Sie schnüffelte und wischte sich mit der Hand die Augen. »Ich glaube, ich sehe jetzt lieber mal nach, ob das Wasser schon kocht.«
Das Haus strahlte im warmen Glanz der Weihnachtskerzen, und der würzige Duft von Lebkuchen zog durch die Räume. Den Erker schmückte ein hoher, wunderschöner bunt behängter Christbaum, aber auf dem Kaminsims stand auch eine alte Messingmenora zur Feier des Chanukka-Festes im Haus der Familie Schwartz bereit.
Die beiden Männer saßen im Wohnzimmer und tranken Punsch, während Esther Schwartz in der Küche ein Blech mit Plätzchen nach dem anderen in den Herd schob.
»Nun mach doch nicht so ein Gesicht«, sagte Bernie aufmunternd. »Seid fröhlich, und freuet euch .«
»Tut mir leid, Bernie. Mich bedrückt das.«
»Natürlich, das verstehe ich. Aber es wird schon wieder werden. Sie macht bestimmt nur eine Phase durch.«
Jason starrte auf den Watteschnee rund um den Christbaumständer. Gestern abend hatte Cortney angerufen und ihnen mitgeteilt, daß sie Weihnachten nicht nach Hause kommen würde. Sie wollte nach San Francisco ziehen, zu Freunden, die in Haight-Ashbury lebten. Sie wolle endlich das Leben kennenlernen, hatte sie erklärt. Penny hatte gewütet und getobt. Jonas war erst wie betäubt gewesen, dann hatte ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit erfaßt. Er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, Cortney zu überreden, daß sie ihre Pläne noch einmal überdenkt. Ach, wenn er nur vor zwei Jahren eingegriffen hätte! Aber nun war es zu spät; er hatte die
Anzeichen nicht erkannt.
»Du bist zu hart gegen dich selbst«, sagte Bernie. »Teenager sind unberechenbare Wesen. Da weiß man vorher nie, was ihnen plötzlich einfällt.«
»Ich habe mich ja nur für meinen Bericht interessiert.« Jonas trank einen Schluck von seinem Punsch. »Wahrscheinlich hat Penny recht. Ich hätte es ihr einfach verbieten sollen, als sie ausziehen wollte.«
»Ach, weißt du, Jonas«, begann Bernie, und da kam Esther ins Zimmer.
»Jonas«, rief sie, sich die Hände an der Schürze abwischend, »Penny ist am Telefon. Sie sagt, du hast einen Notfall.«
Er stellte sein Glas nieder und folgte ihr hinaus. Eine Minute später kam er, seinen Regenmantel schon in der Hand, wieder ins Wohnzimmer. »Es ist soweit, Bernie. Mary Ann McFarland bekommt ihr Kind.«
In der Auffahrt hielt ein Auto. Die Haustür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Schwere Schritte näherten sich durch den Flur. Dann stand Ted an der Tür zu Marys Zimmer, den feuchten Regenmantel noch halb über einer Schulter.
»Daddy!«
»Hallo, Kätzchen.« Er lief zur ihr ans Bett und nahm ihre Hände. »Ist es wirklich schon soweit?«
»Ja. Ich weiß es.«
»Warum willst du nicht ins Krankenhaus? Wo ist Dr. Wade? Wo ist deine Mutter?«
»Ich bin hier, Ted.«
Er fuhr herum. Lucille stand mit einer Ladung Laken und Handtüchern im Arm an der Tür. Statt des eleganten Kleides, das sie für die Weihnachtsfeier hatte anziehen wollen, trug sie jetzt Rock und Pullover. Sie trat ins Zimmer und legte den Packen Tücher auf die Kommode.
»Wie wär's, wenn du erst mal deinen Mantel ausziehst«, sagte sie zu ihrem Mann.
»Lucille -«
Sie sah ihn nicht an. »Dr. Wade ist schon unterwegs. Er hat gerade angerufen. Er fährt noch im Krankenhaus vorbei, um seine Instrumente zu holen, dann kommt er sofort her.« Sie drängte sich an ihm vorbei ans Bett. »Würdest du mal ein bißchen zur Seite gehen, damit ich Mary Ann helfen kann?«
Er stand auf. Sein Gesicht war grau, und er wirkte unsicher. »Als du angerufen hast -«
»Ja«, sagte sie, während sie ein Handtuch ausbreitete und ihm dabei den Rücken zuwandte, »es war ein Glück, daß Mary wußte, daß du bei diesem Klienten warst. Komm, gehe mal einen Moment, damit ich Mary Ann das Handtuch unterlegen kann. - Kannst du mal kurz deinen Po heben, Schatz, damit ich das Tuch unterschieben kann?«
Mary verzog schmerzhaft das Gesicht, als erneut eine Wehe einsetzte. Sie holte tief Atem und ließ mit geschlossenen Augen die Luft langsam wieder heraus. Als sie die Augen öffnete, sagte sie leise: »Ich glaub, jetzt kommt ein Auto .«
Ted war schon auf dem Weg zur Tür, als es läutete. Er ließ Jonas Wade ein, nahm ihm den nassen Regenmantel ab und führte ihn in Marys Zimmer, wo Lucille ruhig in einem Sessel saß und ihrer Tochter die Hand hielt.
Mary strahlte. »Ich wußte, daß Sie rechtzeitig kommen würden.«
Lucille stand auf, um Jonas Wade Platz zu machen. »Es fing gegen sechs Uhr an, Doktor«, sagte sie. »Die Wehen kommen regelmäßig in einem Abstand von ungefähr vier Minuten.«
Jonas stellte seinen schwarzen Koffer auf den Sessel und legte ein grün eingepacktes Bündel daneben. Dann trat er zu Mary ans Bett. »Ich höre, du willst nicht ins Krankenhaus.«
»Auf keinen Fall.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, aber sein Ton war ernst. »Es wäre aber besser, Mary. Auch für das Kind -«
»Nein, Dr. Wade.«
Einen Moment lang sah er sie schweigend an und spürte, wie ein Klumpen der Angst sich in seinem Magen zusammenballte. Dann sagte er: »Na schön. Dann wollen wir mal sehen.«
Lucille blieb im Zimmer, Ted zog sich mit einer Entschuldigung zurück. Jonas Wade nahm sich Zeit zu einer gründlichen Untersuchung.
»Soweit ist alles in Ordnung«, stellte er fest. Seine Stimme klang spröde. »Gute Herztöne. Der Kopf des Kindes ist in der richtigen Lage, der Muttermund ist ungefähr acht Zentimeter erweitert.« Er deckte Mary wieder zu. »Jetzt können wir nur warten.«
»Wie lange wird es dauern?«
Eine Sturmbö rüttelte am Fenster und peitschte den Regen prasselnd gegen die Scheiben. Jonas Wade schauderte unwillkürlich. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Für eine Erstgeburt scheint es ziemlich schnell zu gehen. Zwei Stunden vielleicht. Mary, laß mich dich ins Krankenhaus fahren.«
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten, Dr. Wade? Einen Kaffee vielleicht?«
»Nein danke, Mrs. McFarland.« Er nahm das grüne Bündel vom Sessel und legte es ans Fußende des Bettes. »Ich habe einen Kollegen gebeten herzukommen. Dr. Forrest. Er ist Kinderarzt. Er bringt einen Inkubator mit. Gibt es hier einen
Platz, wo wir ihn hinstellen können? Und ich habe vom Krankenhaus aus auch gleich die Krankenschwestervermittlung angerufen und eine Pflegerin bestellt .«
Wenig später läutete wieder die Türglocke, dann klopfte es recht zaghaft an Marys Zimmertür.
»Herein«, sagte Jonas Wade.
Mary war erstaunt, als sie Pater Crispin eintreten sah. Er trug eine lange schwarze Soutane und sein Birett. Seine Wangen waren rot vor Kälte, und auf dem schwarzen Stoff der Soutane glänzten Regentropfen.
»Pater!« sagte sie. »Woher wissen Sie Bescheid?«
»Ich habe ihn angerufen«, bemerkte Jonas Wade, während er das grüne Bündel öffnete.
Marys Blick fiel auf die schwarze Tasche, die der Priester trug, und sie erschrak. Pater Crispin sah es an ihrem Gesicht und kam sofort an ihr Bett. Er kniete neben ihr nieder und sah sie mit einem freundlichen Lächeln an. »Ich bin nicht gekommen, um dir angst zu machen, mein Kind, sondern um dir Trost zu spenden.«
Ihr Gesicht lief rot an, als eine schmerzhafte Wehe einsetzte. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Mary: »Es wird keine letzte Ölung geben, Pater -«
»Ich bin nur gekommen, um dich zu segnen und das Kind zu taufen.«
Seine Stimme klang dünn und zaghaft. Mary sah ihm aufmerksam in die kleinen dunklen Augen und war erschreckt, als sie Angst darin erkannte. Hastig stand er wieder auf und setzte sich auf einen Stuhl bei der Tür. Während er die Tasche auf seinen Schoß hob, um sie zu öffnen, warf er einen Blick zu Jonas Wade hinüber, und flüchtig sahen sich die beiden Männer mit tiefer Besorgnis an.
Die Schmerzen der Wehe ebbten ab. Mary öffnete ihre Augen. »Es dauert nicht mehr lange, Pater Crispin. Bald werden Sie Ihre Antwort haben.«
Er zog die buschigen Brauen hoch.
»Es geht los, Dr. Wade.« Mary drückte den Kopf ins Kissen. Ihr Gesicht war weiß. Die Augen waren nur noch schmale Schlitze, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. »O Gott!« schrie sie laut.
Zwei Stunden sollte es noch dauern.
Lucille saß neben ihrer Tochter am Bett, hielt Marys Hände und wischte ihr immer wieder das Gesicht mit einem kühlen feuchten Tuch, während Jonas Wade das Vordringen des Kindes beobachtete.
Auch er schwitzte heftig und war dankbar für die beruhigende Anwesenheit der Mutter. Nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so unzulänglich gefühlt; nie zuvor hatte er außerhalb des sicheren Raums eines Krankenhauses Geburtshilfe geleistet. Jonas Wade fühlte sich wie der letzte Mensch auf einer leeren Erde. Ein Gefühl tiefer Einsamkeit überfiel ihn, ein Gefühl des Alleinseins, in dem er sich nackt und preisgegeben vorkam. Er beneidete den Priester, der unablässig betete, um seinen Trost. Er selbst hatte keinen. Er hatte nur seine Instrumente, die Zange, die Spritze, das Skalpell. Sonst half ihm niemand. Keine Schwester, kein Anästhesist. Er mußte sich einzig auf seine Hände und sein Wissen verlassen.
Einmal, während Mary stöhnend, mit zusammengebissenen Zähnen sich in Wehenschmerzen aufbäumte, blickte er zu Lucille auf und sah die Frage in ihren Augen: Wird es ein gesundes und normales Kind werden? Wird es leben?
Und in der Ecke auf seinem Stuhl saß Pater Crispin und flehte Gott in verzweifeltem Gebet an, ihm die grauenvolle Entscheidung zu ersparen. Asperges me Domine hysopo, et mundabor; lavabis me, et super nivem dealbabor.
»Pressen, Mary! Pressen!«
Sie biß die Zähne aufeinander, die Adern an ihrem Hals schwollen zu blauen Strängen.
Jonas sah den Kopf des Ungeborenen, vom feuchten Haar bedeckt. Dann entspannte sich Mary, und das Köpfchen wich wieder zurück.
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