Sie beunruhigte sich nicht darüber. Sie hatte genug Zeit vor sich, und obwohl sie es vorgezogen hätte, die Mission, mit der man sie betraut hatte, rasch zu Ende zu führen, begann sie diesen unvorhergesehenen Spaziergang zu genießen.
Honorine trottete unermüdlich an ihrer Seite. Seit dem Tag der Ermordung der beiden Polizeispitzel wollte Angélique sie nicht mehr zurücklassen, wenn sie fortging. Übrigens verließ sie nur noch selten das Haus. Nur mit Widerwillen betrat sie die Straße. Überall sah sie verdächtige Gestalten, und immer glaubte sie, in den Augen der Passanten ein rätselhaftes Ausweichen zu lesen. Das Netz um sie zog sich zusammen; sie war dessen sicher.
Die Stunden, die Tage verstrichen ruhig, aber Angélique schienen sie wie der Sand, der unter festen Fundamenten ins Gleiten kommt. Der Sand würde weiter und weiter gleiten, und plötzlich würde alles zusammenstürzen.
Um sie herum betätigten sich die Verschworenen der Flucht mit einer Emsigkeit, die ebenso bemerkenswert war wie die Verschwiegenheit, die ihre Aktivität umgab. Im Viertel hatte sich scheinbar nichts geändert. Man hätte niemand beschuldigen können, sein Gepäck zum Aufbruch vorzubereiten. Trotzdem gelangten jede Nacht mysteriöse Ballen zum Hafen. Die wunderlichsten Schätze fanden ihren Platz im Bauch der Sainte-Marie, des kürzlich von den afrikanischen Küsten eingelaufenen Sklavenschiffes. Ob arm oder reich, jeder packte zusammen, was ihm am meisten am Herzen lag. Zwar wollte man fort, aber deswegen hatte man noch lange nicht die Absicht, ohne eine bestimmte Steppdecke aus gelbem Satin zu schlafen, noch in einem anderen eisernen Topf zu kochen als dem, der schon der Zubereitung so vieler nahrhafter Mahlzeiten gedient hatte.
Der Reeder Manigault hatte lange Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die darauf bestand, die prachtvolle Fayencen-Sammlung mitzunehmen, die der Stolz ihrer Anrichte war und die ein namhafter, einstmals nach La Rochelle geflüchteter Hugenotte, Bernard Palissy, geschaffen hatte. Der Reeder tobte, gestand schließlich hier eine Schüssel, dort eine Suppenterrine zu, wollte aber seinerseits nicht auf seine Tabaksdosen aus ziseliertem Gold verzichten.
In den Lagerhäusern am Hafen mischte sich der Tiergeruch der schwarzen Sklaven von der Guineaküste, die sich über die Leiden des Exils durch den Gesang wehmütiger Klagelieder hinwegtrösteten, mit den Düften der Vanille, des Pfeffers und Ingwers. In den Eingeweiden der Sainte-Marie prüften Schmiede die Ketten, die zum Sklaventransport zu den Inseln dienen sollten. Nichts ließ vermuten, daß Passagiere ganz anderer Art deren Plätze einnehmen würden.
Der Gedanke, während der Fahrt im Sklavendeck hausen zu müssen, berührte Tante Anna überaus peinlich.
»Man wird dort nicht atmen können«, behauptete sie. »Und alle Kinder werden an Skorbut sterben.«
Mehrmals täglich sortierte sie die Bücher, die unbedingt mitgenommen werden mußten: die Bibel, eine mathematische, eine astronomische Abhandlung ... Der Stapel war noch immer zu hoch, und das alte Fräulein seufzte.
Angélique hatte in dem kleinen Laden eines Levantiners einen Vorrat Feigen und getrockneter Trauben für die Kinder gekauft. Von Savary wußte sie, daß sie den Ausbruch des Skorbuts zu verhindern vermochten: jenes von Blutungen des Zahnfleischs begleiteten Aufschwellens des ganzen Körpers, das gewöhnlich tödlich verlief.
Jedermann beschäftigte sich mit seinen Vorbereitungen. Jeder war überzeugt, daß alles gut vonstatten gehen würde. Und wirklich ließ sich auch alles gut an. Angélique schwankte zwischen festem Vertrauen und heimlicher Unruhe. Ihr Instinkt konnte sie nicht täuschen, und sie witterte bereits Bedrohungen, die noch keine Gestalt angenommen hatten. Aber wie solle man sie erkennen? War etwa die Tatsache als gefährliches Zeichen zu werten, daß Monsieur de Bardagne nicht von seiner Reise zur Hauptstadt zurückkehrte, oder jene andere, seltsamere, daß das Verschwinden der beiden zur Polizei gehörenden Männer weder Kommentare noch Nachforschungen in der Stadt ausgelöst hatte? ... Verbarg sich hinter dem kürzli-chen Beschluß des Polizeipräfekten, die Stadttore Tag und Nacht geschlossen zu halten und alle, die hinaus oder hinein wollten, mit größter Sorgfalt zu prüfen, eine Maßnahme zur engeren Überwachung der Hugenotten, oder mußte man im Gegenteil den Vorwand als stichhaltig ansehen: daß nämlich, wie behauptet wurde, Piraten die Küste unsicher machten? Zwar hatte man nicht wie im Mittelmeer bewaffnete Überfälle zu fürchten, aber die braven Kaufleute wußten sehr wohl, was sonst von ihnen zu erwarten war. Die Piraten warfen in der Umgebung Anker, mischten sich in der Stadt unter die Passanten, boten die Früchte ihrer Raubzüge zu konkurrenzlosen Preisen an, ohne auf die Einfuhr und Verkauf ihrer Waren lastenden Steuern bezahlen zu müssen. Es gab immer Händler, die sich in der Hoffnung auf einen ansehnlichen, steuerfreien Gewinn bereitfanden, mit ihnen halbpart zu machen. Traf es zu, daß in den letzten Tagen verdächtige Individuen beobachtet worden waren, die Pelzwerk aus Kanada feilgeboten hatten? War nur ihretwegen ein ganzes Dragoner-Regiment in die Stadt beordert worden? Was auch immer daran sein mochte - die Tore waren von nun an geschlossen und wurden streng überwacht.
Aus diesem Grund war Angélique beauftragt worden, Martial und Séverine von der Ile de Ré abzuholen. Früher wäre es Maître Gabriels Aufgabe gewesen, seine beiden ältesten Kinder zu gegebener Stunde zurückzuschaffen, aber den Protestanten gelang es nur noch unter größten Schwierigkeiten, die Stadt zu verlassen. Man notierte ihre Namen, befragte sie lange, zählte sie und unterwarf sie bei der Rückkehr der gleichen Prozedur.
Andererseits drängte die Zeit. Die heimliche Abfahrt stand unmittelbar bevor. Die holländische Flotte war bereits angekündigt.
Wie oft hatte Angélique sich nicht schon aus dem Fenster gebeugt und Anselme Camisot drüben auf dem Wall gefragt:
»Sind die Holländer schon in Sicht?«
Der Wächter des Laternenturms schüttelte verneinend den dicken Kopf.
»Noch nicht. Warum so ungeduldig, Dame Angélique? Solltet Ihr einen Anbeter unter ihnen haben?«
Schon ging das Gerücht um, daß sie in Brest Anker geworfen hätten. In zwei bis drei Tagen mußten sie hier sein. Am Horizont würden ihre Segel aufblühen. In ein paar Stunden würde das Meer weiß und voller Bewegung sein wie ein Strand voller Vögel. Derbe Burschen mit rauhen, kehligen Stimmen, deren Hautfarbe an die rosige Tönung des Schinkens erinnerte, würden den Hafen überfluten.
Und eine Handvoll gejagter Männer, Frauen und Kinder würden sich in einer dunklen Nacht hastig an Bord eines Schiffes schleichen, Schatten nur, flüsternde Stimmen, Weinen der kleinen Kinder, die man durch sanftes Wiegen zu beruhigen suchte ...
Sie entflohen der Stadt, ihrer Stadt, der Stadt ihrer Väter. In dieser Nacht würde das stolze protestantische La Rochelle die Früchte seiner Niederlage ernten .
Unten im Schiffsbauch würden sie angstvoll die Abfahrt erwarten, auf die von fern her dringende Befehle, den Schritten über ihren Köpfen lauschend. Die Schiffsplanken würden knarren. Sie würden spüren, wie das Schiff sich zu regen begann, wie die Bewegung der See sich allmählich zu ungebrochenem Wogen wandelte. Später käme der Augenblick, in dem sie endlich ohne Gefahr aus dem übelriechenden Sklavenraum an Deck klettern könnten. Das Meer um sie herum wäre verlassen, und sie würden am leeren Horizont das Bild ihrer Freiheit erkennen.
Tief sog Angélique die mit dem Geruch des Salzes und des bitteren Wermuts gesättigte Luft in ihre Lungen. Die kleinen dunkelgelben Blüten sprossen in den Tälern zwischen den Dünen. Honorine pflückte sie eifrig.
»Beeil dich, Liebling«, sagte Angélique.
»Ich bin müde.«
»Dann werde ich dich eben tragen.«
Sie kniete nieder, und das Kind kletterte auf ihren Rücken.
Es tat ihr wohl, sich im Gehen gegen den Wind zu stemmen und dabei die Last dieses leichten Bündels zu spüren. Honorines zerzaustes, seidiges Haar streichelte ihr die Wangen. Sie hörte das Mädelchen lustig lachen. Sie liebte das von tausend Geräuschen - dem des Windes, der Brandung auf dem Geröll am Fuß der Klippe, der Vogelschreie, die sich aus den Binsen erhoben - erfüllte Schweigen der Heide. Angélique stellte fest - und sie war überzeugt, Honorine teile ihre Meinung -, daß sie beide nicht für die Stadt geschaffen waren. Außerhalb der Wälle fanden sie unversehens die Umgebung wieder, in der sie sich zu Hause fühlten: die Heide, den weiten Horizont und die Anziehungskraft dessen, was sich jenseits von ihm wie ein Versprechen verbarg. Dieses Land lag flach, ohne Wälder, nackt unter dem ungreifbaren Schleier eines grünlichen Nebels, der an diesem Tage die aus Dünen, Mooren und dürftigen Feldern bestehende Ebene ins Unendliche dehnte. Zur Rechten war in der Ferne eine Ansammlung elender Hütten zu sehen: der Weiler Saint-Maurice.
Auf der Seite des Meers erhob sich von Richelieus Deich noch immer der von Muscheln umkleidete Steinhaufen, flankiert von kreuzweise verbundenen Balkenstümpfen, die faulend in der Strömung versanken.
Angélique warf nur einen zerstreuten Blick hinüber. Vor ihr öffnete sich das Meer von Pertuis, die Enge zwischen den Inseln von Oléron und Ré, noch vom Land umfangen, doch schon durchtränkt von der Grenzenlosigkeiten des Ozeans.
Honorines kleine Arme klammerten sich fester um ihren Hals.
»Freust du dich?« fragte sie ihre Mutter mit der nachsichtigen Sanftmut, die verzogenen Kindern vorbehalten ist. »Ja, ich freue mich«, erwiderte Angélique.
Und es war wahr. Die Zeit der Befreiung war nahe. Aus dem Anblick dieser noch wilden, von den Menschen und ihren Leidenschaften unabhängigen Landschaft gewann sie die Sicherheit, daß das Meer sie nicht im Stich lassen würde. Eine neue Seite ihres Lebens würde aufgeschlagen werden.
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