Sie lauschte angstvoll auf die Geräusche im Hof. Schreie drangen zu ihr herüber.

Dann sah sie Maître Gabriel von zwei Gendarmen flankiert vorbeigehen. Unvermittelt beschloß sie, sich so zerzaust, wie sie war, davonzumachen, Honorine zu holen und irgendwohin zu fliehen, weit fort, immer weiter, bis sie erschöpft zusammenbräche.

Der Abmarsch des Steuereinnehmers und seiner Begleiter bewahrte sie vor diesem unüberlegten Entschluß. Die mit dem fiskalischen Proviant beladenen Karren holperten schwerfällig über das Pflaster. Die Torflügel schlossen sich hinter ihnen.

Staub tanzte in der safranfarbenen Luft der Dämmerung. Maître Berne kam über den Hof auf Angélique zu. Der Ausdruck seines Gesichts verriet seine Sorgen, aber er schien ruhig. Er schenkte sich dennoch ein Glas Branntwein ein. Es war nicht einfach für ihn gewesen, das neugierige Herumschnüffeln der Schreiber zu überwachen, seine Gehilfen zu veranlassen, das geforderte Salz von einer Seite des Haufens zu nehmen und nicht von der anderen und sich zugleich der argwöhnischen Aufmerksamkeit des Steuerbeamten zu entziehen.

»Ich habe Euch nicht helfen können«, sagte Angé-lique. »Ich hätte mich verraten.«

Der Kaufmann machte eine müde Bewegung.

»Das geht auf das Konto Baumiers«, wiederholte er. »Ich bin jetzt sicher, daß er es war, der Euch die beiden Strolche auf die Spur setzte . Der Besuch des Steuerbeamten sollte der Konstatierung des Streits und des Widerstands gegen die königliche Gewalt unmittelbar folgen. In ein paar Stunden werden sie sich zu fragen beginnen, was wir mit diesen beiden Halunken angefangen haben. Deshalb habe ich meine Gehilfen und die Packer fortgeschickt und das Lager für heute geschlossen. Wir können nicht länger damit warten, uns der Leichname zu entledigen.«

Er warf einen Blick zu dem vom Abendlicht erfüllten Ausschnitt der Tür.

»Es wird bald Nacht werden. Dann können wir handeln.«

Sie warteten in der Dämmerung, schweigend und ohne den Versuch zu machen, sich einander zu nähern.

Die unmittelbar drohende Gefahr hielt sie in Spannung und beschäftigte ihre Gedanken. Sie verharrten reglos wie bedrohte Tiere, die mit klopfenden Herzen auf dem Grund ihres Baus, ihrer letzten Zuflucht lauern.

Das kleine Stück Himmel im Türausschnitt färbte sich in den irisierenden Tönungen der Muscheln, und vom Hafen her vernahmen sie fernes Geräusch, den rhythmischen Atem des Meers.

Die Nacht brach kühl, blau und sanft herein.

»Es ist soweit«, sagte der Kaufmann.

Sie betraten den Salzschuppen. Aus einem Nebengelaß zog Maître Berne einen hölzernen Schlitten.

Erneut gruben sie gemeinsam in dem bitteren Salzschnee, der ihre Hände aufriß. Die Leichen wurden herausgehoben, auf den Schlitten gelegt und mit Kornsäcken und Pelzballen bedeckt.

Der Kaufmann ergriff die Deichsel. Sobald sie den Schuppen auf der Rückseite verlassen hatten, drehte er mehrmals den Schlüssel im Schloß.

»Niemand soll ihn betreten, bevor ich ihn noch einmal inspiziert habe.«

Er packte eine der Deichselstangen des Schlittens, Angélique die andere. Die Holzkufen glitten leicht und fast lautlos über die kleinen, runden Kiesel aus Kanada, mit denen die Straßen und Gassen der Stadt gepflastert waren. Dieses besondere Pflaster verdankte man einem sparsamen Bürgermeister, der auf solche Weise die Kieselladungen aus Saint-Laurent in Neufrankreich nutzte, die man einstmals den ohne Fracht zurückreisenden Schiffen als Ballast mitzugeben pflegte. Seitdem war man genötigt, Schlitten zu verwenden. Karren mit eisenbeschlagenen Rädern hätten einen höllischen Lärm verursacht. Angélique und ihr Begleiter hasteten mit ihrer unheimlichen Last wie Schatten dahin.

»Das ist die günstigste Stunde«, raunte Maître Gabriel. »Die Lampen sind noch nicht angezündet, und in unserem Hugenottenviertel läßt man uns noch länger als die anderen warten, um uns zu bestrafen .

Die Bosheit hat manchmal auch ihre Vorteile.«

Die Passanten, deren Weg sie kreuzten, kamen gar nicht auf die Idee, sich zu fragen, was Maître Berne und seine Magd da transportierten, denn man sah nicht weiter als in einem rußigen Ofenloch.

Der Kaufmann schien zu wissen, wohin er wollte. Immer von neuem bog er in schmale Gäßchen ein, deren verwirrendes Kreuz und Quer sie offenbar um belebtere Straßen herumführen sollte.

Angélique schien es, als seinen sie schon seit Stunden unterwegs, und war erstaunt, sich plötzlich nicht allzu weit von ihrem Haus vor der Toreinfahrt eines ihrer Nachbarn, des Papierhändlers Jonas Mercelot, wiederzufinden.

Ihr Herr hob dreimal den bronzenen Türklopfer. Der Papierhändler öffnete ihnen selbst.

Er war ein weißhaariger, liebenswürdiger, sehr gebildeter Mann, dem einstmals so gut wie alle Papiermühlen des Angoumoi gehört hatten.

Durch die Steuern und das Verbot, Spezialhandwerker seines eigenen Glaubens weiterzubeschäftigen, ruiniert, waren ihm nur sein schönes Haus in La Rochelle und ein kleiner Handel mit Kunstpapier geblieben, dessen Herstellungsgeheimnisse nur ihm bekannt waren.

»Ich habe da etwas für deinen Brunnen«, sagte ihm Berne.

»Ausgezeichnet! Tretet ein, meine Freunde!«

Er half ihnen mit größter Bereitwilligkeit, den Schlitten in einen von frischem Apfelduft erfüllten Keller zu ziehen, und hielt, um den Weg zu beleuchten, die Laterne hoch.

Der Kaufmann lud die Pelze und Kornsäcke ab. Die mit Blut und Salz beschmierten Leichen wurden sichtbar, und der sanfte Papierhändler betrachtete sie, ohne Überraschung zu zeigen.

»Würde Dame Angélique uns den Gefallen erweisen, die Laterne zu halten? Ich werde dir beim Tragen helfen«, sagte er nur mit seiner üblichen Höflichkeit.

Berne schüttelte den Kopf.

»Nein, es ist besser, wenn du uns führst. Sie kennt den Weg nicht.«

»Richtig.«

Einmal mehr mußte Angélique zwei starre Beine aufnehmen, die ihr so schwer wie Stein schienen. Ihre Arme schmerzten sie. Hinter dem Papierhändler stiegen sie drei steinerne Stufen hinunter, die in ein mit Papierstapeln, Lumpenballen und Säurebehältern vollgestopftes Magazin führten. Im Hintergrund rückte Maître Mercelot nicht ohne Mühe eine altmodische Handpresse beiseite, die ein schmales, wurmstichiges Pförtchen verbarg. Der Schlüssel dazu war in einer Vertiefung der Mauer versteckt. Das Pförtchen öffnete sich auf eine glücklicherweise ziemlich kurze Wendeltreppe.

Sie standen nun in einem großen, unterirdischen Saal, dessen niedrige, gewölbte Decke von starken romanischen Pfeilern getragen wurde. In seiner Mitte befand sich ein Brunnen. Jonas Mercelot schob den mit einem Vorhängeschloß versehenen Deckel beiseite, und das brausende Geräusch von anschlagenden und wieder zurückflutenden Wogen drang aus dem Schacht herauf.

»Dieser Brunnen steht mit dem Meer in Verbindung«, erklärte Maître Berne Angélique. Er mußte die Stimme heben, um sich verständlich zu machen: »Was man hineinwirft, wird auf den Felsen zermalmt und von der Strömung fortgerissen.«

Wie aus seinem Gefängnis befreit, grollte und toste der Ozean in lang hinhaltendem Tumult, den das Echo zurückwarf.

In diesem an- und abschwellenden Getöse schienen die Bewegungen einem bösen Traum zu entstammen. Die Leichen, die man packte, die man über die Einfassung hob und in den Schlund der tosenden Finsternis warf, versanken, ohne daß ein Laut ihres Falls zu vernehmen gewesen wäre. Sie verschwanden wie aufgeschluckt, schienen sich spurlos aufzulösen.

Der schwere Deckel wurde wieder an seinen Platz gerückt, und der Lärm war nur noch gedämpft zu hören. Angélique stützte sich auf das Brunnengeländer und schloß die Augen. »Es ist nicht das erstemal«, hatte Maître Gabriel gesagt.

Dieses dumpfe Geräusch, das noch immer heraufdrang, war das heimliche La Rochelle, durchklungen von dem ihm verbündeten Meer und dem Gesang der Psalmen, die sich im 16. Jahrhundert aus seinen unterirdischen Kellern erhoben, in denen sich die ersten Anhänger der calvinistischen Sekte vereinigten.

Es war das Echo des gnadenlosen Kampfes, den sich in diesen Mauern zwei unversöhnliche Widersacher geliefert hatten und der an Tagen der Verfolgung mit derselben Bitterkeit, denselben von beiden Seiten beschönigten Verbrechen wiederauflebte.

Wie konnte man jemals dem Blut, der Furcht entrinnen?

Honorine lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch, die Stirn gegen die kalten Fliesen gedrückt, wie ein kleines Tier, das ohne Hoffnung den Tod erwartet.

»Sie hat Euch den ganzen Tag gesucht«, erklärte Abigaël. »Sie schien uns ängstlicher als gewöhnlich. Sie spähte unter die Möbel. Sie verlangte, daß wir die Fenster und Türen öffneten. Sie rief Euch nicht, aber zuweilen stieß sie einen Schrei aus, der uns weh tat.«

»Wir boten ihr Näschereien an. Sie wollte sie nicht.«

»Ich habe ihr mein Holzpferd gegeben«, erklärte Laurier, »aber sie mochte nicht damit spielen.«

»Vielleicht ist sie krank?«

Mit sorgenvollen Mienen standen sie um das kleine Bündel herum, das ausgestreckt auf dem Boden lag. Ihre Betroffenheit wuchs noch, als sie den Zustand entdeckten, in dem sich Angélique ihnen darbot.

»Aber was ist Euch geschehen?« rief Tante Anna.

»Nichts Ernstliches.«

Sie hob ihre Tochter auf, drückte sie heftig an sich.

»Ich bin ja da, kleines Herz. Ich bin ja da.«

»Honorine hat gefühlt, daß ich mich in Gefahr befand«, dachte sie. »Deshalb war sie unruhig.«

Honorine war in der Gefahr geboren. Ihr Instinkt ließ sie das lautlose Nahen des riesigen, düsteren Tieres erkennen. Sie mußte es immer spüren, geduckt hinter den viereckigen Scheiben der Fenster.

An den Hals ihrer Mutter geklammert, forderte sie gebieterisch, daß man die Holzläden vorlegte, um die Nacht auszuschließen. Jedermann beeilte sich, ihrem Verlangen nachzukommen; erst dann fand sie sich bereit, ihre Umklammerung zu lösen und zu lächeln. Ihre Mutter war da, und aus den Spiegelungen der Scheiben war das schwarze, grausame Antlitz des Unheils verschwunden.