»Aber Kind, verstehst du denn nicht? Das Kind kommt zu früh! Du mußt ins Krankenhaus. Es kann alles mögliche schiefgehen. Ich ruf einen Krankenwagen -«

»Nein!«

Lucille begann zu wählen. Die Hände fest auf ihren Bauch gedrückt, ging Mary zu ihr, so schnell sie konnte, und riß ihr den Hörer aus der Hand.

»Das ist doch unmöglich!« rief Lucille entsetzt.

»Sie muß hier auf die Welt kommen. Begreifst du denn nicht, Mutter -«

»Mary Ann, hör mir zu.« Lucille nahm ihre Tochter bei den Schultern. »Du kannst das Kind nicht hier gebären. Das wäre gefährlich. Für dich und das Kind. Du brauchst einen richtigen Kreißsaal. Du brauchst einen Arzt und Narkose und die Sterilität des Krankenhauses.«

»Wieso? Jahrhunderte haben Frauen ihre Kinder ohne das alles geboren.«

»Ja, und weißt du, wie viele von den Frauen und den Kindern gestorben sind? Hör mir endlich zu, Mary Ann. Eine Geburt ist nicht so einfach. Es kann immer Komplikationen geben. Und du bist zu früh dran.« Sie schüttelte Mary. »Das heißt, daß etwas nicht in Ordnung ist.«

»Nein. Es ist einfach Zeit für sie, geboren zu werden. Mein Rücken tut mir weh. Da sitzt der ganze Schmerz. Ich möchte mich hinlegen.«

»Ich rufe einen Krankenwagen -«

»Nein.« Mary sank auf die Bettkante. »Zwischen den Wehen geht's mir ganz gut. Mutter, du kannst mich nicht zwingen, ins Krankenhaus zu gehen. Und wenn du es versuchen solltest, brülle und tobe ich die ganze Fahrt.«

»Ach, Mary Ann ...« Lucille setzte sich neben sie. »Warum denn nur? Es ist so gefährlich, Kind.«

»Weil ich es erleben möchte. Ich möchte es ganz bewußt erleben.«

Lucille strich Mary über das Haar und legte ihr dann den Arm um die Schultern. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Mary fühlte sich geborgen und getröstet im Arm ihrer Mutter und genoß es. Sie lehnte den Kopf an Lucilles Schulter und sagte: »Ich möchte das Kind behalten.«

»Ich weiß.« Lucille beugte sich ein wenig vor und drehte den Kopf, um Mary auf die Stirn zu küssen. »Komm jetzt,

Schatz, ich bring dich ins Bett.«

Sogar mit Lucilles Hilfe fiel Mary das Gehen schwer. An der Tür mußten sie Rast machen.

»Wie weit auseinander sind sie jetzt?« fragte Lucille.

»Ich weiß nicht«, antwortete Mary keuchend. »Ungefähr fünf Minuten, denk ich.«

»Kommen sie regelmäßig?«

»Ja.«

»Und werden sie stärker?«

»Ja ...«

Sie wankten durch den Flur, Mary schwer auf ihre Mutter gestützt, und erreichten endlich Marys Zimmer. Mary ließ sich aufs Bett fallen, während ihre Mutter in der Kommode nach einem Nachthemd suchte.

»Wenn doch Dr. Wade endlich käme«, sagte Mary, als sie unter der Decke lag.

Lucille tätschelte ihr die Hand. »Mary Ann, bitte laß mich den Krankenwagen rufen.«

Mary lächelte. »Müßtest du jetzt nicht was tun, Mutter? Wasser heiß machen, Laken in Fetzen reißen oder so was?«

Lucille drängte die Tränen zurück und zwang sich zu einem Lachen. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun müßte.«

»Ruf noch mal bei Dr. Wade an.«

»Gut.«

Aber als sie aufstehen wollte, hielt Mary ihre Hand fest. »Mutter -«

Lucille wandte sich ab. Sie konnte nicht zusehen, wie das Gesicht ihrer Tochter sich bei den Wehen verzerrte. Als die Schmerzen nachließen, sah Lucille auf ihre Uhr und sagte: »Alle vier Minuten.«

»Es geht zu schnell, nicht wahr, Mutter?« Mary war außer

Atem. »Ich - ich möchte Daddy hier haben. Er soll dabeisein.«

»Schön.« Lucille entzog Mary ihre Hand. »Ich rufe ihn an.«

Als ihre Mutter aufstand, fiel es Mary plötzlich ein, und sie sagte hastig: »Nein, warte, laß nur. Es hat ja Zeit. Er wird schon noch rechtzeitig kommen. Vielleicht ist er heute abend gar nicht im Klub -«

»Schon gut, Schatz, reg dich nicht auf. Ich mach das schon alles.«

Mary richtete sich im Bett auf und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aus dem Elternschlafzimmer kam das schwache Geräusch der sich drehenden Wählscheibe des Telefons. Dann konnte sie Lucilles gedämpfte Stimme hören. Sie fragte nach Ted, sprach einen Moment, legte dann auf.

Als sie wieder in Marys Zimmer trat, war ihr Gesicht grau. »Er kommt.«

Mary fiel in ihr Kissen zurück. »Ach, Mutter .«

»Ich hätte nie geglaubt, daß ich das einmal tun würde.« Als Lucille sich wieder aufs Bett setzte, sah Mary die Tränen in ihren Augen.

»Du weißt von Gloria«, flüsterte sie.

»Ich weiß es schon seit fünf Jahren.«

Mary fing an zu weinen.

»Nicht weinen, Schatz.«

»Wie konntest du das aushalten?« rief Mary schluchzend. »Warum hast du nichts dagegen getan?«

Ohne sich die Tränen vom Gesicht zu wischen, nahm Lucille Mary bei den Unterarmen und zog ihre Hände in ihren Schoß. Mit einem mühsamen Lächeln antwortete sie: »Weil ich ihn liebe und mit ihm zusammenbleiben möchte, und wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann akzeptiere ich sie.«

Mary warf den Kopf hin und her. »Ich hasse ihn -«

»Nein, das tust du nicht. Es ist nicht allein seine Schuld. Und bitte, Mary Ann, wir sagen ihm nicht, daß ich es weiß, okay?«

»Wie willst du das denn machen?« fragte Mary. »Du hast ihn doch eben angerufen.«

»Wir sagen, du hättest gewußt, daß er heute abend nicht im Sportklub ist, sondern bei einem Klienten, du hättest zufällig den Namen gehört, und ich hätte dann im Telefonbuch nachgeschlagen. Schaffst du das, Mary Ann?«

»Er verdient es nicht.«

»Es ist nicht für ihn, Kind, es ist für mich. Versprich mir, daß du mir hilfst.«

Mary hob wieder den Kopf und sah ihre Mutter mit großen Augen an. »Es tut mir so leid«, sagte sie leise.

»Es ist schon gut. Es ist unser Geheimnis. Wir -«

»Oh!« Mary zog ihre Hände weg und drückte sie auf ihren Bauch. »Sie sind jetzt stärker«, flüsterte sie. »Wie lange noch, Mutter?«

»Ein paar Stunden, glaube ich.«

»Mutter -«

»Ja.«

»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte abgetrieben?«

Lucille hob mit einem Ruck den Kopf. »Mary Ann! Wie kommst du denn auf den Gedanken?«

»Ich hab dich und Dad damals im Juni miteinander streiten hören. Ich hab gehört, wie du zu Daddy gesagt hast, er soll jemanden suchen, der eine Abtreibung machen -«

»Ach Gott, Mary Ann! Das war doch nicht mein Ernst. Das mußt du doch wissen.«

»Aber darum hab ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Weil ich Angst hatte, du und Daddy, ihr würdet mich dazu zwingen, und dann -«

»Ach Kind! Du Armes!« Lucille streichelte Mary über die Stirn. »Ich war betrunken, als ich das sagte. Was Betrunkene reden, darf man nicht ernst nehmen.«

»Mutter, ich hab solche Angst, daß dem Kind was fehlt, daß irgend was nicht normal ist. Glaubst du, daß das sein kann?«

Lucille schüttelte hastig den Kopf. »Aber nein, ganz bestimmt nicht. Paß mal auf, sie wird sicher ein niedliches kleines Mädchen.«

»Obwohl sie zu früh kommt?«

»Aber ja. Mach dir jetzt keine Sorgen, Schatz. Hör zu, ich geh jetzt mal in die Küche und setze Wasser auf. Ich weiß nicht, wozu, aber das tun sie in Büchern und in Filmen immer.«

Als Lucille aufstand, schloß Mary die Augen. Sie fühlte sich sehr leicht, fast wie berauscht, und ließ sich in diese euphorische Welt hineinsinken.

Als einige Minuten später ihre Mutter zurückkam und sich wieder zu ihr aufs Bett setzte, sagte sie mit träger Stimme: »Mutter, ich hatte eben eine Erinnerung - oder war es ein Traum? Ich weiß nicht.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Ich bin in einem Kinderbett, und es ist dunkel im Zimmer. Von nebenan höre ich Stimmen. Ich höre eine Frau weinen. Sie schreit: >Ich will nicht sterben.< Und dann spricht ein Mann, aber ich kann nicht verstehen, was er sagt. Mutter - warst du das?«

»Du warst damals vier«, sagte Lucille leise. »Und wir wohnten noch im anderen Haus.«

»Was war denn da los?«

Lucille sah ihre Tochter an, während sie sprach. »Ich hätte nie Kinder bekommen sollen, Mary Ann. Das sagten mir die Ärzte schon, als ich dich erwartete. Du warst eine sehr schwere Geburt. Ich lag achtundvierzig Stunden lang in den Wehen, und dann mußten sie doch einen Kaiserschnitt machen. Danach hatte ich Angst. Dein Vater und ich hielten nichts von Verhütung. Wir waren dagegen. Als ich dann wieder schwanger wurde, hatte ich schreckliche Angst.«

»Und was passierte?«

»Gott hat meine Gebete erhört. Nach Amys Geburt wurde meine Gebärmutter entfernt. Das war meine Rettung.« Lucille sah ihrer Tochter in die klaren blauen Augen und wurde innerlich ruhig, während sie sprach. »Weißt du, Mary Ann, ich konnte den Geschlechtsakt nie genießen. Ich nehme an, es lag an meiner strengen Erziehung. Die Kirche hat mich gelehrt, daß es sündig ist, im Zusammensein mit einem Mann Lust zu empfinden, auch wenn man verheiratet ist, und meine Mutter sagte immer, die Schwangerschaft sei Gottes Strafe für die Lust. Für mich bedeutete Enthaltsamkeit Freiheit von Leiden. Ach, ich weiß selbst nicht recht. Ich hatte Angst vor der Sexualität. Ich liebte deinen Vater, Mary Ann, und ich glaube, ich begehrte ihn auch, aber .«

Lucille senkte den Kopf. »Als ich die Totaloperation hatte, war ich froh. Ich war unglaublich erleichtert. Nicht nur daß ich nun keine Kinder mehr bekommen konnte, sondern ich fühlte mich auch von der Pflicht des Geschlechtsverkehrs befreit. Pater Crispin erklärte uns nach meiner Operation, daß wir, dein Vater und ich, von nun an wie Bruder und Schwester zusammenleben müßten, und ich war froh darüber. Ich brauchte keine richtige Ehefrau mehr zu sein. Aber ich hatte auch Schuldgefühle, Mary Ann. Ich liebte ja deinen Vater. Ich liebte ihn sehr. Aber ich wollte nicht mit ihm schlafen. Ich denke, das ist der Grund, weshalb er sich von mir abgewandt hat. Männer haben nun einmal diese Bedürfnisse .«