»Trinkt, Dame Angélique . Ihr habt es nötig.«

Und da sie sich nicht rührte, setzte er sich neben sie, zwang sie, den Kopf zu heben und näherte das Glas ihren Lippen. Sie trank widerwillig ein paar Schlucke, hustete. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.

»Warum mußte das alles geschehen?« fragte sie, mit verstörter Miene um sich blickend. »Ich ging nach Hause ... sie folgten mir, holten mich schließlich ein ... Ich hoffte, bis hierher zu kommen, um Euch um Hilfe bitten zu können ... Sie wurden immer unverschämter . und dann, plötzlich .«

»Laßt das«, sagte er. »Ihr habt nichts mehr zu fürchten. Sie sind tot.«

Ein heftiger Schauder überlief sie.

»Tot? Ist es nicht furchtbar? ... Überall Tote auf meinem Weg.«

»Es muß Tote geben«, sagte Berne, dessen Augen ihren seltsamen Glanz behielten, barsch. »Der Tod ruft den Tod, das Verbrechen ruft das Verbrechen. In der Bibel steht geschrieben: >Du wirst Leben für Leben geben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß .. .<«

Angélique schob sich aus der Bank. Sie erhob sich und wich vor ihm zurück, als habe sie einen Feind an Ihrer Seite entdeckt.

»Ich hasse die Männer«, sagte sie mit dumpfer Stimme, »ich hasse sie alle, und ich hasse mich selbst. Oh, ich möchte verschwinden. Ihr seht mich an, als ob ich närrisch sei. Ihr möchtet vielleicht, daß ich ruhig bin, aber ich habe genug davon, und ich werde nicht ruhig bleiben.«

»Wie jung und kindlich Ihr plötzlich ausseht! Ihr sprecht ganz und gar nicht mehr wie jene erfahrene Frau, die um mich zu sehen ich gewöhnt bin.«

»Ihr versteht mich nicht, Maître Berne ... Die Dämonen sind in mein Schloß eingedrungen, sie haben es in Brand gesteckt, haben meine Diener niedergemacht, meinen jüngsten Sohn ermordet, und mich, mich haben sie . dieser Nacht wegen ist Honorine geboren worden . versteht Ihr? . Das Kind des Verbrechens und der Notzüchtigung . Und Ihr wundert Euch, daß ich es nicht lieben kann!«

Anfangs schien er zu glauben, sie deliriere, doch jäh begriff er, daß sie auf vergangene Ereignisse anspielte.

»Laßt Eure Erinnerungen ruhen. Ihr habt sie vergessen.«

Auch er erhob sich nun, über die Bank hinwegsteigend. Angstvoll sah sie ihn sich nähern. Und zugleich wünschte sie, ihn bei sich zu haben, ganz dicht bei sich, um sich auf ihn stützen zu können und einmal mehr zu spüren, ob es wahr sei, daß das Wunder stattgefunden habe, ob es ihr von neuem gewährt sei, sich in den Armen eines Mannes glücklich zu fühlen.

»Eben hattet Ihr alles vergessen«, murmelte er sanft, »vor kurzem noch . als Ihr Euch an mich lehntet .«

Er berührte sie. Seine Hände legten sich um ihre Taille, und da sie ihn nicht abwehrte, zog er sie an sich.

Die Spannung, die sie in Bann hielt, ließ beide erzittern, und Angélique leistete keinen Widerstand.

Sie war kalt und gefühllos wie eine Jungfrau, der Gewalt angetan wird, aber die Neugier auf sich selbst blieb stärker. »Eben hatte ich keine Angst«, sagte sie bei sich. »Es ist wahr ... Doch was geschieht, wenn er mich jetzt küssen will?«

Das erregte Gesicht, das sich nun über sie beugte, stieß sie nicht ab. Es mißfiel ihr nicht, die Berührung dieses großen, kräftigen, von Verlangen besessenen Körpers zu spüren. Die Persönlichkeit dessen, der sie so an sich drückte, verschwamm. Sie vergaß seinen Namen und wer er war. Irgendein Mann hielt sie in seinen Armen, dessen ungestüme Forderung sie ohne Erschrecken erkannte.

Unaussprechliche Erleichterung überkam sie und ließ sie, an die breite Brust gepreßt, die Luft in langen, ruhigen Zügen einsaugen wie eine Ertrinkende, die wieder Atem schöpft. Also lebte sie noch!

Ihr Kopf sank weich zurück.

Durstige Lippen, die es noch nicht wagten, die ihren zu berühren, verloren sich in ihrem Haar. Sie begann die Zärtlichkeit der Hand zu spüren, die auf ihrer nackten Haut zitterte. Die Aufmerksamkeit, mit der sie sich von neuem entdeckte, absorbierte alle anderen Regungen.

Ein Wort genügte, dessen gefährliche Bedeutung nur sie verstehen konnten, um sie wieder zu sich kommen zu lassen.

»Salz ... Salz!« schrie draußen die Stimme eines Gehilfen, der an die verschlossene Tür trommelte.

Angélique erstarrte, jäh ihrer Versunkenheit entrissen.

»Hört«, flüsterte sie, »sie sprechen von Salz ... Sie haben irgend etwas entdeckt.«

Sie lauschten reglos in die Stille. »Sollen wir Salz aufladen, Patron?« fragte die Stimme des Gehilfen hinter der Tür.

»Welches Salz?« brüllte Maître Gabriel und ließ sie los.

Er faßte sich rasch, warf einen schnellen Blick auf seine Kleidung und seinen Kragen, um sich ihres korrekten Sitzes zu vergewissern.

Der Kommis erklärte:

»Es ist wegen der Steuer. Sie wollen Salz und Wein mitnehmen.«

»Ich wette, es handelt sich um einen Streich Bau-miers«, knurrte der Kaufmann.

Er öffnete die Tür. Ein von zwei Schreibern und vier bewaffneten Gendarmen begleiteter Beamter der Steuerbehörde hielt sich hinter dem bestürzten Kommis, Im Hintergrund waren zwei leere Karren zu sehen, die sie mitgebracht zu haben schienen, um die ausstehende Steuersumme in Naturalien aufzuladen.

»Ich habe meine Steuern schon bezahlt«, erklärte Maître Gabriel. »Ich kann Euch die Quittung zeigen.«

»Gehört Ihr zur reformierten Religion?«

»In der Tat.«

»Dann habt Ihr nach dem neuen Dekret noch einmal den Gesamtbetrag der bereits gezahlten Steuern zu erlegen. Hier steht es geschrieben, wenn Ihr Euch überzeugen wollt«, fügte er hinzu, ein Pergament vorweisend.

»Eine weitere Ungerechtigkeit, für die es nicht den geringsten Grund gibt.«

»Was wollt Ihr, Maître Berne! Eure bekehrten Glaubensgenossen sind für einJahr von der Kopfsteuer und für drei Jahre von der Gemeindesteuer befreit. Wir müssen den Verlust wohl oder übel woanders wieder ausgleichen. Den Halsstarrigen wie Euch kommt es zu, für die andern zu zahlen. Übrigens beläuft es sich für Euch nur auf zwölf Stückfässer Wein, hundertfünfzig Pfund gesalzenen Speck und zwölf Scheffel Salz. Für einen reichen Kaufmann wie Euch ist das nicht viel.«

Jedesmal, wenn sie das Wort »Salz« vernahm, wurde Angélique bleich.

Der königliche Beamte musterte sie frech.

»Eure Gattin?« erkundigte er sich bei Maître Gabriel.

Der Kaufmann, der dabei war, das Pergament zu studieren, erwiderte nichts.

»Kommt, Messieurs«, sagte er schließlich, indem er auf den Hof hinaustrat und die Richtung zu den Schuppen einschlug.

Angélique hörte, wie der Steuereinnehmer sich höhnisch lächelnd zu seinen Schreibern wandte: »Diese Hugenotten möchten uns Lehren in guten Sitten beibringen ... Das hindert sie nicht, es wie alle Welt mit Konkubinen zu treiben.«

Es folgten schreckliche Stunden, in deren Verlaufe Angélique jeden Augenblick die Katastrophe erwartete.