Angélique hatte bereits von dieser Persönlichkeit sprechen hören. Sie biß sich auf die Lippen und wunderte sich nicht, hinter dem Besucher vier Bewaffnete zu entdecken, die nun gleichfalls in der unbekümmerten, selbstbewußten Art von Leuten eintraten, die sich auf der Seite des Stärkeren wissen, gefolgt von einem Individuum mit wenig einnehmender Miene, dessen Kasacke mit dem Wappen der Stadt geschmückt war: dem Schiff, auf dessen Segeln die königlichen Lilien prangten.
In einer den Umständen angepaßten Trauerhaltung wandte sich Baumier der Treppe zu, von dem Kommis und den vier beunruhigenden Gestalten in respektvollem Abstand gefolgt.
Bei ihrem Anblick erhob sich die kniende Versammlung, und in der dumpfen Luft des Zimmers wurde jähe Spannung spürbar.
Der Sieur Baumier entrollte ein Pergament und verlas es mit mürrischer Stimme:
»In Ansehung, daß der Sieur Berne Lazare, am Tage des 16. Mai konvertiert, in seine schuldhaften Irrtümer zurückfiel, sein ewiges Heil vernachlässigte, ein gefährliches Beispiel gab .«, wurde er des Verbrechens der Rückfälligkeit beschuldigt und überführt, zu dessen Sühnung sein Leichnam vom Henker auf einer Leiter durch die Bezirke und Straßen der Stadt geschleift und auf den Schindanger geworfen würde. Überdies sei er dazu verurteilt, dreitausend Livres Buße an den König und hundert Livres Almosen zugunsten der armen Gefangenen des Gerichtsgefängnisses zu zahlen .
Maître Gabriel unterbrach ihn. Er war sehr bleich. Er hatte sich zwischen Baumier und das Bett gestellt, in dem als einziger der Versammlung der Tote einen heiteren, fast ein wenig ironischen Ausdruck bewahrte.
»Monsieur de Bardagne kann unmöglich eine solche Entscheidung getroffen haben. Er selbst ist Zeuge der Weigerung meines Onkels gewesen, und ich schlage vor, ihn zu holen.«
Baumier verzog sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse, während er das Pergament zusammenroll-te.
»Gut«, sagte er selbstsicher, »laßt ihn nur holen. Aber ich bleibe. Ich habe Zeit. Ich stehe im Dienst einer heiligen Sache, die es sich angelegen sein läßt, die Stadt von gefährlichen Verschwörern zu säubern. Denn es gibt eine Verschwörung der bösen Engel gegen die guten, wie es eine Verschwörung der schlechten Untertanen des Königs gegen seine Getreuen gibt, und in La Rochelle fällt manchmal beides zusammen.«
»Wollt Ihr uns etwa als Verräter am Königreich bezeichnen?« fragte der Schöffe Legoult, indem er sich mit verkniffenen Lippen und kampfeslustig hochgezogenen Augenbrauen näherte.
Maître Gabriel trat dazwischen.
»Wer wird Monsieur de Bardagne holen?« fragte er.
»Ich bleibe hier und meine Leute desgleichen«, rief Baumier mit sardonischem Lächeln.
»Dann gehe ich«, sagte Angélique.
Sie hatte schon ihren Mantel über die Schultern geworfen und hastete die Treppe hinunter.
»Lauft, lauft nur!« spottete Baumier.
Angélique durchquerte in höchster Eile die Stadt, durch die mit den runden Steinen gepflasterten, engen Gassen huschend. Im Wohnsitz Monsieur de Bardagnes sagte man ihr: »Im Justizpalast!« Im Justizpalast vermochte ihr ein Gerichtsdiener erst nach vielen vergeblichen Fragen Auskunft zu geben. Monsieur de Bardagne befinde sich auf Besuch bei dem großen Reeder Jean Manigault.
Wie von Flügeln des Windes getragen, machte sich Angélique von neuem auf den Weg. Was konnte sich während dieser Zeit nicht alles im Haus am Wall ereignen, das sie wie ein Pulverfaß mit mörderischen Leidenschaften geladen hinter sich gelassen hatte? Aus dem Zusammenprall der Spöttereien Baumiers, der Frechheit der Soldaten und des zornigen Unwillens der Protestanten mußten über kurz oder lang Funken sprühen. Und sie hatte Honorine dort vergessen! Welche Unvorsichtigkeit! Sie sah sich schon vor dem verlassenen, versiegelten Haus, dessen Bewohner man ins Gefängnis geschleppt hatte, niemand wußte, wohin .
Halbtot vor Angst, gelangte sie endlich vor das prächtige Haus der Manigaults.
Monsieur de Bardagne speiste mit der Familie unter den nachgedunkelten Porträts einer ganzen Dynastie von Reedern aus La Rochelle. Im Zimmer duftete es nach gepfefferter Schokolade, die der Sklave Siriki aus einer silbernen Kanne einschenkte. Auf einer Porzellanschüssel in der Mitte des Tisches erhob sich ein wahres Gebirge exotischer Früchte - Ananas und Pampelmusen -, vermischt mit Trauben der Gegend. Angélique verschwendete an alle diese Herrlichkeiten keinen Blick. Atemlos stürzte sie zum Statthalter des Königs.
»Monsieur, ich bitte Euch, kommt schnell! Maître Gabriel Berne ruft Euch zu Hilfe. Ihr seid seine einzige Hoffnung.«
Monsieur de Bardagne erhob sich galant und sichtlich von der so jäh vor ihm aufgetauchten Erscheinung beeindruckt. Ohne ihr Wissen sprang von Angélique, die mit vom Lauf geröteten Wangen, glänzenden Augen und bebender Brust unter der schwarzen Korsage vor ihm stand, verwirrendes Fieber auf ihn über. Ihre Erregung, ihr flehender Ausdruck verbunden mit dem strahlendsten Blick der Welt konnten einen glühenden Anbeter des schwachen Geschlechts - und Nicolas de Bardagne war ein solcher - nicht ungerührt lassen.
»Beruhigt Euch, Madame, und erklärt Euch ohne Furcht«, sagte er, den harten Glanz seiner grauen Augen mildernd und seine Stimme angenehm dämpfend. »Ihr seid mir zwar unbekannt, aber ich werde Euch darum nicht weniger wohlwollend anhören.«
Noch zur rechten Zeit fiel Angélique ihre Unterlassungssünde gegenüber Monsieur Manigault und seiner fülligen Gattin ein, und sie grüßte mit hastiger Reverenz. Dann berichtete sie mit abgehackten Worten von den letzten Ereignissen im Hause Maître Gabriel Bernes. Schreckliche Dinge bereiteten sich dort vor, hatten sich vielleicht gar schon ereignet ...
Mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen.
»Nun, nun, beruhigt Euch«, wiederholte Monsieur de Bardagne. Und die Manigaults zu Zeugen nehmend, fuhr er fort: »Warum gerät diese Frau nur in einen solchen Zustand? Die ganze Geschichte scheint mir so wenig auf sich zu haben, daß man keinen Hund damit hinterm Ofen herlocken könnte.«
»Es ist nun einmal die Art Maître Bernes, sich in schlechtes Licht zu setzen«, bemerkte Madame Mani-gault säuerlich.
»Er kann doch seinen Onkel nicht auf einer Leiter durch die Straßen schleifen lassen, meine gute Jeanne!« protestierte der Reeder.
»Ich weiß nur, daß einzig und allein ihm derartige Ungelegenheiten passieren«, antwortete die dicke Frau geziert.
Sie klatschte in die Hände.
»Meine Töchter, hüllt Euch in Eure Kapuzen aus schwarzem Samt und sorgt dafür, daß man Jérémie in seinen Tuchanzug steckt. Wir müssen uns zum armen Lazare begeben, um seinen Heimgang in die ewigen Gefilde mit unseren Gebeten zu begleiten.«
»Es stimmt allerdings, daß man mich nicht über seinen Tod unterrichtet hat«, sagte Manigault, plötzlich wie verwandelt.
»Ich eile Euch voraus«, erklärte Monsieur de Bar-dagne jovial. »Diese Dame ist zu ungeduldig, sich meiner Gegenwart zu versichern, als daß ich noch länger zögern könnte.«
Er ließ Angélique in seine Kutsche steigen, die ihn, von zwei Polizisten flankiert, erwartete.
»Mein Gott, hoffentlich kommen wir nicht zu spät«, murmelte Angélique. »Weist den Kutscher an, schnell zu fahren, Monsieur.«
»Wie ungeduldig Ihr seid, mein liebes Kind. Ich möchte wetten, daß Ihr nicht aus La Rochelle stammt.«
»Ihr habt recht. Warum?«
»Weil Ihr Euch sonst schon an Geschichten dieser Art gewöhnt hättet, die, was auch immer Dame Jeanne sagt, in unserer Stadt recht häufig sind. Leider bin ich zuweilen zur Strenge gezwungen. Allzuviel Verstocktheit im Bösen verdient Strafe. Indessen gebe ich zu, daß Lazare Berne seinem durch vierundachtzig Jahre geheiligten Starrsinn die unverzeihliche Sünde der Verleugnung nicht hinzugefügt hat.«
»Ihr werdet also nicht zulassen, daß ihn dieser schreckliche, kleine Biedermann durch den Schmutz zerren läßt?«
Der Statthalter des Königs lachte und zeigte dabei seine weißen, wohlgestalten Zähne unter dem kasta-nienfarbenen Schnurrbart.
»Ist es Baumier, den Ihr so beschreibt? Das paßt nicht schlecht auf ihn, muß ich gestehen.«
Ein leichter Schatten breitete sich über sein Gesicht.
»Ich bin mit ihm nicht immer über die Methoden einig ... Aber, verzeiht, mir scheint einerseits, daß ich Euch zum erstenmal entdecke, und andererseits kommt es mir vor, als habe ich Euch schon einmal gesehen. Wie konnte ich, wenn es so ist, nur den Namen einer so charmanten Dame vergessen!«
»Ich bin die Magd Maître Gabriel Bernes.«
Plötzlich erinnerte er sich:
»Ich hab’s. Ich habe Euch an jenem berühmten Abend bei Maître Berne bemerkt, an dem mich die Kapuziner des Paulinerklosters am Kragen zum Lager des armen, angeblich im Sterben liegenden Lazare schleppten, um ihnen bei der Bekehrung beizustehen. Maître Gabriel kehrte eben von einer Reise zurück, und Ihr begleitetet ihn .«
Er fügte streng hinzu:
»Ihr habt ein Kind, das nach dem Gesetz in der katholischen Religion erzogen werden muß.«
»Ich erinnere mich, daß Ihr sagtet, meine Tochter sei sicher ein Bastard«, erklärte Angélique, die sich entschlossen hatte, lieber mit offenen Karten zu spielen, um Nachforschungen über ihre Person zu vermeiden. »Nun ja, Ihr hattet recht. Sie ist einer.«
Monsieur de Bardagne zuckte bei dieser Anwandlung von Offenheit zusammen.
»Verzeiht mir, wenn ich Euch verletzt habe, aber mein schwieriges Metier in dieser Stadt verpflichtet mich, mich vom Religionsstand des Geringsten ihrer Bewohner zu überzeugen, und .«
»So ist es eben«, unterbrach ihn Angélique mit einem Achselzucken.
»Wenn man so schön ist wie Ihr«, meinte der königliche Beamte mit nachsichtigem Lächeln, »versteht man, daß die Liebe .«
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