Am Nachmittag lernte sie für die Prüfungen, die in der übernächsten Woche stattfinden sollten, und nach dem Abendessen sah sie sich mit der Familie zusammen einen Bericht im Fernsehen über Sinn und Zweck der Konklave an, die derzeit im Vatikan gehalten wurde. Ehe sie sich am Abend mit Mike traf, ging sie noch zur Beichte.

Eine Welle der Übelkeit überflutete sie, als sie im Beichtstuhl niederkniete und Pater Crispin flüsternd ihre Sünden anvertraute. Sie entschuldigte sich für ihre Unpäßlichkeit, erklärte, sie hätte die Grippe. Die Buße, die er ihr für ihre Sünden auferlegte, war leicht: Fünf Rosenkränze.

Am Sonntag nach der Kirche lag Mary den ganzen Nachmittag am Schwimmbecken und las, während ihr Vater sich im Fernsehen das Baseballspiel der Dodgers gegen die New Yorker Giants ansah und ihre Mutter drei Schwestern von St. Sebastian, die verschiedenes zu erledigen hatten, herumchauffierte.

Am Montag morgen fühlte sich Mary keinen Deut besser, und ihre Mutter ließ sie nicht zur Schule gehen. Am Nachmittag rief die Sprechstundenhilfe von Dr. Wade an und bat Mary, am folgenden Morgen vor der Schule in die Praxis zu kommen. Sie brauchten noch eine Urinprobe von ihr, sagte sie und instruierte Mary, nach sieben Uhr abends nichts mehr zu trinken.

Am Dienstag morgen fühlte sich Mary so weit besser, daß sie wieder zur Schule gehen konnte. Vorher ließ sie sich wie vereinbart von ihrer Mutter bei Dr. Wade vorbeifahren.

Als Mary am Mittwoch gegen Abend aus ihrem Zimmer kam, traf sie mit ihrem Vater zusammen, der, noch damit beschäftigt, ein frisches Hemd zuzuknöpfen, aus dem Elternschlafzimmer trat.

»Hallo, Daddy! Wann bist du denn heimgekommen?«

Sie gab ihm einen Kuß, dann gingen sie Arm in Arm durch den Flur.

»Vor einer Viertelstunde ungefähr. Du hattest dein Radio so laut, daß du mich nicht gehört hast. Wer ist denn dieser Tom Dooley eigentlich, hm?«

»Ach, Dad!« Sie drückte ihn lachend. Wie gut, daß er jeden Mittwoch zum Training ging und sich nicht so gehen ließ wie die meisten Väter ihrer Freundinnen, die schon einen Bauch hatten und schlaff und schwabbelig wirkten.

»Geht's dir besser, Kätzchen?«

»Viel besser. Ich glaub, jetzt hab ich's überwunden, wenn ich auch keine Ahnung hab, was es war.«

»Und wie war's in der Schule?«

»Gut. Ich hab ein A auf meinen Vortrag gekriegt. Und -« Sie sah mit lachenden Augen zu ihm auf.

»Und was?«

»Und was das Beste von allem ist: Mikes Vater nimmt die

Stellung in Boston doch nicht an. Sie bleiben alle hier in Tarza-na und fahren auch den Sommer über nicht weg.«

Ted McFarland lachte. »Ja, das ist natürlich herrlich, Kätzchen.«

»Jetzt können Mike und ich jeden Tag mit den anderen nach Malibu fahren.«

Sie traten ins Eßzimmer, wo Amy schon am Tisch saß, während Lucille noch dabei war, das Besteck zu verteilen.

»Da brauchst du natürlich unbedingt einen neuen Badeanzug, wie?« meinte Ted, als er sie losließ, um sich an seinen Platz zu setzen.

»Du sagst es, Dad. Ich glaub, du kannst Gedanken lesen.« Sie setzte sich ihm gegenüber.

»Aber daß du dir ja nicht so ein unanständiges Ding kaufst, wo man alles sieht«, bemerkte Lucille.

Als alle saßen, sprach Ted das Tischgebet und schnitt dann den Braten auf.

»Ach, wenn ich mir das vorstelle«, sagte Mary ausgelassen. »Zwölf Wochen Faulenzen am Strand. Und von morgens bis abends mit Mike zusammen. Ich freu mich unheimlich auf die Ferien.«

Lucille, die den Brokkoli verteilte, meinte: »Ich hoffe nur, dir bleibt auch noch ein bißchen Zeit für mich. Du weißt doch, wir haben dieses Riesenstück Crepe de Chine, das Shirley mir geschenkt hat. Wir müssen unbedingt was draus machen.«

»Aber klar!« versicherte Mary. »Das hab ich nicht vergessen.«

Sie hatten geplant, während der Ferien gemeinsam zu nähen, da der Stoff leicht für zwei Kleider reichte.

Lucille strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Wahnsinnig, diese Hitze. Wir bekommen bestimmt einen heißen Sommer.«

Mary sah ihrer Mutter in das gerötete Gesicht. Vor langer Zeit hatte sie den rosigen Teint ihrer Mutter bewundert; sie brauchte niemals Rouge wie andere Frauen; doch später, sie mußte ungefähr vierzehn gewesen sein, hatte sie entdeckt, daß die rosigen Wangen nicht naturgegeben waren, sondern von einem gelegentlichen nachmittäglichen Cocktail herrührten.

Mittwochs wurde immer schon um halb sechs zu Abend gegessen, weil Ted zum Turnen ging und Lucille zu ihrem Frauenverein. Günstigerweise fand auch der Firmunterricht, an dem Amy derzeit teilnahm, regelmäßig Mittwoch abends statt.

»Gehst du heute abend mit Mike weg?« fragte Ted seine älteste Tochter.

Mary nickte. »Wir gehen ins Kino. Im Corbin läuft ein neuer Film. Mondo Cane. Die meisten aus meiner Klasse waren schon drin.«

»Und wie geht's dir im Firmunterricht, Amy? Brauchst du Hilfe?«

»Ach wo.« Amy schüttelte den Kopf, daß die braunen Haare flogen. »Schwester Agatha hilft mir prima. Es ist eigentlich genau das gleiche wie vor der Kommunion.«

Ted nickte lächelnd und dachte flüchtig an die Tage in Chicago, als er auf dem Priesterseminar gewesen war. Das war vor Ausbruch des Krieges gewesen. 1941 hatte Ted das Seminar verlassen, um an die Front zu gehen, und nach drei Jahren im Süd-Pazifik hatte er sich nicht mehr zum Priester berufen gefühlt. Er hatte eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen und war ein erfolgreicher Börsenmakler geworden, aber manchmal, wenn wie jetzt etwas Erinnerungen weckte, fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er damals auf dem Seminar geblieben wäre.

»Aber das mit den kleinen Babys«, sagte Amy, »find ich trotzdem gemein.«

Aus seinen Gedanken gerissen, sah er Amy blinzelnd an. »Wie meinst du das?«

»Ach, Daddy, du hast ja überhaupt nicht zugehört! Schwester Agatha hat uns letzte Woche vom Fegefeuer erzählt und daß da die ganzen kleinen Kinder sind, die noch nicht getauft sind. Ich finde es gemein vom lieben Gott, daß er so was tut, wo sie doch überhaupt nichts dafür können.«

»Aber du weißt doch, Amy«, sagte Ted bedächtig, »wenn sie nicht getauft sind, dann sind sie immer noch mit der Erbsünde belastet. Und solange man mit der Erbsünde belastet ist, kann man nicht in den Himmel kommen. Darum werden wir ja alle getauft.«

»Und darum«, sagte Mary leise, »haben die Ärzte Mrs. Franchimonis Baby gerettet und Mrs. Franchimoni sterben lassen.«

Lucille hob mit einem Ruck den Kopf. »Wer hat dir das erzählt, Mary Ann?«

»Pater Crispin. Aber vorher hörte ich es von Germaine. Die hörte, wie ihre Mutter mit einer Nachbarin darüber sprach.«

»Ach, Germaine Massey, das hätte ich mir ja denken können. Ihre Eltern sind Sozialisten, das weißt du wohl.«

»Na und?«

»Für mich sind das die gleichen wie die Kommunisten, und ich sage, wenn sie unbedingt den Kommunismus wollen, dann sollen sie doch nach Rußland gehen und dort leben. Mal sehen, ob es ihnen dann immer noch so gut gefällt.«

»Was war denn mit Mrs. Franchimonis Baby?« fragte Amy neugierig.

»Germaine hat mir erzählt, die Ärzte hätten Mr. Franchi-moni gesagt, seine Frau sei in Lebensgefahr, und sie wollten das Kind opfern, um Mrs. Franchimoni zu retten. Aber Mr. Franchimoni sprach mit Pater Crispin darüber, und der sagte, das Kind müsse um jeden Preis am Leben erhalten werden. Also sagte Mr. Franchimoni den Ärzten, sie sollten das Kind retten, und darum mußte Mrs. Franchimoni sterben.«

»Aber das ist ja furchtbar!« rief Amy entsetzt.

»Mary.« Ted legte sein Besteck weg und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »So einfach ist es nicht. Die Sache ist weit komplizierter.«

»Oh, ich weiß, Dad. Nachdem Germaine mir das erzählt hatte, habe ich Pater Crispin danach gefragt, und der hat mir alles erklärt.«

»Was sagte er denn?«

»Er sagte, zwischen dem sterblichen Leben und dem spirituellen Leben sei ein Unterschied, und uns ginge es darum, das spirituelle Leben zu retten. Wenn die Mutter stirbt, sagte er, kommt sie in den Himmel, weil sie getauft ist. Aber man muß auch dem Kind die Möglichkeit geben, getauft zu werden, weil es sonst niemals in den Himmel kommen kann.«

Ted nickte nachdenklich. Dann sah er Amy an. »Verstehst du das?«

»So ungefähr, ja.«

»Wenn man die Mutter rettet und das Kind sterben läßt, kommt nur eine Seele in den Himmel. Aber wenn man die Mutter sterben läßt und das Kind zur Welt bringt und tauft, dann kommen zwei Seelen in den Himmel. Das ist der wichtige Unterschied, Amy: Seelen statt irdische Leben. Pater Crispin hat recht. Okay, Amy?«

»Ja, wahrscheinlich. Es wäre schon schlimm, wenn so ein Baby ins Fegefeuer müßte.«

Danach schwiegen alle. Amy hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt und fragte sich, warum Gott, der allmächtig war und alle Wesen liebte, nicht bereit war, kleine ungetaufte Kinder in den Himmel zu lassen. Lucille dachte an Rosemary Franchimoni und das letzte Gespräch, das sie mit ihr geführt hatte. Ted dachte daran, daß Arthur Franchimoni sich nach dem Tod seiner Frau völlig von der Kirche zurückgezogen hatte. Und Mary fragte sich, während sie mit Widerwillen in ihrem Brokkoli herumstocherte, wann Mike sie abholen würde.

Das Läuten des Telefons brach das Schweigen. Mit einem Sprung war Amy von ihrem Stuhl und flitzte in den Flur hinaus. Sie konnten ihre gedämpfte Stimme hören. Dann kam sie schon wieder hereingelaufen.

»Es ist Dr. Wade.«

»Oh! Was will er denn?«

»Keine Ahnung. Er wartet am Telefon.«

Lucille stand auf und ging hinaus. Die anderen warteten schweigend.

»Er hat mich gebeten, nachher mit Mary in seine Praxis zu kommen«, berichtete sie bei ihrer Rückkehr.