Angélique drehte sich um. Ein Mann war stehengeblieben und starrte sie verblüfft an. Er trug einen Rock mit ausgeblaßten Goldstickereien, Schuhe mit roten Absätzen, deren Leder reichlich rissig schien, einen Hut mit trübselig hängender Feder. Er zwinkerte wie ein Käuzchen in der Sonne.
»Die Französin«, wiederholte er, »die Französin mit den grünen Augen.«
Angélique verspürte gleichzeitig den Wunsch, zu fliehen und doch auch Näheres zu erfahren.
Mechanisch trat sie auf ihn zu. Er machte einen Sprung wie ein Eichhörnchen.
»Es gibt keinen Zweifel! Ihr seid es ... Dieser Blick! Aber ...«
Er musterte ihre bescheidene Kleidung samt der Haube, die ihr Haar verbarg.
»Aber ... seid Ihr denn keine Marquise? Man hat es mir doch in Kandia versichert ... und ich habe es geglaubt ... Zum Teufel, ich habe sogar Eure Papiere gesehen! Was treibt Ihr denn hier in dieser seltsamen Ausstaffierung?«
Endlich erkannte sie ihn, vor allem an seinem schlecht rasierten Kinn.
»Monsieur Rochat ... Ihr? ... Ist es möglich? Es ist Euch also gelungen, die Kolonien der Levante zu ver-lassen, wie Ihr es Euch wünschtet?«
»Und Euch ist es also geglückt, Moulay Ismaël zu entwischen! Das Gerücht ging um, daß er Euch zu Tode gefoltert hätte.«
»Wie Ihr seht, trifft es nicht zu.«
»Ich bin sehr glücklich darüber.«
»Ich auch! . Ah, lieber Monsieur Rochat, welche Freude, Euch wiederzusehen!«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Madame.«
Sie drückten sich wärmstens die Hände. Niemals hätte Angélique geglaubt, daß die Wiederbegegnung mit dem albernen Kolonialbeamten sie in solchem Maße beglücken könnte. Es war, als ob sich die beiden einzigen Überlebenden eines versunkenen magischen Landes plötzlich an einer öden, armseligen Küste gegenüberständen.
Rochat brachte ihre beiderseitigen Gefühle ans Licht, indem er ausrief:
»Ah, endlich jemand von dort unten, mit dem man sprechen kann . in diesem nördlichen Hafen ohne Geist, ohne Farben! Welcher Trost! Ich könnte jauchzen!«
Von neuem drückte er ihr die Hand, als wolle er sie zerbrechen. Dann verdüsterte sich sein Gesicht.
»Ihr seid also keine Marquise?«
»Pst!« machte sie und sah sich um. »Suchen wir uns einen ruhigen Ort, wo wir uns unterhalten können. Ich werde Euch alles erklären.«
Mit verächtlicher Grimasse bemerkte Rochat, daß er unglücklicherweise keinen Ort in La Rochelle kenne, wo man echten türkischen Kaffee trinken könne. Es gebe zwar die »Taverne de la Nouvelle France«, wo man ein Gebräu dieses Namens serviere, aber das sei nur »ihr« Kaffee von den Inseln. Er habe nichts mit den Bohnen der Ebenen Äthiopiens gemein, die man nach unumstößlichen Regeln röste und deren göttlichen Extrakt man im Orient trinke.
Nichtsdestoweniger begaben sie sich zu der fraglichen, recht erbärmlichen Taverne, die um diese Stunde glücklicherweise leer war, und setzten sich in eine Fensternische. Rochat lehnte den vorgeschlagenen Kaffee ab.
»Offen gesagt, ich kann ihn Euch nicht empfehlen. Lakritzensaft mit einem Absud von Eicheln vermischt, das ist es, was sie hier Kaffee nennen .«
Sie einigten sich schließlich auf einen kleinen Charentewein, wie er hier überall in bester Qualität ausgeschenkt wurde, zu dem der Wirt eine reichhaltige Schale mit Meeresfrüchten und Muscheln lieferte.
»Das einzig Annehmbarein diesem trübseligen Land«, meinte Rochat. »Schalentiere, Seeigel, Austern ... ich stopfe mich voll damit.«
Er warf einen enttäuschten Blick auf das Gewirr der Rahen und Taue, das den leuchtenden Himmel verdunkelte.
»Wie traurig das ist! Wo sind die Galeeren Maltas und ihre Banner, die Fahnen der christlichen Piraten, die kleinen Esel und ihre Orangenkörbe ... wo ist Simon Dausat und sein roter Bart!«
Angélique war versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß der Hafen weder so nördlich gelegen noch so farblos sei, wie er zu glauben schien.
»Habt Ihr Euch früher nicht darüber beklagt, im Orient festgehalten zu werden? Ihr träumtet nur von der Rückkehr in die Hauptstadt.«
»Ihr habt recht. Ich habe alles nur mögliche angestellt, um nach Frankreich zurückkehren zu können. Jetzt stelle ich alles nur mögliche an, um wieder nach dort unten zu kommen . In Paris habe ich mich nur gelangweilt. Immerhin gab es in der Nähe des Vieux Temple eine kleine Kneipe, in der man anständigen Kaffee bekam und gelegentlich ein paar Malteserritter, ein paar Türken treffen konnte . Man hat mich hierhergeschickt, um den Protestanten das Versicherungsmonopol zu entziehen. Ich habe die Gelegenheit genützt, um mit gewissen Kaufleuten in Kontakt zu kommen . Diese Rochelleser haben überall ihre Beziehungen. Einer von ihnen schickt mich jetzt nach Kandia. Dienstag reise ich ab«, schloß er strahlend.
»Und die königliche Verwaltung?«
Rochat zuckte die Schultern. Er war Fatalist.
»Was wollt Ihr? Im Dasein jedes intelligenten Menschen kommt ein Augenblick, in dem er zu begreifen beginnt, daß man sich zum Narren macht, wenn man anderen dient, in diesem Fall dem Staat. Ich habe immer Begabung für Geschäfte gehabt. Die Stunde ist gekommen, mich ihrer zu bedienen. Wenn ich reich geworden bin, werde ich meine Familie nachkom-men lassen.«
Ihn kurz vor der Abreise zu wissen, beruhigte die junge Frau sehr. Sie konnte offener sprechen.
»Versprecht mir, Monsieur, das, was ich Euch anvertrauen werde, geheimzuhalten.«
Sie bestätigte ihm, daß sie wirklich die Marquise du Plessis-Bellière sei. Bei ihrer Rückkehr nach Frankreich habe sie beim König Anstoß erregt, der ihr grolle, weil sie trotz seines Verbots abgereist sei. In Ungnade gefallen, habe sie sich dem Ruin gegenübergesehen und sei nun gezwungen, ein sehr bescheidenes Leben zu führen.
»Schade! Schade!« murmelte Rochat. »Im Orient würde man so glänzende, aus dem Rahmen fallende Qualitäten wie die Euren nicht ungenützt verkommen lassen .«
Plötzlich beugte er sich vor.
»Wißt Ihr, daß er das Mittelmeer verlassen hat?«
»Wer?«
»Fragt man: Wer?, wenn man sich wie Ihr dort unten herumgetrieben hat? Der Rescator, natürlich!«
Und da sie ihn, ohne zu reagieren, nur anstarrte, fuhr er gereizt fort:
»Der Rescator! Jener maskierte Pirat, der Euch für fünfunddreißigtausend Piaster im Batistan von Kandia kaufte und dem Ihr den übelsten Streich gespielt habt, von dem man jemals in der Geschichte der Sklaverei hörte ... Man möchte meinen, daß Ihr völlig vergessen habt, was Euch geschehen ist!«
Ihr Gesicht bekam wieder Farbe. Es war absurd, sich um eines Namens willen so zu erregen.
»Das Mittelmeer verlassen?« fragte sie. »War er nicht allmächtig dort? Weiß man wenigstens, warum?«
»Man erzählt sich, Euretwegen.«
»Meinetwegen!?«
Sie geriet von neuem in Verwirrung, und ihr Herz schlug unregelmäßig.
»Glaubte er, meine Flucht habe ihn in solchem Maße lächerlich gemacht, daß er sich den Spöttereien seiner Piratenkumpane nicht aussetzen wollte?«
»Nein, das ist es nicht . Obwohl seine marokkanischen Wachen, als er von Eurem Ausbruch erfuhr, einen verdammt schlechten Augenblick durchgemacht haben. Um ein Haar hätte er alle gehängt. Aber das liegt nun mal nicht in seiner Art. Schließlich hat er sich damit zufriedengegeben, sie als unfähige Schurken Moulay Ismaël zurückzuschicken. Ich möchte wetten, daß die armen Teufel es vorgezogen hätten, gehängt zu werden. Ah, Ihr könnt Euch rühmen, der Anlaß zu allerlei Tränen und Blut im Mittelmeer gewesen zu sein, Madame! Um dann in La Rochelle zu landen!«
»Aber warum meinetwegen?« beharrte Angélique.
»Das hat etwas mit Mezzo Morte, seinem schlimmsten Feind, zu tun. Erinnert Ihr Euch wenigstens Mezzo Mortes, des Admirals von Algier?«
»Es fiele mir schwer, ihn zu vergessen, da er mich ebenfalls gefangengehalten hat.«
»Nun, Mezzo Morte rühmte sich, mit Euch das Mittel in der Hand zu halten, mit dem er den Resca-tor für immer aus dem Mittelmeer vertreiben könne. Sobald er Euch in seinem Besitz hatte, schickte er einen Boten nach Kandia ... Aber zuvor muß ich Euch noch von etwas anderem erzählen. Gleich nach Eurer Flucht - zwei oder drei Tage später, glaube ich - ließ mich der Rescator kommen.«
»Euch?«
»Ja, mich. Bin ich etwa eine so jämmerliche Persönlichkeit, daß ich nicht mit den großen Piratenfürsten verkehren könnte? Ob es Euch gefallt oder nicht, ich bin Seiner Herrlichkeit schon früher begegnet ... Er war einer der angenehmsten Menschen, mit denen man im Laufe seines Lebens zu tun haben kann, aber ich muß gestehen, daß seine seelische Verfassung diesmal recht gut mit seinem düsteren Äußeren in Einklang stand. Schon die Maske ist für seinen Gesprächspartner einigermaßen unerfreulich, aber wenn Euch durch ihre beiden schmalen Lederschlitze durchdringende, wütende Blicke treffen, würdet Ihr es vorziehen, woanders zu sein. Er hatte sich in sein Palais auf Mylos zurückgezogen. Was für eine prächtige Behausung, angefüllt mit seltenen Kostbarkeiten! Seine Schebecke war durch den Brand allzu hart mitgenommen worden, als daß er hätte daran denken können, Euch zu verfolgen. Übrigens herrschte auch ein heftiger Sturm, wenn ich mich recht erinnere. Kein einziges Schiff konnte die Reede verlassen ... Der Rescator hatte erfahren, daß ich Euch kannte. Er hat mich lange nach Euch ausgefragt .«
»Nach mir?«
»Kein Wunder! Schließlich ist es nicht zum Lachen, wenn einem eine Sklavin entwischt, für die man fünfunddreißigtausend Piaster geblecht hat. Ich sagte ihm, was ich über Euch wußte. Daß Ihr eine große französische Dame seid und bei König Ludwig XIV, in Gunst steht, dazu unwahrscheinlich reich und Inhaberin des Amtes eines Konsuls von Kandia. Und daß ich Euch in den Händen d’Escrainvilles, meines alten Kumpans aus der Schule der orientalischen Sprachen in Konstantinopel, entdeckte. Ich erzählte ihm sogar, wie ich mich bemühte, die Malteserritter dazu zu bringen, Euch zu kaufen . Ihr seid Zeugin, Madame, daß ich mein Bestes getan habe. Übrigens habe ich wirklich die fünfhundert Livres erhalten, die Ihr mir von Malta aus habt schicken lassen. Auf diese Weise hat man in Kandia erfahren, daß Ihr nicht im Sturm umgekommen seid, wie man allgemein vermutete.«
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