben, der sie die Berührung mit diesem Jungen angenehm empfinden ließ. Manche Leute trinken, um zu vergessen, aber die Liebkosungen eines Mannes, die Liebe eines Mannes können eine Trunkenheit anderer, ebenso mächtiger Art auslösen, und genau diese Erfahrung war Cathérine im Begriff zu machen …
Als er sie auf die schäbigen Kissen zurückbettete, hob er einen Augenblick den Kopf und warf der jungen Frau einen Blick zu, der von Leidenschaft und Stolz brannte.
»Laß mich dich lieben. Ich weiß, wie ich dich sogar deine Tränen vergessen machen kann. Ich werde dir so viel Liebe geben, daß …«
Er beendete seinen Satz nicht. Diesmal war es Cathérine, die, von jähem Verlangen gepackt, ihre Lippen auf die des jungen Mannes preßte und ihn an sich zog. Er war mit einem Schlag die einzige Wirklichkeit ihres Universums auf dem Höhepunkt ihrer Euphorie geworden, eine warme Wirklichkeit, an die sie sich mit aller Kraft klammern wollte. Beide rollten, eng ineinander verschlungen, auf die durchgelegene, abgenutzte alte Matratze, vergaßen den miserablen Hintergrund, dachten nur an die nahende Lust. Cathérines überanstrengte Nerven ließen sie eine totale, absolute Selbstzerstörung, eine Unterwerfung unter einen stärkeren Willen wünschen. Sie schloß mit einem leisen Stöhnen die Augen.
Was nun folgte, stürzte sie wieder brutal in die Welt der Schreckgespenste, des Wahnsinns zurück, der sie MacLaren einen Augenblick entrissen hatte.
Da waren dieser schreckliche, ungeheuerliche Schrei, der, wie es Cathérine schien, in ihrem eigenen Kopf explodierte, dann das krampfartige Aufbäumen seines ganzen Körpers, der den ihren umschlang, die aufgerissenen Augen des Schotten und das Blut, das aus seinem Mund schoß. Mit einem Schreckensruf warf sich die junge Frau zur Seite, die Decke mitreißend, in die sie sich instinktiv wickelte. Und da war Gauthier, aufrecht neben dem Bett, der sie mit den Augen eines Verrückten anstarrte. Seine Hände hingen bewegungslos an seinem riesigen Körper herab. Seine Axt steckte zwischen den Schultern MacLarens …
Einen Augenblick maßen Cathérine und der Normanne sich schweigend, als sähen sie sich zum erstenmal. Ein wahnsinniger Schreck lähmte die junge Frau vollständig. Noch nie hatte sie an Gauthier diesen Ausdruck der Gewalttätigkeit und unerbittlichen Grausamkeit gesehen. Er war außer sich, und als sie sah, daß der Riese die mächtigen Fäuste hob, glaubte sie, er wolle sie töten, rührte sich aber nicht, weil sie dazu absolut unfähig war. Ihr Verstand arbeitete, aber ihre Glieder, aus Stein wie ihr ganzer Körper, verweigerten ihr jeden Dienst. Zum erstenmal in ihrem Leben durchlebte Cathérine in der Wirklichkeit das furchtbare Gefühl, von dem man in Schreckträumen heimgesucht wird, wenn man, von tödlicher Gefahr verfolgt, vergebens zu fliehen sucht und die Füße nicht vom Boden heben kann, wenn man zu schreien versucht und kein Ton über die Lippen kommt …
Aber die Hände Gauthiers fielen kraftlos wieder an seinem Körper herab, und der lähmende Bann, der Cathérine gefangenhielt, löste sich. Sie wandte sogar die Augen ab, richtete sie auf die Leiche MacLarens mit einer Furcht, die der Verwunderung nahekam. Wie war er doch schnell und leicht, der Tod! Ein Schrei, und es gab keinen Geist mehr, keine Leidenschaft, nichts als reglose Materie. Dieser Mann, in dessen Armen sie noch einen Augenblick zuvor gelegen hatte, war plötzlich verschwunden! Er hatte gesagt: »ich werde dich vergessen lassen«, aber er hatte nicht einmal Zeit gehabt, sie seinem Willen zu unterwerfen! Sie schluckte mühsam ihren Speichel und fragte dann tonlos:
»Warum hast du das getan?«
»Das wagt Ihr zu fragen?« gab er brutal zurück. »Ist das alles, was von Eurer Liebe für Messire Arnaud übrigbleibt? Mußtet Ihr am Abend desselben Tages, an dem Ihr ihn wiedersaht, einen Geliebten haben? Ich habe Euch in meiner Achtung so hoch gestellt … höher als jede Frau, wahrhaftig! Und dann muß ich Euch wie eine läufige Katze schnurren hören!«
Eine ungestüme Zorneswelle fegte hinweg, was an Furcht noch in Cathérine war. Dieser Mann hatte getötet und maßte sich noch das Recht an, sich als ihr Richter aufzuspielen?
»Mit welchem Recht mischst du dich in mein Privatleben? Habe ich dir je das Recht gegeben, dich mit meinen Angelegenheiten zu befassen?«
Er machte einen Schritt auf sie zu, mit geballten Fäusten, bösen Augen und bitterem Mund.
»Ihr habt Euch mir anvertraut, habt Euch unter meinen Schutz begeben, und, bei Odin, ich hätte mein ganzes Blut und meinen letzten Atemzug für Euch hingegeben. Ich habe die Liebe, die ich für Euch empfand, zum Schweigen gebracht, das wahnwitzige Verlangen, das Ihr in mir erregtet, weil die Liebe, die Euch mit Eurem Gatten verband, mir eine zu schöne, zu reine Sache zu sein schien. Die anderen hatten nicht das Recht, daran zu rühren, nicht das Recht, sich einzumischen. Alles mußte dem Schutz einer Liebe wie dieser geopfert werden …«
»Und was bleibt mir?« rief Cathérine, plötzlich außer sich. »Ich bin allein, immer und ewig allein, ich habe keine Liebe mehr, keinen Gatten mehr … Vor kurzem erst hat er mich noch zurückgestoßen.«
»Obwohl er sich danach sehnte, Euch die Arme entgegenzustrecken! Er liebt nur Euch, genügend jedenfalls, um sich zu weigern, Euch bei lebendigem Leibe verfaulen zu sehen, wie es ihm beschieden ist. Ihr mit Eurem armen, kleinen Frauenverstand habt nur die Bewegung gesehen: Er hat Euch zurückgestoßen! Was habt Ihr also getan? Ihr habt Euch in die Arme des Erstbesten geworfen, und nur aus einem einzigen Grund: Der Frühling kommt, die Tiere werden läufig, und Ihr seid wie sie. Aber wenn Ihr schon einen Mann brauchtet, nichts als einen Mann, warum habt Ihr diesen Fremden mit den eisigen Augen gewählt? Warum nicht mich?«
Unter der Faust des Normannen, die auf sie einhämmerte, hallte seine Brust gleich einer Trommel wider, und seine Stimme grollte wie Donnerrollen. Cathérine war jetzt ernüchtert, ihre Gelassenheit war zurückgekehrt, und sie mußte sich offen eingestehen, daß sie nicht begriff, was sie soeben in die Arme des Schotten getrieben hatte. Im tiefsten Innern gab sie Gauthier recht. Sie schämte sich wie noch nie, verstand aber nur zu gut den trüben Glanz, der in den grauen Augen des Normannen aufgeflammt war. Gleich würde er, ohne sich um den Mann zu kümmern, den er eben getötet hatte, sich auf sie werfen. Nach allem, was er gesehen hatte, würde nichts ihn mehr zurückhalten. In seinem »Warum nicht mich?« lag eine Welt von Zorn, von Rachsucht, von enttäuschter Liebe und Verachtung. Cathérine war ihm nicht mehr heilig. Sie war nichts weiter als eine Frau, die man zu lange begehrt hatte.
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