Welche Beschwernisse sich auch auftürmen mochten, sie würde dieses Leben mit einem neuen Herzen bestehen, befreit von einem Druck, der ihr ganzes Dasein belastet hatte. Auf dieser alten Erde ließ sie nichts als ein kleines Grab am Rande des Forstes von Nieul nahe einem weißen, zerstörten Schloß zurück. Und als einzige Habe nahm sie ihre Tochter mit, das ihr ans Herz gewachsene Kind, ihre Freundin.
Nur noch einige Stunden, und sie würde in jene Zone der Ruhe eintreten, in der die vom Sturm erschöpften Vögel sich wie berauscht von sanften Winden dahintragen lassen.
Das Glück war nahe.
»Sing mir ein Lied, wenn du dich freust«, schloß Honorine.
Angélique lachte auf. Ihre Tochter würde immer die guten Gelegenheiten beim Schopf ergreifen.
Sie begann Florimonds Lieblingslied zu trällern, das Lied von der grünen Mühle. Es ging darin um eine grün umrankte Mühle, einen Teufel, der sie sich aneignen wollte, und den Eigentümer, der sich dagegen wehrte. Die Geschichte war lang.
Während sie sang, entfernte sich Angélique vom Rande der Klippen. Sie mußte nun ein Stück der Heide durchqueren, um wieder auf den Karrenweg zu stoßen, auf dem sie den kleinen Hafen La Palice erreichen würde, dessen erste Hütten schon in der Ferne sichtbar waren.
»Schau doch, dort drüben!« rief Honorine. »Ich sehe den Teufel von der grünen Mühle.«
Ihre Mutter wandte mechanisch den Kopf, um mit dem Blick der Richtung des ausgestreckten kleinen Fingers zu folgen, und was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Fast genau an der Stelle, wo sie sich hätten befinden müssen, wenn sie nicht vom Uferweg abgewichen wären, tauchte eine Gestalt auf. Angélique war schon zu weit entfernt, um die Gesichtszüge der Erscheinung erkennen zu können. Was sie sah, war ein hagerer, hochgewachsener, düster gekleideter Mann, in einen weiten schwarzen Mantel gehüllt, in dem sich der Wind verfing.
Es war Mephisto!
Im selben Augenblick trieben dichtere Schwaden jenes den Ausblick verschleiernden Nebels vom Meer her über die Küste, und Angélique fand sich inmitten einer traumhaften Unwirklichkeit, in der allein der schwarze Flügel des weiten Mantels unheimlich le-bendig schien.
Es schien ihr, als habe sie aufgehört zu leben oder zumindest, als habe ihr Geist sie jäh verlassen, um sich in jenes Land zu begeben, in dem die Ungewissen Phantasievorstellungen Gestalt annehmen, wo der Traum greifbar wird, während sich die Konturen der Wirklichkeit verwischen.
So mußte es sein, wenn man wahnsinnig wurde.
So oft hatte sie an den scherzenden Wunsch des Sieur Rochat gedacht - »Ich wünschte, daß der Rescator vor La Rochelle Anker würfe!« -, und nun sah sie ihn vor sich. Sie lebte inmitten des in allen Einzelheiten von ihren Wunschvorstellungen geschaffenen Bildes.
Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hatte Angst.
Dann glitt der feuchte Atem des Nebels vorüber. Die Farben des Meers nahmen von neuem ihren lebhaften Glanz an. Alles wurde wieder klar, scharf, deutlich umrissen, und selbst La Rochelle wurde in der Ferne sichtbar, weiß und gezackt wie eine Krone aus purem Silber. Der seltsame Mann hob den Arm. Er näherte seinen Augen ein lang ausgezogenes Fernrohr und beobachtete die Stadt. Er hatte jetzt menschliche Substanz bekommen, und wenn seine tintig-schwarze Gegenwart am lichtüberströmten Klippenrand auch nach wie vor beunruhigend blieb, wirkte sie doch weder gespenstisch noch diabolisch.
Fest auf seinen in Lederstiefeln steckenden Beinen stehend, nahm er sich zur Beobachtung Zeit. Dann ließ er das Fernrohr sinken und schien anderen, noch unsichtbaren Personen unten auf dem Strand Zeichen zu geben.
Angélique fand aus ihrer Benommenheit zum Bewußtsein der Situation zurück. Er würde sich umdrehen und die mitten in ihrer Bewegung erstarrte Frau bemerken. Warum war sie plötzlich so überzeugt, daß dieser Mann und diejenigen, die ihn begleiteten, keinen Wert darauf legten, beobachtet oder gar erkannt zu werden?
Sie sah sich um und lief eilig zu einem Tamariskengebüsch, hinter dem sie sich mit ihrer Tochter versteckte. In der sandigen Senkung ausgestreckt, vermochte sie nur wenig von dem zu sehen, was sich weiter vorn zutrug. Zwei Männer waren zu dem ersten gestoßen. Sie sprachen miteinander.
Dann verschwanden sie.
Sie hätte glauben können, geträumt zu haben, wenn nicht die gedämpften Laute menschlicher Stimmen und unregelmäßige, dumpfe Schläge an ihr Ohr gedrungen wären, die vom Hammer eines Zimmermanns hätten herrühren können.
Ein Windstoß trug ihr den scharfen, unverwechselbaren Geruch geschmolzenen Pechs zu. Über den Rand der Klippen, die an dieser Stelle eine ins Land einschneidende Bucht bildeten, erhob sich ein wenig Rauch.
»Rühr dich nicht«, sagte Angélique zu Honorine.
Doch Honorine dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Sich in eine Bodensenke zu ducken wie ein auf der Lauer liegendes junges Kaninchen, entsprach ihrer ungezähmten Natur und schien sie an die frühen Tage ihrer Kindheit zu erinnern.
Angélique schlich sich kriechend durch das Gras bis zum Rand.
Mitten in der Bucht entdeckte sie einen ankernden Dreimaster, der weder Wimpel noch Flagge trug. Ziemlich tief im Wasser liegend und verhältnismäßig groß, konnte er ebensogut ein Holländer wie ein Engländer, aber gewiß kein Franzose sein, und in keinem Fall gehörte er zur Flotte der Rochelleser Kabeljaufischer. Deren Fahrzeuge überschritten nie hundertachtzig Tonnen, und das Fahrzeug dort unten mußte wenigstens zweihundertfünfzig messen.
Was hatte ein Handelsfahrzeug in dieser eine Meile von La Rochelle entfernten und zum Ankern kaum geeigneten Bucht zu schaffen, denn es war bekannt, daß die steilen, aber niedrigen Klippen wenig Schutz boten und daß der Grund schlammig und ziemlich flach war. Nur Fischerbarken flüchteten sich gelegentlich hierher.
War es denn überhaupt ein Handelsschiff? Angéliques Augen hatten sich im Mittelmeer darin geübt, gewisse Maskierungen zu erkennen. Sie war sich jetzt sicher, daß das Schiff ein untergezogenes doppeltes Deck mit einer Batterie Kanonen besaß und daß die verkleideten, selbst auf nahe Entfernung fast unsichtbaren Stückpforten, wenn es nötig war, beim Öffnen die schwarzen Mündungen eines guten Dutzends Geschütze enthüllen würden.
Die scheinbar harmlosen Säcke, die an Deck dicht an der besonders breiten und hohen Bordwand aufgetürmt waren, schienen Feldschlangen zu verbergen. Die Anwesenheit eines Wachtpostens in ihrer Nähe war verräterisch genug.
Andere mit Planen bedeckte Haufen bestanden offensichtlich aus jenen langen Holzstangen, jenen Bootshaken und Strickleitern, deren man sich auf See bedient, um den Angriff eines andern Schiffes abzuwehren - oder selbst einen Angriff zu führen.
Eine Barke löste sich vom Schiff und steuerte dem Ufer zu. Angélique verlor sie aus dem Blick, als sie anlegte.
Vorsichtig schob sie sich weiter vor und hob vorsichtig den Kopf.
Die Stimmen klangen jetzt lauter zu ihr herauf; trotzdem vermochte sie nicht zu unterscheiden, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Unter sich bemerkte sie über einem im Geröll brennenden Feuer einen großen Kessel, in dem schwedisches Pech, auch Teer genannt, das zum Ausbessern der Schiffe diente, leise vor sich hin brodelte. Kleine Tonnen waren dicht daneben aufgereiht. Matrosen, von denen sie nur die Schultern und die struppigen oder mit leinenen Mützen bedeckten Kopfe sah, tauchten Wergsträhnen in den Teer und legten sie nebeneinander in Körbe, die offenbar darauf warteten, in die Barke verladen zu werden.
Deren Besatzung war zumindest seltsam. Jeder der vier Männer, die sie bildeten, entstammte einer anderen Rasse, und sie schienen sich zusammengetan zu haben, um im Verlaufe eines nautischen Festes ein Ballett der vier Weltteile aufzuführen. Einer von ihnen, mager und flink, hatte den gebräunten Teint und die großen Augen der mittelmeerischen Rassen: ein Sizilianer oder Grieche, vielleicht auch Malteser. Ein anderer, stämmig wie ein Bär unter seiner Pelzmütze, schien sich in seinem steifen Kasack und seinen Stiefeln aus Seehundsfell nicht rühren zu können. Der dritte war braun wie ein Pfefferkuchen und hatte leicht schräge Augen. Die Muskeln seiner mächtigen, nackten Arme traten hervor, während er ohne sichtbare Anstrengung eine Tonne von respektabler Größe, die Teerstücke enthielt, auf seinen Kopf hob
- zweifellos ein Türke. Der letzte, ein hochmütiger, gigantischer Maure, dachte nicht daran, an den groben Verrichtungen der anderen teilzunehmen, und begnügte sich damit, mit der Muskete im Arm die Umgebung zu überwachen.
»DiePiraten! ...«
Der Vorwand, den der Polizeipräfekt zum Anlaß genommen hatte, die Stadttore zu schließen, traf also zu. Die angeblich beobachteten Piraten existierten also wirklich. Ihre Kühnheit übertraf alle Vorstellungen: nur ein paar Kabellängen trennten sie vom Fort Saint-Louis in La Rochelle, und nicht viel weiter war es nach Saint-Martin de Ré, dem Liegeplatz des königlichen Geschwaders.
Die Segel waren so gegeit, daß sie sehr schnell gesetzt werden konnten: ein Zeichen dafür, daß es sich um ein auf der Lauer liegendes, beim geringsten Alarm segelfertiges Schiff handelte. Es mutete merkwürdig an, daß es sich unter solchen Bedingungen zum Kalfatern anschickte. Zweifellos sollte es oberflächliche Beobachter irreführen, die von der Küste oder von Bord eines kreuzenden Schiffes aus das Treiben des Dreimasters verfolgen mochten.
Das aus geringer Entfernung kommende Geräusch die Klippe hinabpolternden Gerölls ließ sie sich dichter an den Boden schmiegen. Einigermaßen überraschendes und unerwartetes Grunzen wurde hörbar, gefolgt von durchdringenden, schrillen Schreien, die unheilvoll hätten anmuten können, wenn sie nicht von zwei stämmigen Schweinen ausgestoßen worden wären, die von ihren Besitzern, Bauern aus dem Weiler Saint-Maurice, mit einiger Mühe zum Strand hinunter getrieben wurden. Der Matrose mit der Pelzmütze ging ihnen entgegen und begann die Preise auszuhandeln. Offenbar vertrugen sich die Bauern mit dem in ihrer Nachbarschaft ankernden Piratenschiff recht gut. Nichtsdestoweniger handelte es sich um eine Schiffsladung zu allem bereiter Abenteurer. Diese Piraten waren durchaus wirklich. Sie sah sie, hörte sie, berührte sie fast. Nur der Mann im schwarzen Mantel schien nicht wirklich, konnte es einfach nicht sein. Es war unmöglich, daß er leibhaftig gekommen sein sollte, um vor La Rochelle Anker zu werfen. Gerade er! ... Warum er? ... Sie hatte geträumt. Übrigens war er nicht mehr zu sehen. Abgesehen von dem reglos stehenden Wachtposten schien das Schiff verlassen. Sanft wiegte es die Dünung, und das Licht glänzte auf dem vergoldeten Schnitzwerk des Heckaufbaus, der durch seine Ansehnlichkeit und seinen Prunk frappierte. Seine Verzierungen wären auch durch eine königliche Galeere nicht in den Schatten gestellt worden, und Angélique glückte es, zwischen ihnen einen in goldenen Lettern geschriebenen seltsamen Namen zu entziffern: Gouldsboro.
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