»Heute abend noch? Wozu denn das?«

»Er hat jetzt alle Befunde und möchte es uns persönlich sagen.«

»Ach, Mutter, das ist doch längst vorbei. Mir geht's wieder gut. Hast du ihm das nicht gesagt? Außerdem wird Mike gleich kommen und -«

»Wir gehen auf jeden Fall hin, Mary. Wir werden ja sehen, was er sagt. Wahrscheinlich verschreibt er dir nur ein paar Vitamine.«

Diesmal fühlte sich Mary weit wohler, als sie in dem Ledersessel vor Dr. Wades Schreibtisch saß und sich in seinem Sprechzimmer umsah. Heute war ja auch keine peinliche Untersuchung zu erwarten, sondern nur ein Bericht über ihre Befunde. Als Dr. Wade hereinkam und leise die Tür hinter sich schloß, sah Mary ihn mit ganz anderen Augen als bei ihrem ersten Besuch. Er war nicht so groß, wie er ihr damals erschienen war und auch nicht mehr so jung. Sie sah die Fältchen um seinen Mund und seine Augen, und er schien mehr graue Haare zu haben als das letztemal. Das Lächeln jedoch war unverändert, vertraueneinflößend und herzlich.

»Hallo, Mary«, sagte er ruhig und bot ihr die Hand.

Sie nahm sie ein wenig scheu. »Hallo, Dr. Wade.«

»Also.« Er ging um seinen Schreibtisch herum und räumte einige Schriftstücke weg, ehe er sich setzte. Lächelnd sagte er: »Als ich in deinem Alter war, Mary, war ich überzeugt, Ärzte hätten ein unheimlich leichtes Leben. Sie brauchen die Leute nur A sagen zu lassen und fahren ansonsten in Cadillacs spazieren. Eine schöne Illusion war das!«

Mary lachte.

»Okay, Mary, deine Befunde sind jetzt alle da.« Er griff nach einem Hefter und schlug ihn auf. »Blut und Urin praktisch unverändert. Du hast doch sicher Biologie in der Schule?«

»Ja.«

»Dann weißt du, daß Infektionen sich immer im Blut zeigen und daß ein Tropfen Urin genügt, um die verborgensten Dinge zu diagnostizieren.«

»O ja.«

Dr. Wade machte eine kleine Pause und sah zu den Berichten hinunter, die er vor sich liegen hatte. Als er den Blick wieder hob, sah Mary mit Überraschung, daß das Lächeln

verschwunden war. Er wirkte sehr ernst.

»Mary, ich muß dich etwas fragen. Und ich frage nicht aus Neugier oder um dir Vorhaltungen zu machen, das darfst du mir glauben. Du bist schließlich siebzehn Jahre alt, fast schon erwachsen, und du weißt, daß ich einzig dazu da bin, deine Interessen zu vertreten.«

Sie sah ihn nur groß an, ohne etwas zu erwidern.

»Ich habe dir die Frage am letzten Freitag schon einmal gestellt, Mary, aber ich muß dich noch einmal fragen. Bitte denke genau nach, ehe du mir antwortest. Hast du schon einmal mit einem Jungen geschlafen?«

Einen Moment lang starrte sie ihn verblüfft an. Dann sagte sie ruhig: »Nein, Dr. Wade.«

»Bist du ganz sicher?«

»Aber ja. Wirklich. Ich würde es Ihnen sagen, wenn es anders wäre.«

Jonas Wade musterte das junge Gesicht. Er wurde nicht klug aus diesem Mädchen. Schließlich sagte er: »Mary, als du das letzte Mal hier warst, haben wir im Labor, wie ich dir sagte, die Routinetests machen lassen und festgestellt, daß dir nichts fehlt. Als ich dich dann untersuchte, sagtest du mir, daß deine Brüste spannen und sehr empfindlich sind und daß du zwei Monate lang keine Periode mehr gehabt hast. Während du dich wieder anzogst, habe ich daraufhin selbst einen Test durchgeführt, hier in meiner Praxis.« Er zog das lavendelfar-bene Blatt heraus und hielt es hoch. »Mary, hast du schon einmal von dem sogenannten Gravindex gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Der Gravindex ist ein Schwangerschaftstest, Mary«, sagte er ernst, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden.

Sie sah ihn ruhig an.

»Ich habe den Test hier in meiner Praxis durchgeführt, und das Ergebnis war positiv.« Er hielt immer noch das lavendelblaue Blatt hoch. »Das ist der Grund, weshalb ich gefragt habe, ob du schon einmal mit einem Jungen geschlafen hast.«

Marys Blick flog zu dem Blatt in seiner Hand und kehrte dann zu seinem Gesicht zurück.

»Positiv heißt, daß du schwanger bist, Mary«, fuhr er fort, noch immer verwundert über ihr Verhalten.

Sie zuckte die Achseln. »Das Ergebnis ist falsch.«

»Zu der Überzeugung kam ich auch, nachdem du mir meine Fragen beantwortet hast. Es kommt ab und zu vor, daß der Test falsche Ergebnisse zeigt. Aus diesem Grund beschloß ich, einen zuverlässigeren Test durchzuführen. Hast du schon einmal vom Froschtest gehört?«

»Nein.«

»Wir nehmen einen Tropfen Urin von einer Frau und injizieren ihn einem männlichen Frosch. Ein paar Stunden später untersuchen wir den Urin des Frosches unter dem Mikroskop. Wenn sich männliche Samenzellen zeigen, heißt das, daß die Frau schwanger ist.«

Mary, die die Hände ruhig im Schoß liegen hatte, sah ihn nur an. »Deshalb baten wir dich, am Dienstag morgen noch einmal zu einer Urinprobe zu kommen. Der Test muß mit dem ersten Urin des Tages gemacht werden. Wir haben deinen Urin dem Frosch injiziert, Mary, und unter dem Mikroskop zeigten sich männliche Keimzellen.«

Dr. Wade schwieg und betrachtete Marys Gesicht. Es zeigte nur mildes Interesse an dem, was er gesagt hatte.

»Mary, dieser letzte Test zeigt, daß du schwanger bist.«

Wieder zuckte sie die Achseln und lachte ein wenig. »Das Ergebnis kann nur falsch sein, Dr. Wade. Genau wie bei dem

anderen Test.«

»Der Froschtest ist fast hundert Prozent zuverlässig, Mary. Und wir haben ihn zweimal gemacht, um ganz sicher zu sein. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß du schwanger bist.«

Mary lächelte. »So sieht es vielleicht aus. Aber ich kann gar nicht schwanger sein.«

Dr. Wade lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Mary nachdenklich an. Es war nichts Ungewöhnliches, daß junge unverheiratete Mädchen in einem solchen Fall leugneten. Wenige allerdings hielten ihr Leugnen auch noch angesichts solch unwiderlegbarer Beweise aufrecht, und noch nie hatte er erlebt, daß ihm bei einem solchen Gespräch so ruhig und so völlig unberührt widersprochen worden war. Fast immer war es so, daß die Mädchen spätestens zu diesem Zeitpunkt zu weinen anfingen und die Wahrheit gestanden. Oder aber sie wurden wütend. Oder sie bekamen Angst. Keine hatte bisher so reagiert wie Mary Ann McFarland. Er fand ihr Verhalten unbegreiflich.

»Wirklich, Mary, es wäre gescheiter, du würdest mir die Wahrheit sagen. Man wird es nämlich sowieso bald sehen, und dann hilft Leugnen auch nichts mehr.«

»Dr. Wade -« Mary breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus - »ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich kann unmöglich schwanger sein. Ihr Testergebnis stimmt nicht.«

»Es gibt noch andere Beweise. Du hast seit zwei Monaten die Periode nicht mehr gehabt. Deine Brust ist empfindlich. Du leidest an morgendlicher Übelkeit.«

Sie zuckte wieder die Achseln. »Was soll ich Ihnen denn sagen? Ich kann nicht schwanger sein. Es muß etwas anderes sein.«

Stirnrunzelnd beugte sich Dr. Wade über seinen Schreibtisch. »Mary, es kann passieren, daß eine Frau schwanger wird, auch wenn der Penis nicht eingeführt wird. Wenn er sich nur in der Nähe ihrer Vagina befindet.«

Mary wurde brennend rot und senkte die Lider. »So was hab ich nie getan, Dr. Wade«, sagte sie leise. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich habe mich von Mike nur hier anfassen lassen.« Sie strich sich mit einer Hand über die Brust. »Ich hab Mike nie erlaubt, daß er - daß er was anderes tut.«

»Und doch bist du schwanger.«

Sie hob den Kopf. »Dagegen kann ich nur sagen, daß ich es nicht bin. Sie werden schon sehen, daß Sie sich geirrt haben, wenn nichts passiert.«

»Es wird aber etwas passieren, Mary. Dein Bauch wird dicker werden, und dann mußt du es eingestehen.«

Mary lachte nur. Das war ja alberner als ein Streit mit Amy.

»Mary«, sagte Dr. Wade langsam, »glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß ich dein Freund bin und nur dein Bestes will?«

»Ja.«

Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, sagte er: »Ich muß es deinen Eltern sagen.«

»Okay.« Mary wies mit einer Hand zur Tür. »Holen Sie doch meine Mutter gleich herein. Sie sitzt im Wartezimmer.«

Jonas Wade hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. An diesem Punkt brachen sonst selbst die hartnäckigsten Mädchen zusammen.

»Was wird deine Mutter denn sagen, wenn sie hört, daß du schwanger bist?«

»Sie wird es nicht glauben. Sie weiß, daß ich so was niemals tun würde.«

»Bist du da ganz sicher?«

Mary neigte den Kopf leicht zur Seite. Ihr Blick war offen und unschuldig. »Aber natürlich. Meine Mutter weiß, daß ich sie nicht belügen würde.«

»Und dein Vater?«

»Genauso.«

Jonas Wade nickte bedächtig und überlegte einen Moment. Dann drückte er auf einen Knopf seiner Sprechanlage und bat die Sprechstundenhilfe, Lucille McFarland hereinzuführen.

Als Lucille ihm gegenüber Platz genommen hatte, nahm er sich einen Moment Zeit, um sie zu mustern und sich ein Bild von ihr zu machen. Sie war eine gutaussehende Frau, sonnengebräunt und schlank. Das Gesicht war nur dezent geschminkt, das tizianrote Haar allerdings hielt er für gefärbt. Scharfe blaue Augen, denen ihrer Tochter sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war stark; Lucille mußte in ihrer Jugend so hübsch gewesen sein wie Mary. Jetzt, Anfang Vierzig, verrieten die scharfen Falten in ihrem Gesicht, daß sie zu viel Zeit in der Sonne verbrachte. Ihre Kleidung war teuer und konservativ, ihr Verhalten war selbstsicher und gewandt. Jonas Wade hatte das deutliche Gefühl, daß dieses Gespräch nicht einfach werden würde.

Er räusperte sich, berichtete dann kurz von den Routineuntersuchungen, die gemacht worden waren, von seiner eigenen Untersuchung Marys und kam dann vorsichtig zum kritischen Punkt.