Damals hatte sie sich wie eine vom Teufel Besessene aufgeführt, um den eiskalten Philippe zu dieser Ehe zu veranlassen, so mit eigenen Händen den Graben aushebend, der sie nun für immer von ihrer ersten Liebe trennte. »Ah, warum willst du immer das Schicksal zwingen!« hatte Osman Ferradji gesagt.
Sie seufzte, wandte ihre Augen ab und verlor sich in vage Träumerei. Das Kind zog sich nach ein paar Augenblicken still zurück. Wenigstens um diesen Jungen brauchte sie nicht zu zittern. Charles-Henri du Plessis, Sohn des Marschalls, Patenkind des Königs, würde nicht der Fehler seiner Mutter wegen um sein Erbteil gebracht werden, aber der Älteste, Florimond, legitimer Erbe der prunkliebenden Grafen von Toulouse, aus noblerem Geschlecht und von größerem Reichtum als alle Herren von Plessis zusammen, ging dem bedrohten, Ungewissen Schicksal eines Bastards entgegen.
Seit ihrer Rückkehr nach Plessis hatte sie ihn zu sich rufen wollen und mühsam, mit vor Erschöpfung immer wieder versagender Stimme Maître Molines einen Brief für ihren Bruder, den R. P de Sancé, diktiert. Sie wußte nicht, daß diese Botschaft Montadour Anlaß zu erheblichem Verdacht gegeben hatte. Da seine Bildung mehr als lückenhaft war, hatte er sich deren Inhalt durch den Intendanten vorlesen und sie nach sorgfältiger Prüfung seiner Verantwortlichkeiten zunächst an Monsieur de Marillac expedieren lassen. Der Brief hatte nichtsdestoweniger seine Bestimmung erreicht, denn sie erhielt die Antwort des Jesuiten.
Sie erfuhr, daß der R. P de Sancé vom König angewiesen worden war, den jungen Florimond de Morens im Seminar zu belassen, bis Seine Majestät selbst es für gut befinden würde, ihn seiner Mutter zurückzugeben. Der R. P de Sancé hieß die Entscheidung des Souveräns gut, der sich selbst um den Jüngsten seiner Untertanen sorge. Florimond habe in der Tat nichts Gutes vom Einfluß einer Frau zu erwarten, deren Verhalten sich als ebenso undankbar wie unbesonnen erwiesen habe. Sobald sie Beweise aufrichtiger Reue gebe und vom König wieder in Gnaden aufgenommen werde, stehe dem Wiedersehen mit ihrem Sohn, dem sie fortan nicht mehr das beklagenswerte Beispiel aufrührerischer Unüberlegtheit böte, nichts mehr im Wege. Zudem sei das Seminar für einen Knaben von zwölf Jahren ohnehin ein passenderer Ort als die Umgebung einer Mutter, die sich stets seltsam unbeständig und wankelmütig gezeigt habe. Florimond trete in die Jünglingszeit ein. Sein Onkel bekannte, daß er fürs Studium zwar begabt, aber faul, trotz des Anscheins von Offenheit schwer zu durchschauen und, alles in allem, hinterhältig sei. Mit einiger Beharrlichkeit werde man aus ihm vielleicht einen guten Offizier machen können.
Raymond de Sancé schloß mit sibyllinischen Worten, die seine Bitterkeit verrieten. Er sei es müde, schrieb er, die Last der Irrtümer seiner Brüder und Schwestern auf seinen Schultern zu tragen und als einziger den Namen de Sancé de Monteloup vor der königlichen Ungnade zu bewahren. Bald würde auch er sie spüren müssen, obwohl er immer ein treuer Untertan des Königs gewesen sei und es bleiben wolle. Aber wie sollte man der Unzufriedenheit Seiner Majestät entgehen, wenn man sich jahrein, jahraus für schuldig Gewordene einsetzen müsse, deren Starrköpfigkeit nur durch ihre unglaubliche Leichtfertigkeit übertroffen werde. Hatten die harten Lektionen nicht genügt, Angélique zu zähmen? Hatte er selbst sie nicht ständig gewarnt wie auch Gontran, Denis und Albert? Was nützten also alle Vorwürfe und Ermahnungen? Ihr wildes, unbeherrschtes Blut behielt dennoch die Oberhand. Eines Tages würde er überhaupt darauf verzichten, sich noch für sie einzusetzen ...
Diese Antwort empörte Angélique mehr als alles andere. Es war unwürdig, ihr Florimond zu verweigern. Der vaterlose Florimond gehörte nur ihr. Ihr allein. Er war für sie ein Freund, ein Kamerad. Der einzige lebende Beweis ihrer verlorenen Liebe. Florimond und Cantor, ihre beiden ältesten Söhne, waren ihr während ihrer Irrfahrt durchs Mittelmeer sehr nahegekommen.
Es schien ihr, als habe sie Cantors Liebe wiedergewonnen, indem sie ihm auf seine tollkühne Odyssee gefolgt war und den geheimen Traum des kleinen Pagen geteilt hatte. Er und sie waren ein wenig zu Komplizen geworden, das tote Kind und seine Mutter in derselben Falle gefangen, und seitdem empfand sie ihn weniger fern, weniger ausgelöscht.
Aber sie brauchte Florimond, ihren Ältesten, in dessen Zügen jenes andere Bild wieder Gestalt anzunehmen begann, das die Zeit zu verwischen drohte.
Mit ohnmächtigem Zorn las sie den Brief von neuem. Dann ließen die Vorwürfe ihres Bruders sie innehalten. Warum wandte er sich diesmal gegen die ganze Familie, statt wie gewöhnlich nur sie, Angélique, allein für ihre Schwierigkeiten verantwortlich zu machen? In ihrer Kindheit war es immer Angéliques Schuld gewesen, wenn Katastrophen eintraten. Dies-mal aber sprach er in der Mehrzahl.
Sie überlegte. Ein Satz Monsieur de Marillacs kam ihr ins Gedächtnis zurück: ». Die Disziplinlosigkeit einer Familie, deren Angehörige sich schwer gegen mich vergangen haben« oder etwas dergleichen. Sie erinnerte sich nicht mehr genau der Worte, da sie in jenem Augenblick nicht sonderlich auf sie geachtet hatte. Erst der Zusammenhang dieses Satzes mit den Andeutungen Raymonds ließ sie sich fragen, ob es sich nicht um Anspielungen auf ein Ereignis handelte, von dem sie nichts wußte.
Sie war noch tief in ihren Überlegungen, als ein Diener eintrat und meldete, daß der Baron de Sancé de Monteloup sie zu sprechen wünsche.
Der Vater Angéliques, der Baron de Sancé, war im vergangenen Jahr gestorben, gegen Ende des Winters, der ihrer Abreise nach Marseilles vorausgegangen war. Sie richtete sich deshalb bei dieser Ankündigung auf ihrem Ruhebett auf, da sie ihren Ohren nicht traute. Die Gestalt in braunem Rock und derben, lehmigen Schuhen, die die Stufen der Freitreppe erstieg, erinnerte sie an ihren Vater. Sie verfolgte ihr Nahen durch die Galerie und erkannte das verschwiegene, trotzige Gesicht der Sancé-Jungen. Einer ihrer Brüder? Gontran? . Nein, Denis.
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