»Dieses Mädchen ist von der Gesellschaft vom Heiligen Sakrament bei uns eingeschmuggelt worden, um zu spionieren, ich bin dessen sicher«, erklärte sie jedem, der ihr zuhörte.
Tante Anna stimmte zu: »Das ist gut möglich, mein armes Kind. Bitten wir den Herrn, uns vor ihren Schlichen zu bewahren.«
»Was für Klatschbasen!« dachte Angélique, deren Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde.
Séverines Augen folgten ihr, um sie bei einer Unvorsichtigkeit zu ertappen. Sie hielt sich steif wie ihre Tante und brach zuweilen in spöttisches Gelächter aus.
»>Der gottlose Mensch, der falsche Mensch trägt die Falschheit im Munde<«, psalmodierte sie.
»>Er zwinkert mit den Augen, spricht mit dem Fuß, macht Zeichen mit den Fingern .<
Nicht wahr, Tante?«
Auf diese Weise erfuhr Angélique, daß diese Damen ihr ein für ihre Lage allzu aufdringliches Wesen vorwarfen.
»Wenn du am Hofe des Königs gewesen wärst, Séverine«, sagte sie ihr eines Tages, »wüßtest du, daß deine stocksteife Haltung und deine Hampelmannbewegungen als Zeichen schlechter Erziehung angesehen würden. Die Ungezwungenheit der Gesten muß gelernt sein.«
»Der Hof ist ein Ort der Verdammnis«, erwiderte Séverine verdrossen. Nun war Angélique an der Reihe, hell aufzulachen. Das Mädchen verließ sie rot vor Zorn.
Séverine war indessen auch verletzlich. Wie alle Mädchen ihres Alters von kleinen Kindern angezogen, brannte sie darauf, von Honorine in Gnaden aufgenommen zu werden. Ungeschickt versuchte sie, sie in ihre Arme zu nehmen, folgte ihr auf Schritt und Tritt, wollte ihr zu essen geben, ihr beim Ankleiden helfen.
»Laß mich! Laß mich!« schrie Honorine mit der Entrüstung einer gekränkten Königin.
Angélique tat es leid, Séverine sich demütig entfernen zu sehen. Es fiel ihr schwer, ihren jähzornigen Sprößling zu liebenswürdigerem Benehmen zu veranlassen. Honorine hatte sehr ausgeprägte Vorlieben und Abneigungen. Im allgemeinen fanden alle Angehörigen des männlichen Geschlechts Gnade vor ihren Augen. Laurier gegenüber beobachtete sie die zärtlichste Ehrerbietung. Maître Gabriel war das Objekt einer respektvollen Bewunderung. Der Pastor Beaucaire erfreute sich auch weiterhin ihrer Gunst, sooft er sich blicken ließ. Aber ihr Idol war Martial. Er hatte ihr mit seinem Messer ein kleines, mit Schnitzereien geschmücktes Kästchen verfertigt, in dem sie ihre Schätze aufbewahrte: Knöpfe, Perlen, Kiesel, Hühnerfedern . Die Kleine hatte eine Manie ihrer Mutter geerbt. Wenn Angélique sie mit dem Kästchen unter dem einen, der kleinen Katze unter dem andern Arm einherspazieren sah, erinnerte sie sich der mit Perlmutt eingelegten kleinen Truhe, in der sie selbst einstmals die im Laufe ihres ruhelosen Lebens gesammelten Erinnerungen verwahrt hatte.
Die Beziehungen Honorines zum weiblichen Geschlecht waren komplizierter. Sobald Frauen das biblische Alter erreicht hatten, flößten sie ihr Gefühle liebevoller Zärtlichkeit ein. Rebecca und sämtliche Großmütter hatten ein Anrecht auf ihr Lächeln. Gegenüber Frauen mittleren Alters bewahrte das Kind betonte Gleichgültigkeit. Mit jungen Mädchen hatte Honorine nicht viel im Sinn, und ihre Altersgenossinnen, die sie unbewußt als Rivalinnen ansah, verfolgte sie mit ihrem Haß. Der kleinen, dreijährigen Ruth, der jüngsten Tochter des Advokaten Carrère, hätte sie fast die Augen ausgekratzt. Alles in allem brachte die rundliche, mit entschlossener Miene auf unsicheren Beinchen in ihren Röcken dahinschwankende Puppe Honorine nicht gerade wenig Leben ins Haus.
Oft stieß sie einen seltsamen Schrei aus, dessen besonderen Akzent Angélique herauszuhören gelernt hatte. Er bedeutete, daß Honorine unter dem sie einschließenden Zwang der Mauern des Hauses litt und das Meer sehen wollte. War sie am Strand, existierte nichts mehr für sie außer dem Spiel der Wellen und des Tangs und dem wundersamen Reich der Muscheln. In geschürzten, vom Wind geblähten Röcken einem Kürbis ähnlich, watete sie versunken durchs flache Wasser. Angélique folgte ihr, hier und da ein paar Worte mit den Miesmuschel-Pflückerinnen wechselnd.
Am Fuß der Wälle ließ die weichende Flut weite, felsige, mit Algen bedeckte Flächen zurück, in deren Tümpeln sich Krabben verbargen. Eine Schar Jungen tummelte sich dort mit den Möwen. Öfter als nötig befand sich unter ihnen der der Schulbank entflohene Martial. Er machte seinem Vater Sorgen. Er zeigte deutliche Befähigung zum Studium, zog es jedoch vor, mit der Bande seiner Freunde herumzustromern, zu der die intelligentesten Burschen des Viertels gehörten, darunter die beiden ältesten Söhne des Advokaten Carrère, Jean und Thomas, und Joseph, der Sohn des Arztes.
Maître Gabriel bedauerte es, daß der Junge nicht die strenge Disziplin einer höheren Schule kennenlernen sollte. Er hatte deshalb beschlossen, ihn nach Holland zu schicken, wo er sich wenigstens auf dem Gebiet des Handels solide Kenntnisse erwerben würde.
Angélique sah seinem Aufbruch betrübt entgegen. So manches an Martial erinnerte sie an ihren Sohn Florimond. Hinter seiner lächelnden Ungezwungenheit erkannte sie die Unruhe des Jünglings wieder, der sich auf Ungewissem Boden voranbewegt und angesichts der Gesellschaft, in der ihm zu leben bestimmt ist, entdeckt, daß sein Platz schon außerhalb ihrer Grenzen ist. Diese schreckliche Entdeckung war es, die Florimond dazu getrieben hatte, seine Mutter zu verlassen, zu fliehen, einen Winkel der Erde zu suchen, wo er er selbst sein konnte und nicht mit dem doppelten Fluch seiner Eltern belastet war.
Auch Martial würde eines Tages fliehen wie alle diese jungen Burschen, die die unglaubliche Verblendung der Erwachsenen noch an diesem verdammten Ufer zurückhielt.
An diesem Tage hockten sie, dicht aneinandergedrängt, zusammen auf einem Felsen, so in Anspruch genommen von irgend etwas, daß sie ihre Annäherung nicht bemerkten. Der Wind spielte in ihren langen Haaren und zerrte an ihren über der Brust offenen Hemden. Angst packte sie bei dem Gedanken, daß die Maschine, die sie zermalmen würde, schon bereit stand, geduckt wie ein Untier im Herzen der Stadt selbst.
Martial las mit beteiligter Stimme:
»>. Niemals ist es kalt auf den Inseln Amerikas. Das Eis ist unbekannt, und es wäre ein Wunder, dort welches zu sehen. Es gibt dort keine vier gleich langen und andererseits unterschiedlichen Jahreszeiten wie in Europa, sondern nur zwei. Die eine, von April bis November, ist die der häufigen Regenfälle, die andere die der Trockenheit ... Doch ist die Erde immer mit angenehmem Grün bewachsen und fast zu jeder Zeit mit Blüten und Früchten geschmückt .<«
»Gibt es dort drüben Weinreben?« unterbrach ein Junge mit strohfarbenem Haar. »Mein Vater ist nämlich ein Flüchtling von der Charente, ein Weinbauer. Und was sollten wir in einem Land tun, in dem es keine Reben gäbe?«
»Ja, es gibt dort Weinreben«, versicherte Martial triumphierend. »Hört zu, wie es weitergeht ... >Die Rebe gedeiht sehr gut auf diesen Inseln, und außer einer Art wilden Weins, der von Natur aus in den Wäldern wächst und schöne, große Trauben trägt, sieht man vielerorts kultivierte Reben wie in Frankreich, die jedoch zweimal jährlich tragen, zuweilen sogar häufiger .<«
Der Geographieunterricht setzte sich mit der Beschreibung der Brotbäume, der Papayas, an deren Ästen melonenähnliche Früchte sprießen, der köstliche Pflanzenmilch enthaltenden Pilze fort. »Der Seifenbaum produziert eine flüssige Seife, die zum Waschen und Bleichen der Wäsche geeignet ist, die Flaschenkürbis-Pflanze erzeugt Gefäße und Utensilien für den Haushalt, die von Handwerkern nicht mehr hergestellt zu werden brauchen.«
»Und von welcher Farbe sind die Bewohner jener warmen Inseln? Rot, mit Federn, wie in NeuFrankreich?«
Martial durchstöberte das kleine Buch und erklärte, daß er darüber keine näheren Angaben finden könne.
Einmütig wandten sie sich Angélique zu, die, mit Honorine auf den Knien, in ihrer Nähe saß.
»Wißt Ihr etwas über die Hautfarbe dieser Inselbewohner, Madame?«
»Ich nehme an, sie sind schwarz«, meinte sie, »da man seit langem Sklaven aus Afrika auf diese Inseln bringt.«
»Aber die Karibier selbst sind keine Schwarzen«, warf der junge Thomas Carrère ein, der gern den Erzählungen der Seeleute am Hafen zuhörte.
Martial setzte der Unterhaltung ein Ende:
»Wir brauchen ja nur diesen Pastor Rochefort zu fragen.«
»Den Pastor Rochefort, sagst du?«
Angélique war zusammengezuckt.
»Sprichst du von dem großen Reisenden, der ein Buch über die Inseln Amerikas geschrieben hat?«
»Das ich eben meinen Kameraden vorlese. Seht!«
Erzeigte ihr die vor kurzem erschienene, sauber gebundene Ausgabe und fügte gedämpft hinzu:
»Man riskiert fünfhundert Livres Strafe und Gefängnis dazu, wenn man sich im Besitz dieses Reiseberichts erwischen läßt, weil er den Protestanten Lust zum Auswandern machen könnte. Wir müssen also sehr aufpassen .«
Angélique wandte die Seiten um, die mit naiven, Bäume oder Tiere jener fernen Landstriche darstellenden Zeichnungen illustriert waren.
Aus dem Nichts ihrer Vergangenheit stieg von neuem eine vergessene Vision auf, für die sie nie eine Erklärung gefunden hatte und die dennoch vom Siegel des Schicksals geprägt schien: der Besuch jenes Pastors Rochefort in Monteloup, als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war.
Jener düstere, einsame Reiter, nach langer Reise vom Ende der Welt während eines Gewittersturms eingetroffen, hatte von unbekannten, seltsamen Dingen gesprochen, von roten Männern mit Federn im Haar, von jungfräulichen Ländern, die von vorzeitlichen Ungeheuern bevölkert waren.
Damals jedoch - mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen - hatte das Befremdende, Merkwürdige dieses Besuchs weder in seinem ungewöhnlichen Erscheinen noch in dem exotischen Charakter seiner Äußerungen gelegen. Nein, sein Besuch war der eines Boten des furchtbaren, fast unbegreiflichen Schicksals gewesen, gleich einem Rufer aus der Ferne. Diesem vom anderen Ende der Welt herüberklingenden Ruf hatte ihr ältester Bruder Josselin alsbald geantwortet. Er hatte seine Familie, sein Land verlassen, und niemand hatte jemals erfahren, was aus ihm geworden war.
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