»Mein Gott, was habe ich Angst gehabt!« seufzte er. »Bewegen wir uns noch nicht!«

Sie warteten eine Weile, gemäß den Instruktionen, die Gauthier ihnen gegeben hatte. Als sich im Wald nichts mehr hören ließ als der ferne Schrei eines verspäteten Auerhahns, streckte der Mönch seine erstarrten Glieder, gähnte, um die Kinnlade zu lockern, und warf seinen Gefährtinnen ein ermutigendes Lächeln zu.

»Ich glaube, wir können jetzt hinuntersteigen. Diese guten Leute haben den Wald so schön zertrampelt, als sie ringsherum das Unterholz niederhackten, daß unsere Spuren uns wohl kaum verraten werden.«

»Es sieht ganz so aus«, sagte Cathérine und begann, sich von Ast zu Ast hinunterzulassen. »Aber werden wir unsere Richtung finden?«

»Vertraut mir. Zufällig kenne ich dieses Land gut. In meiner Jugend habe ich einige Monate in der Abtei Saint-Géraud d'Aurillac verbracht. Wenn wir direkt auf die Sonne zugehen, müssen wir auf die Priorei Vezac stoßen, wo wir ein wenig Rast machen werden. Die Nacht setzt gegenwärtig früh ein. Sobald sie angebrochen ist, machen wir uns wieder auf den Weg …«

Die ersten Strahlen der fahlen Wintersonne gaben den beiden Frauen neuen Mut. Diese Sonne wärmte zwar nicht, aber ihr Licht war wenigstens tröstlich. Als sie sich wieder am Fuß der Eiche befanden, die ihnen als Zuflucht gedient hatte, mußte Cathérine sogar lachen, wenn sie den seltsamen Anblick bedachte, den ihre ungewöhnliche Kleidung ihnen verlieh.

»Weißt du, wem wir ähnlich sehen?« sagte sie zu Sara. »Gédéon, dem Papagei, den Herzog Philippe mir in Dijon geschenkt hat.«

»Das kann schon sein«, brummte Sara, sich so gut wie möglich in ihr buntfarbiges Plaid hüllend. »Aber es wäre mir hundertmal lieber, wenn ich Gédéon selbst wäre, schön in der Wärme der Kaminecke deines Onkels Mathieu!«

Man setzte sich wieder in Marsch, und bald bewahrheiteten sich die Voraussagen Bruder Etiennes aufs genaueste. Der kurze Kirchturm der Priorei Vezac tauchte auf, als man den Waldrand erreichte, beruhigend und friedlich in den ihn umwogenden dichten Nebel gehüllt.

Im dämmernden Morgen des folgenden Tages langten Cathérine, Bruder Etienne und Sara genau in dem Augenblick vor den Pforten Aurillacs an, in dem sie geöffnet wurden. Ein Horn erklang auf der Umwallung, und schon erfüllte das Getöse der Kupferschmiedehämmer die klare, scharfe Luft, die trotz ihrer Schärfe den widerlichen Geruch der Gerbereien nicht zu verdrängen vermochte. Trotz der Kälte konnte man am Ufer der Jordanne und im Schatten des bemoosten Daches von Notre-Dame des Neiges Männer über merkwürdige, schief geneigte Platten gebeugt sehen, über die das eisige Wasser lief.

»Das Wasser dieses Flusses ist dafür berühmt, daß es Gold mitführt«, erklärte Bruder Etienne. »Diese Männer dort lassen es durch Siebe aus dichtgewebten Tüchern laufen, um die winzigen Körnchen aufzufangen. Seht übrigens, wie man sie bewacht.«

Tatsächlich ließen bewaffnete Posten keine Bewegung der Goldwäscher aus den Augen. Von der Böschung aus, ein paar Schritte von den im reißenden Wasser watenden Arbeitern entfernt, unbeweglich auf ihre Piken gestützt, hielten sie ihre Blicke fest auf die Wäscher gerichtet: magere Gestalten in Lumpen gehüllt, durch deren Löcher die frostblaue Haut zu sehen war. Neben den kräftigen, gut genährten und ausgerüsteten Soldaten boten sie einen trübseligen Anblick, der Cathérines Mitleid weckte. Vor allem einer der Männer im Fluß schien sich nur mit Mühe auf den Beinen zu halten. Er war alt, von den Jahren gebeugt, und seine von der Gicht knotigen Hände hielten das Sieb unter Schmerzen gepackt. Er zitterte vor Kälte und Erschöpfung, was einen der Landsknechte höchlichst zu belustigen schien. Als der Alte versuchte, wieder auf die Böschung zu steigen, gab er ihm mit dem Schaft seiner Lanze einen Schlag, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Mit einem Schrei rollte der Unglückliche in das reißende Wasser und tauchte unter. Einer seiner Kameraden, ein junger, noch kräftiger Bursche, sprang ihm nach, aber die Strömung war so reißend, daß er seinerseits unter dem schallenden Gelächter des Haufens das Gleichgewicht verlor.

Eine Zorneswelle schwoll in Cathérines Herzen. Sie war unfähig, sich so etwas wortlos mit anzusehen. Ihre nervöse Hand griff nach dem Dolch Arnauds in ihrem Gürtel. Ehe Bruder Etienne dazwischentreten konnte, hatte sie ihn gezogen und sprang mit hoch erhobener Klinge auf den Mann mit der Lanze zu. Sie erwog nicht ihre geringen Kräfte, dachte nicht einmal an die Zahl der Bewaffneten. Sie war einfach ihrem Impuls gefolgt, weil sie nicht anders konnte … vielleicht, weil sie nicht mehr mit anzusehen vermochte, daß die Schwachen immer brutal behandelt und unterdrückt wurden.

Im Augenblick hatte sie den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Der Dolch bohrte sich in die Schulter des Soldaten, der aufschrie und, das Gleichgewicht verlierend, zu Boden stürzte; an ihn geklammert wie eine wutfauchende Katze, fiel Cathérine über ihn.

»Du Schweinehund! Dir wird nicht mehr genug Zeit zum Leben bleiben, um noch mehr Greise zu töten!«

Wie der Stachel einer Wespe fuhr ihr Dolch immer wieder aufs Geratewohl auf den Mann nieder, der wie ein abgestochenes Schwein schrie, ohne sich wirkungsvoll verteidigen zu können. Die Wut verlieh der jungen Frau unüberwindliche Kräfte. Doch die anderen Bewaffneten hatten sich bald gefaßt und fielen jetzt gleich einem Fliegenschwarm über sie her.

»Auf den Schotten!« rief einer von ihnen. »Tötet ihn! Tötet ihn!«

Dieser Ruf rettete Cathérine, denn vom anderen Ufer antwortete ihm ein anderer:

»Vorwärts, im Namen Saint-Andrés!«

Die Goldwäscher hatten eben noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, über das schäumende Wasser stürmte ein Reitertrupp und fiel mit erhobenen Degen über die Wachen her. Cathérine, bereits von einem Dutzend Fäuste gepackt, kam unversehens frei und sprang auf die Füße. Ihre Hände waren mit Blut verschmiert, und der Mann unter ihr, den sie so heftig angegriffen hatte, atmete nicht mehr. Regungslos, mit weit aufgerissenen Augen gegen den niedrigen Himmel starrend, lag er ausgestreckt auf dem mit Schmutz und Blut besudelten Schnee. Cathérine begriff, daß sie ihn getötet hatte, doch seltsam, sie empfand keine Abscheu, keine Gewissensbisse. Die Wut kochte noch in ihr. Kalt tauchte sie ihren Dolch in die Jordanne und schob ihn wieder in den Gürtel zurück. Dann warf sie einen Blick um sich. Der Kampf zwischen den Wachen von Aurillac und der unerwartet eingetroffenen Hilfe war noch in vollem Gange, näherte sich aber seinem Ende. Im Handgemenge erkannte sie Gauthier, der neben einem großen blonden Schotten kämpfte. Um sie herum fochten etwa zehn Soldaten der Hochebenen energisch: MacLaren und seine Männer. Das Herz ging der jungen Frau vor Freude auf:

»Gott sei gepriesen! Er hat sie wiedergefunden!«

Am Flußufer entlanglaufend, wo die bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehenden Goldwäscher bestürzt und entsetzt zusahen, stieß sie wieder zu Bruder Etienne und Sara, die sich, so gut sie konnten, an einer zerfallenen Mauer in Sicherheit gebracht hatten. Sara stürzte sich auf die junge Frau wie eine Tigerin, die ihr Junges wiedergefunden hat, umarmte sie, bis sie fast erstickte, schluchzte unaufhörlich, dann gab sie ihr mit aller Gewalt eine schallende Ohrfeige.

»Du Wahnsinnige! Willst du, daß ich vor Kummer noch sterbe?«

Cathérine wankte unter dem Schlag und griff sich an die Wange. Sie kochte vor Wut, aber schon warf Sara sich ihr zu Füßen und bat um Verzeihung, Tränenströme vergießend, die das Maß ihrer ausgestandenen Furcht ahnen ließen. Cathérine hob sie auf, drückte sie fest an sich und streichelte den Kopf der armen Frau. Aber ihr Blick kreuzte sich stolz mit dem Bruder Etiennes.

»Ich habe einen Menschen getötet, Pater … und ich bereue es nicht!«

»Wer würde es bereuen?« seufzte der Mönch. »Ich werde meine nächste Messe für die Seele dieses Unglücklichen lesen, wenn eine Messe für einen so schwarzen Geist überhaupt etwas auszurichten vermag. Was Euch betrifft, so erteile ich Euch Absolution.«

Das Gefecht näherte sich seinem Ende. Die Wächter des Flusses lagen jetzt alle auf dem Schnee, verwundet oder tot, und MacLaren sammelte seine Leute. Gauthier sprang vom Pferd und näherte sich mit freudestrahlenden Augen Cathérine.

»Ihr habt nichts abbekommen, Dame Cathérine? Bei Odin, ich glaubte zu träumen, als ich einen kleinen Schotten diesem großen schwarzen Tier an die Kehle springen sah. Aber Ihr seid am Leben, voll und ganz am Leben!«

In seiner Freude hatte er sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie nun, ohne sich allzusehr um seine Körperkräfte zu kümmern, rang mit dem furchtbaren Verlangen, das ihn überkam, sie an sich zu drücken und zu küssen. Doch plötzlich wurde Cathérine unter seinen Händen schlaff. Ein brennendes Gefühl in der Schulter war das einzige, was sie noch von ihrem seltsam haltlos gewordenen Körper wahrnahm. Ihr Kopf drehte sich, während ein schwarzer Schleier den Tag verdunkelte. Die Ohren summten, und sie hörte nur noch eine Stimme, die schalt:

»Dummkopf! Sieh das Blut unter deiner linken Hand! Du siehst doch, daß sie verwundet ist!«

Cathérine spürte, daß man sie jäh losließ, dann fühlte sie gar nichts mehr. Im Eifer des vor kurzem beendeten Kampfes hatte sie nicht einmal bemerkt, daß ihr eine Klinge in die Schulter gedrungen war! Diese glückliche Ohnmacht ersparte ihr zusätzliche Angst. Während Gauthier sie auf die Arme nahm und vorsichtig über den Hals seines Pferdes legte, richtete sich MacLaren in seinen Steigbügeln auf.

»Es ist besser, keine Zeit mehr zu vergeuden«, sagte er. »Ich sehe einen größeren Trupp aus der Abtei herauskommen. In Kürze werden wir sämtliche Soldaten des Abtes auf dem Hals haben. Verschwinden wir!«