Doch Saras Gedankenfluß wurde durch das, was sie seit einem Augenblick unbewußt erwartete, unterbrochen: durch den verzweifelten Angstschrei Cathérines.

»Arnaud!«

Die Leprakranken hatten die Anhöhe umgangen, auf der die Reiter hielten, und entfernten sich, aber der Mann, der neben dem braunen Mönch schritt, dieser große, magere Mann, dessen breite Schultern die Uniform des Elends mit soviel instinktiver Eleganz trugen, dies war, dies konnte nur Arnaud de Montsalvy sein!

Cathérines Liebe hatte ihn noch vor ihrem Blick erkannt. Bevor der sprachlose MacLaren auch nur daran denken konnte, sie zurückzuhalten, war sie schon zu Boden geglitten und eilte, mit beiden Händen ihren langen Rock raffend, durch den Schnee. Mit derselben Hurtigkeit, geboren aus ihrer gemeinsamen zärtlichen Liebe, hatten Sara, Gauthier und Bruder Etienne es ihr nachgetan. Die langen Beine des Normannen ermöglichten es ihm bald, die anderen weit hinter sich zu lassen. Doch von ihrer Leidenschaft angetrieben, lief Cathérine so schnell, daß er sie anscheinend nicht einholen konnte. Weder der Schnee noch der unebene Weg konnten sie aufhalten. Sie flog förmlich dahin, der schwarze Schleier flatterte hinter ihr wie eine Fahne in der Schlacht. Ein einziger erregender, überspannter Gedanke beherrschte sie: Sie würde ›ihn‹ wiedersehen, würde mit ihm sprechen. Ein ungeheures Glücksgefühl hatte ihre Seele wie ein Sturm, der jedes Hindernis niederreißt, überfallen. Ihre Augen, trocken und funkelnd jetzt, waren auf diesen Mann geheftet, der da neben dem Mönch schritt.

Dieser Überschwang, den Gauthier in Cathérine ahnte, erfüllte ihn mit Entsetzen, denn er konnte nicht andauern. Was würde sie finden, wenn der Mann sich zu ihr umdrehte? Hatte sich Arnaud de Montsalvy in den Monaten, die er in der Leprastation war, nicht verändert? Würde es nicht ein schon zerfressenes Gesicht sein, das Cathérine zu sehen bekäme? Er beschleunigte seinen Lauf, rief:

»Dame Cathérine … ich flehe Euch an, wartet! Wartet auf mich!«

Seine mächtige Stimme trug so weit, daß sie über Cathérine hinaus bis zum Zug der Leprakranken drang. Der Mönch drehte sich um und sein Gefährte mit ihm. O ja, es war Arnaud! Die Freude sprengte ihr fast die Brust vor Hoffnung, und der Atem begann ihr auszugehen. Ob ein Wunder geschehen würde? Ob sie wieder vereint sein würden? … Hatte Gott endlich Mitleid mit ihr gehabt? Hatte er die flehentlichen Gebete ihrer schlaflosen Nächte erhört? Jetzt konnte sie schon das teure, von der roten Mütze eng umschlossene Gesicht erkennen, das immer noch schön, immer noch edel aussah. Die schreckliche Krankheit hatte es noch nicht verwüstet. Nur noch ein wenig Anstrengung, nur noch einen kurzen Augenblick, und sie würde es erreichen. Mit ausgestreckten Armen zwang sie sich, noch schneller zu laufen, taub für die Rufe Gauthiers, die immer noch hinter ihr her hallten.

Aber auch Arnaud hatte sie erkannt. Cathérine sah, wie er erblaßte, und hörte ihn rufen:

»Nein, nein!«

Schon aus der Entfernung wehrte er sie mit einer heftigen Bewegung seiner behandschuhten Hände ab. Er murmelte dem Klosterbruder etwas zu, und dieser stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die junge Frau, ihr den Weg versperrend. Sie warf sich blindlings gegen ihn, prallte hart gegen einen kräftigen, in braunen, groben Wollstoff gekleideten Körper, klammerte sich an die ausgebreiteten Arme wie an eine Barriere.

»Laßt mich durch!« rief sie flehentlich. »Laßt mich durch! … Es ist mein Mann! … Ich will ihn sehen!«

»Nein, meine Tochter, nähert Euch nicht! Ihr habt nicht das Recht dazu … und er wünscht es nicht.«

»Ihr lügt!« heulte Cathérine außer sich. »Arnaud! Arnaud! Sag ihm, er soll mich durchlassen!«

Nach einigen Schritten war Arnaud wie erstarrt stehengeblieben. Sein schmerzverzerrtes Gesicht war eine wahre Maske des Leidens. Dennoch zitterte seine Stimme nicht.

»Nein, Cathérine, nein, meine Liebste! … Geh! Du darfst nicht näher kommen! Denk an unseren Sohn!«

»Ich liebe dich«, wimmerte Cathérine verzweifelt. »Ich kann nicht aufhören, dich zu lieben. Laß mich zu dir!«

»Nein! … Gott sei mein Zeuge, daß auch ich dich liebe und daß ich mir diese Liebe aus dem Herzen reißen möchte, weil sie mich erstickt. Aber du mußt dich entfernen!«

»Der heilige Méen kann ein Wunder tun!«

»Daran glaube ich nicht!«

»Mein Sohn«, tadelte der Mönch, der Cathérine immer noch festhielt, »Ihr lästert Gott!«

»Nein. Wenn ich zugestimmt habe, mit Euch hierherzukommen, dann mehr für meine Gefährten als für mich. Wer hat je von einer Wunderheilung an diesem Ort gehört? … Es gibt keine Hoffnung.«

Er drehte sich um und ging mit plötzlich schweren Schritten seinen Gefährten im Elend nach, die, eine Litanei singend, unten weiterzogen, nichts ahnend von dem sich hinter ihnen abspielenden Drama. Cathérine brach in Schluchzen aus.

»Arnaud«,schluchzte sie, »Arnaud … Ich flehe dich an! … Warte auf mich! … Hör mich an!«

Aber er wollte nicht hören. Auf seinen Wanderstab gestützt, ging er seines Weges, ohne sich umzuwenden. Gauthier hatte Cathérine inzwischen erreicht, nahm sie sanft aus den Armen des Mönchs, barg sie, die von verzweifeltem Schluchzen geschüttelt wurde, an seiner Brust.

»Geht, Pater, geht schnell! … Und sagt Messire Arnaud, er solle sich keine Sorgen machen …«

Der Mönch entfernte sich seinerseits, während Sara und Bruder Etienne, völlig außer Atem, ihre Freunde einholten. Ihnen folgten die Schotten, ebenfalls im Trab. Ein letztes Aufbäumen riß Cathérine aus der Umklammerung Gauthiers, aber die Tränen machten sie so blind, daß sie nicht mehr als eine graurote, durch den Schnee wankende Reihe bemerkte. Der Normanne hatte keine Mühe, sie wieder an sich zu ziehen.

Die kalte Stimme Ian MacLarens drang vom hohen Pferd des Schotten zu ihnen herunter.

»Reicht sie mir, und dann weiter! Diese Szene hat lange genug gedauert.«

Aber mit einem Schulterzucken hob Gauthier Cathérine empor und setzte sie auf sein eigenes Pferd, das einer der Soldaten am Zügel hielt.

»Ob es Euch paßt oder nicht, und selbst wenn dieses Tier daran krepieren sollte – ich werde mich um Dame Cathérine kümmern! Ihr scheint mir nicht viel von einem Schmerz wie dem ihren zu verstehen. Bei Euch ist sie im Exil.«

MacLaren legte die Hand auf seinen Degenknauf, zog den Degen halb heraus und knurrte:

»Bauernlümmel, ich habe große Lust, dir deine Unverschämtheit heimzuzahlen!«

»An Eurer Stelle, Messire, würde ich's nicht versuchen«, erwiderte der Normanne mit drohendem Lächeln. Gleichzeitig glitt seine Hand wie zufällig zu der Streitaxt in seinem Gürtel. MacLaren ließ es dabei bewenden und wendete sein Pferd.

Von der in einer Windung der Dordogne eingebetteten Herberge, vor der sie für die Nacht anhielten, sah Cathérine nichts. Sie hatte so viel geweint, daß eine Art Unempfindlichkeit über sie gekommen war. Ihre roten, geschwollenen Augen öffneten sich nur mit Schmerzen, und das, was sie sah, war zu verwirrend, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Im übrigen interessierte sie nichts mehr. Sie fühlte sich so elend wie noch nie, den schrecklichen Tag mit einbezogen, an dem Arnaud aus der Welt der Lebenden geschieden war. Die für einen Augenblick wieder angefachte Hoffnung, die unvermutete Begegnung waren ihr wie Zeichen des Schicksals erschienen, eine Antwort des Herrn auf ihre unaufhörlichen Fragen. All diese Monate des Leidens waren wie mit einem Schlag ihrem Gedächtnis entschwunden, und die Liebeswunde, die sich vielleicht wieder ein wenig schloß, war von neuem aufgebrochen und blutete mehr als je.

Den ganzen Tag über hatte sie sich, an Gauthiers Brust gekauert wie ein krankes Kind, vom harten Trab des Pferdes durchrütteln lassen, ohne die Augen zu öffnen. Dann hatte man sie über eine wacklige Stiege in die Kammer der Herberge getragen. Kammer? Wohl kaum! Ein Verschlag, in den man einen eisernen Kohlenofen gestellt hatte und in dem ein schmales Holzbett fast den ganzen Raum einnahm. Aber was kümmerte das Cathérine? Sara hatte sie schlafen gelegt, wie sie Michel schlafen gelegt hätte, und sie hatte sich in der Höhlung des Strohsacks wie eine Kugel zusammengerollt, in Laken, die so abgenutzt und fadenscheinig waren, daß man durch sie hindurchsehen konnte.

Sich so klein wie möglich machen, mit dem feindlichen, jammervollen Universum verschmelzen, verschwinden …

Der plötzliche Energieausbruch, der sie aus ihrem vegetierenden Leben in Carlat herausgerissen hatte, klang ab. Sie hatte es satt, zu kämpfen, satt, zu leben … Michel brauchte sie nicht allzusehr. Er hatte seine Großmutter, und Bruder Etienne würde beim König mit Hilfe Königin Yolandes die Sache der Montsalvys verfechten. Wonach Cathérine verzweifelt verlangte, war, Arnaud wiederzufinden! Sie konnte die abscheuliche Leere nicht mehr ertragen, die er in ihrem Herzen, in ihrem Leben zurückgelassen, diesen Riß, der sich heute wieder erweitert hatte.

Sie schlug mühsam die Augen auf. Die Kammer war fast dunkel und still wie ein Grab. Cathérine hatte Sara angefleht, sie allein zu lassen. Sie war wie ein wundes Tier, das nicht die leiseste Berührung vertrug. Aber im roten Dämmer der fast heruntergebrannten Kohlen konnte sie den Stapel ihrer Kleider unterscheiden. Der lange Dolch Arnauds lag obenauf. Cathérine mühte sich aufzustehen, die Hand nach der Waffe auszustrecken. Eine einzige Bewegung würde genügen, und alles wäre beendet: der Schmerz, die Verzweiflung, der ewige Jammer. Eine Bewegung, eine einfache Bewegung …

Doch die unaufhörlichen Tränen, die sie vergossen hatte, die Heftigkeit der Schocks, die ihre Nerven hatten ertragen müssen, hatten sie an die Grenze der Erschöpfung gebracht. Sie sank wieder schwer auf ihr Lager zurück, von Schauder gepackt. Von unten drangen Geräusche herauf: der Lärm im Gastraum einer Herberge zur Zeit des Abendessens. Die Soldaten setzten sich wahrscheinlich zu Tisch. Aber diese Lebensäußerungen waren Cathérine so fremd und fern, als ob sie in der Tiefe des mächtigsten Berges eingemauert worden wäre. Sie schloß wieder die Augen und stieß einen schmerzlichen Seufzer aus …