Cathérine zögerte nur wenig. Ohnehin fühlte sie sich in diesem fremden Kostüm nicht wohl. Es verteidigte sie schlecht gegen die Zeit und die Menschen, vielleicht weil sie sich seiner nicht bedienen konnte. Sie riß sich die federgeschmückte Mütze vom Kopf und schüttelte die goldenen Locken.

»Laßt uns eintreten. Sobald wir in einem verschlossenen Zimmer sind, werden wir die Kleidung wieder anziehen, die uns zukommt! Ich bin die Gräfin de Montsalvy und bitte um Asyl für die Nacht.«

Die Falten auf der Stirn des Mönches glätteten sich. Er verneigte sich sogar mit einer gewissen Ehrerbietung.

»Ich werde Euch führen. Seid willkommen, meine Tochter!«

Er führte sie in eines der für Gäste von Rang reservierten Zimmer. Vier Wände, eine große Pritsche mit einer sehr dünnen Matratze, einige schlechte Decken, ein Schemel, eine Öllampe – dies war die ganze Möblierung; doch an der Wand hing ein großes steinernes Kruzifix, mit naiver Kunst gehauen, und im Kamin lag ein Armvoll Holz für die Flamme bereit. Wenigstens würden die beiden Frauen allein sein.

Kaum eingetreten, zündete Sara das Feuer an, während Cathérine sich mit verräterischer Eile der Kleider entledigte, die ihr von Kennedy geliehen worden waren.

»Hast du es denn so eilig?« bemerkte Sara. »Du hättest wenigstens warten können, bis das Zimmer warm ist!«

»Nein. Ich habe Eile, wieder mein Selbst zu sein. Niemand wird es mehr an Achtung fehlen lassen, wenn ich wieder aussehe wie sonst. Und diese verrückte Kleidung mißfällt mir.«

»Hmmm!« sagte Sara ungerührt. »Ich habe das Gefühl, daß du es nötiger hast, dich zu beruhigen, als die anderen zu beeindrucken! übrigens stimme ich dir ganz zu! Du liebst dieses Kostüm nicht, ich aber finde es entsetzlich. In meinem alten Kleid komme ich mir wenigstens nicht grotesk vor.«

Und dem Wort die Tat folgen lassend, begann auch Sara, sich auszuziehen.

Bei Tagesanbruch hörte Cathérine die Messe in der eiskalten Basilika in Begleitung Saras, kniete vor dem ältesten der Gastgebermönche nieder, um seinen Segen zu empfangen, und ging dann wieder zu ihren Reisegefährten. Als MacLaren die schwarzgekleidete Dame von Carlat unter dem Portal der Basilika im Glanz der roten Strahlen der aufgehenden Sonne erblickte, zuckte er heftig zusammen. Eine ärgerliche Furche grub sich zwischen seine hellen Brauen, während dumpfe Freude in Gauthiers grauen Augen glomm. Seit zwei Tagen hatte der Normanne den Mund nicht aufgetan. Er ritt abseits, als letzter des ganzen Trupps, mit gesenkter Stirn und verschlossenem Gesicht, obwohl Cathérine sich bemühte, ihn in ihre Nähe zu rufen. Die junge Frau hatte es aufgegeben, sich etwas vorzumachen. Der Haß, der zwischen dem Waldmenschen und dem Mann der Hochebene gärte, war fast greifbar.

Aber bevor der Leutnant reagiert hatte, war Gauthier zu Cathérine geeilt.

»Ich bin glücklich, Euch wiederzusehen, Dame Cathérine«, sagte er, als habe er sie schon viel länger als nur eine Nacht nicht gesehen. Dann hatte er ihr mit dem Stolz eines Königs seine geschlossene Faust angeboten, damit sie ihre Hand darauf legte. Seite an Seite waren sie zum Detachement zurückgekehrt. MacLaren sah sie kommen, die Fäuste in den Hüften, eine nichts Gutes verheißende Falte im Mundwinkel. Als sie nahe herangekommen war, maß er Cathérine von Kopf bis Fuß.

»Wollt Ihr in diesem Aufzug zu Pferd steigen?«

»Warum nicht? Reisen die Frauen vielleicht in einem anderen Kostüm? Ich bat um Männerkleidung, weil mir dies praktischer erschien, aber ich habe eingesehen, daß es ein Irrtum war.«

»Irrtum – das ist Euer Schleier! Ein so reizendes Gesicht verbirgt man nicht!«

Nonchalant hob er mit einem Finger das zarte Bollwerk aus Musselin, aber Gauthiers Hand legte sich auf sein Handgelenk und umschloß es wie eine eiserne Klammer.

»Laßt das, Messire«, sagte der Normanne ruhig, »wenn Ihr nicht wollt, daß ich Euch den Arm breche.«

MacLaren ließ nicht los und begann zu lachen.

»Du fängst an, lästig zu werden, Halunke! Hallo! Ihr da …«

Doch ehe die Soldaten sich auf Gauthier stürzen konnten, warf sich Bruder Etienne, der gerade aus dem Gotteshaus trat, zwischen MacLaren und den Normannen. Eine seiner Hände legte sich auf Gauthiers Gelenk, die andere auf die Hand des Schotten, die, welche den Schleier hielt.

»Laßt los, beide! Im Namen des Herrn … und im Namen des Königs!«

So groß war die Autorität, die in der ruhigen Stimme des Mönches schwang, daß die beiden Männer, gebändigt, ihm mechanisch gehorchten.

»Dank, Pater«, sagte Cathérine mit einem Seufzer der Erleichterung. »Brechen wir endlich auf, denn wir haben schon zuviel Zeit verloren. Und was Euch betrifft, Sire MacLaren, so hoffe ich, daß Ihr Euch in Zukunft anständig betragt, wie es einem Chevalier einer Dame gegenüber geziemt.«

Statt einer Antwort beugte sich der Schotte hinunter und bot der jungen Frau seine beiden verschränkten Hände, damit sie ihren Fuß auf sie setze. Dies war das stillschweigende Eingeständnis seiner Niederlage und gleichzeitig eine chevalereske Geste der Unterwerfung. Cathérine lächelte triumphierend, und mit einer Bewegung, deren unbewußte Koketterie sie nicht erwog, warf sie den Schleier über ihre hohe Haube zurück. Ihr Blick tauchte für einen Moment in die hellblauen Augen des jungen Mannes. Was sie in ihnen las, ließ ein schwaches Rot in ihre Wangen steigen. Dann setzte sie ihre Stiefelspitze leicht auf seine verschränkten Hände und schwang sich auf die Kruppe des Pferdes. Der Friede war wiederhergestellt. Jeder tat es ihr nach, und man verließ Mauriac, ohne daß jemand bemerkte, daß Gauthier sich wieder in sich selbst zurückgezogen hatte.

Dieser Vorfall übrigens sollte zum Vorspiel einer wesentlich ernsteren Angelegenheit werden. Gegen Ende des Vormittags erreichte der Reitertrupp Jaleyrac. Der dichte Waldbestand hörte hier mit einem Schlag auf; mitten zwischen gut gehaltenen Feldern, auf denen Roggen und Buchweizen wachsen würden, lagen eine große Abtei und ein bescheidenes Dorf, ein Bild, das den Eindruck außerordentlichen Friedens hervorrief. Vielleicht lag es an der freundlichen Sonne, die den Schnee vergoldete, vielleicht auch am zarten Läuten einer Glocke, jedenfalls war an diesem einfachen, kleinen Nest, an diesem ländlichen Kloster etwas ganz Besonderes. Seltsamer noch: Die Menschen verkrochen sich nicht wie in den anderen Dörfern. Es herrschte viel Leben auf der einzigen Dorf Straße, die zu der gedrungenen Kirche hinaufführte.

Angesichts des Ortes zügelte MacLaren sein Pferd und lenkte es neben den Gaul, der Bruder Etienne trug. Rittlings hinter einem mageren Schotten sitzend, den er an Gewicht leicht doppelt übertraf, schien der kleine Mönch den Ritt bis zu diesem Augenblick mit vollen Zügen genossen zu haben.

»Was tun diese Leute da alle?« fragte MacLaren kurz.

»Sie gehen in die Kirche«, antwortete Bruder Etienne. »In Jaleyrac verehrt man die sterblichen Überreste Saint-Méens, eines Mönchs, der einstmals aus dem Land Wales übers Meer kam und dessen bretonische Abtei von den Normannen geplündert und niedergebrannt wurde. Die Mönche sind damals vor ihnen geflohen. Und wenn so viele Menschen zu sehen sind, dann deshalb, weil Saint-Méen im Rufe steht, sich besonders der Leprakranken anzunehmen.«

Das Wort traf Cathérine mitten ins Herz. Sie wurde weiß bis zu den Lippen und mußte sich an MacLarens Schultern klammern, um nicht zu fallen.

»Die Leprakranken …«, sagte sie tonlos.

Mehr brachte sie nicht hervor, die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Auch weil die Menge, die sich in der einzigen Gasse zusammendrängte, etwas Furchtbares an sich hatte. Wesen, von denen man nicht mehr wußte, ob sie Mann oder Frau waren, schleppten sich durch den Schnee, auf T-förmige Krücken oder Stöcke gestützt, schwärzliche Glieder zeigend, wenn es nicht überhaupt nur noch Stümpfe waren, schreckliche Geschwüre, die die Gesichter zerfraßen, Geschwülste, Flechten, Tumoren, eine abscheuliche Menschheit, offenbar von der Hölle selbst ausgespien, die heulend und Psalmen absingend der geweihten Stätte zueilte. Graugekleidete Mönche, ein T aus blauem Email auf der Schulter, neigten ihre rasierten Köpfe zu ihnen hinunter und halfen ihnen, den Weg hinaufzusteigen.

»Leprakranke«, sagte MacLaren angewidert.

»Nein«, berichtigte Bruder Etienne, »alles, nur keine Leprakranken … Krätzekranke, Rotlaufkranke, Opfer verfaulter Wurzeln und verdorbenen Mehls, die sie in ihrem Elend gegessen haben und dank denen sie jetzt von Milzbrand und Räude bei lebendigem Leibe zerfressen werden. Die dort sind die Leprakranken!«

Tatsächlich quoll jetzt aus dem Tor einer rohen Umwallung, die einige abseits des Dorfs errichtete Hütten umgab, eine andere Prozession: Männer, einheitlich in graue Röcke mit aufgenähten scharlachroten Herzen und eng das Gesicht umschließende rote Kapuzen unter großen Hüten gekleidet. Jeder schüttelte auf seinem Weg zum Dorf eine Klapper, die in der reinen Höhenluft unheimlich widerhallte. Und vor ihnen ergriff selbst die erbärmliche Menge der anderen Kranken entsetzt die Flucht. Diese menschlichen Wracks, die selbst nur aus Unreinheit bestanden, liefen, so schnell sie konnten, zum Kloster oder preßten sich an die Hauswände, um jeden unreinen Kontakt zu vermeiden. Die Augen von Tränen verschleiert, nahm Cathérine diesen Anblick in ihre Seele auf. Alles, was sie sah, weckte ihren Schmerz von neuem, beschwor wieder die kopflose Verzweiflung der ersten Tage herauf. Diese Elenden, das war von nun an die Welt des Mannes, den zu lieben sie nicht aufhören konnte, den sie bis zum letzten Atemzug anbeten würde.

Sara verfolgte unruhig auf dem Gesicht der jungen Frau die Anzeichen des Schmerzes, den sie empfand. Tränen rollten schnell über die blassen Wangen hinunter. Sie sah, daß Cathérines traurige Augen mit verdächtiger Beharrlichkeit auf einem Mönch in brauner Kutte verharrten. Und plötzlich begriff die Zigeunerin, warum. Es war der Aufsehermönch der Leprastation von Calves. Zweifellos hatte er einige Kranke in der Hoffnung hierhergeführt, ihnen in Saint-Méen Heilung zu verschaffen.