Des Abends, wenn Tante Anna und die Gäste sich nach dem Gebet zurückgezogen hatten, befand sich Maître Gabriel zuweilen noch in geselliger Stimmung. Er begab sich dann in sein Zimmer vor die Wand, an der seine Pfeifensammlung hing, und wählte eine lange holländische Pfeife, die er sorgsam mit Tabak stopfte. Drauf kehrte er in die Küche zurück, um sie an einem Stück glühender Kohle in Brand zu setzen.
Danach lehnte er sich an den Türrahmen und rauchte, während er mit halbgeschlossenen Augen durch den aufsteigenden Qualm über den vertrauten großen Raum blickte und das Hin und Her der Mägde, der Kinder und der beiden Hauskatzen verfolgte. An diesen Abenden wußten seine Kinder, daß er bester Laune war, und wagten es, ihm Fragen zu stellen und ihm von ihren Angelegenheiten zu erzählen. Seit einiger Zeit tat auch Laurier dabei mit. Er verwandelte sich, zeigte sich gewitzt und wehrte Martials Spöttereien ab.
Als er eines Abends auf Angéliques Knien saß und sie ihm sanft über das Haar strich, begegnete sie zwischen blauen Rauchspiralen dem nachdenklichen Blick des Kaufmanns. Sie kam dem Tadel, den sie kommen fühlte, zuvor.
»Ihr findet, daß ich ihn für einen Jungen zu sehr verwöhne? ... Seht doch, wieviel kräftiger er geworden ist! Die Wangen sind schon viel rosiger. Kinder brauchen Zärtlichkeit, um zu wachsen, Maître Gabriel, wie die Blumen Wasser brauchen.«
»Ich leugne es nicht, Dame Angélique. Ich erkenne an, daß Ihr dabei seid, aus diesem Zwerg, dessen Anblick - ich gebe es zu - mir peinlich war, durch Eure Pflege ein schönes Kind zu machen ... Ich habe durch Ungerechtigkeit, auch durch Unwissenheit gesündigt. Ich verstehe mich besser darauf, die Qualität eines guten Branntweins oder eines kanadischen Pelzes festzustellen, als herauszufinden, was einem Kind nutzen kann. Was mich verwundert, ist lediglich, warum Ihr Eurem eigenen Kind gegenüber so wenig von dieser Zärtlichkeit Gebrauch macht ... Ihr sorgt für sein Wohl, gewiß, aber ich habe nie gesehen, daß Ihr es geküßt, ihm zugelächelt oder daß Ihr es auch nur an Euch gedrückt hättet.«
»Ich? ... Ich sollte das niemals getan haben?« rief Angélique, während sie bis zu den Haarwurzeln errötete.
Und sie betrachtete betroffen Honorine, die vor ihrem Teller Milchbrei saß.
Man hatte sie allein am Tisch zurückgelassen, weil sie sich nicht beeilte. Seit einiger Zeit brauchte sie Stunden zum Essen, den Löffel in der kleinen Faust, den Blick ins Leere gerichtet. Angélique hatte den Verlust ihres kräftigen Appetits dem Eingeschlossensein in den vier Wänden des Hauses zugeschrieben; das Kind war es bisher gewohnt gewesen, im Freien zu leben. Konnte es sein, daß Honorine unter der Vernachlässigung durch ihre eigene Mutter litt? Was für Vergleiche stellte sie hinter ihren kleinen wachen und glänzenden Augen an? Zuweilen hatte sie Zornausbrüche, die Angélique reizten. Diesen winzigen Willen zu entdecken und seine Hartnäckigkeit zu spüren, erstaunte und entrüstete sie. Sie verlor die Geduld. »Geh weg!« rief Honorine ihr zürnend zu. Angélique brachte sie dann zu Bett oder vertraute sie Rebecca an, für die die Kleine eine Schwäche hatte. Angélique hatte sich über Laurier geneigt. In ihm fand sie ihre kleinen Jungen, ihre wahren Kinder wieder. Honorine war noch nicht wirklich ihr Kind.
»Maître Gabriel hat recht«, sagte sie sich. »Meine Tochter . ich habe sie in mein Leben aufgenommen, aber noch nicht in meine Liebe . Er kann es nicht wissen! . Es wäre unmöglich für mich. Wenn er wüßte, würde er verstehen .«
»Ihr habt Euch meinem Sohn angeschlossen«, sagte Maître Gabriel mit der Andeutung eines Lächelns, »und ich habe mich Eurer Tochter angeschlossen. Ich werde niemals das kleine, verlassene Ding vergessen, das am Fuße des Baumes schlief und mir die Hände entgegenstreckte und seine ganze, traurige Geschichte vorplapperte, als ich es weckte.«
Angéliques Züge erstarrten. Ihr Ausdruck war so fassungslos, daß Maître Gabriel sich verwünschte, überhaupt davon gesprochen zu haben. Mit der Schamhaftigkeit der Männer, die Gefühlsäußerungen in Verlegenheit bringen, räusperte er sich, schien sich plötzlich einer dringlichen Angelegenheit zu erinnern und ging davon. Laurier folgte ihm. Maître Gabriel hatte ihm erlaubt, jeden Abend noch ein wenig zwischen den Waren des Magazins herumzustrolchen.
Angélique blieb mit Honorine allein. Sie durchlebte einen seltsamen Augenblick von höchster Bedeutung, und die Angst erstickte sie, als ob das, was sie nun tun oder nicht tun würde, über ihr künftiges Leben entschiede. Es war merkwürdig, daß die Ursache ihrer Bedrängnis dieses »kleine Ding« war, wie Maître Gabriel gesagt hatte, das mit einem Ausdruck hochmütiger Träumerei vor ihr saß. Sie glaubte, ihre Schwester Hortense vor sich zu sehen. Obwohl häßlich und boshaft, hatte sie sich immer die Haltung einer Prinzessin gegeben. Kerzengrade aufgerichtet auf ihrem hohen Stühlchen, ganz und gar nicht geneigt, sich zu beklagen, ließ Honorine das entschwundene Bild wieder vor ihr erstehen. Dieselbe Haltung des Halses, dieselbe stolze Art, ihren Kopf zu tragen. Selbst als Kind war Hortense mager gewesen. Honorine dagegen war rund, kräftig gebaut, gut in Schuß. Aber in ihren Bewegungen, im Blick der gleichen schwarzen, weit auseinanderstehenden, forschenden Augen war die Verwandtschaft deutlich zu erkennen. Statt unangenehm betroffen darüber zu sein, fühlte sie sich erleichtert. Sie streckte die Arme nach Honorine aus.
»Komm!«
Aus ihren Träumen erwacht, betrachtete Honorine sie mit nachdenklicher Miene, dann verzog ein Lächeln ihren Mund.
»Nein«, sagte sie, während sie von ihrem Stuhl glitt und sich unter dem Tisch versteckte.
»Komm. So komm doch!«
»Nein!«
Angélique mußte sie holen, mußte sie aus ihrem Versteck hervorziehen.
»Du bist schwer wie Blei.«
Mit fast schmerzlicher Intensität sah sie ihrer Tochter ins Gesicht.
»Du bist rothaarig, aber du bist schön . mein Kind! Ob ich’s will oder nicht, ich war’s, die dich zur Welt gebracht hat. Und nun bist du da. Mir verbunden selbst durch das Entsetzen, das ich empfand, als ich dich in mir spürte, durch unseren gemeinsamen Kampf ums nackte Leben, durch das unerbittliche, das blinde Geschick, das aus uns beiden Mutter und Tochter gemacht hat . Mein Herz!«
Angélique drückte ihre Lippen auf Honorines frische Wange. Ihr Duft rief ihr den des Waldes während jener unvergleichlichen Zeit des Aufstands ins Gedächtnis zurück. Er war in sie eingegangen, um die Härte ihres Hasses zu lösen. Neben den Gemetzeln und Hinterhalten hatte es immer Honorine und ihre kleinen weißen Füße gegeben, die sie vor den Flammen der Kamine erwärmte. Honorine, die ihre kühl prüfenden Augen in den Armen des Abbé de Lesdiguière geöffnet, Honorine, die im Winterwald nach Angélique gerufen und sie dem sie bannenden Entsetzen der Lichtung der Gehängten entrissen hatte.
Da war der Zwischenfall in der Grotte gewesen, in der sie ihren ersten Schrei ausstieß, das Knarren der »Drehlade«, die sie in die Finsternis des Waisenhauses entführte. »Oh, alle die verlassenen Kinder auf den Schwellen der Türen, die von Monsieur Vincent aufgelesen wurden! Wie kann man ein Kind verlassen? Ja, ich habe meine eigene Tochter verlassen. Gesegnet sei die Vorsehung, die sie mir zurückgab. Gibt es einen bittereren Schmerz als den um ein verlorenes Kind? Wo bist du, Fleisch meines Fleisches? Wo irrst du, blind, die kleinen Hände tastend ausgestreckt, durch das Unbekannte, in das ich dich stürzte? Wie werde ich dich im Tode wiedererkennen? Werde ich überhaupt das Recht haben, dich in jener anderen Welt zu erkennen, ich, deine Mutter, die dich verstieß?«
Angélique zitterte und erwachte wie aus einem Traum, Sie war in der Küche Maître Gabriels in La Rochelle, sie hockte vor dem erlöschenden Feuer, und Honorine saß auf ihren Knien und drückte sich heftig gegen sie.
»Mein Leben!«
Die lange unterdrückte, fast unbekannte Flut der Liebe sprudelte mit der Kraft einer Quelle, die sich endlich den Finsternissen der Erde entringt, wehte wie gereinigte Luft.
»Ich wußte nicht, daß ich dich so sehr liebte ...
Und warum liebe ich dich?«
Warum? Ihr Verstand suchte und fand keinen Grund. Es blieb ihr nichts aus ihrem vergangenen Leben. Alles war in den Abgrund der Schatten gestürzt. Die unschuldige Anmut Honorines, die strahlende Lebensfreude dieses runden Gesichtchens, die Glückseligkeit ihres Lächelns, als sie sich über sie geneigt hatte, um sie zu küssen, in der sie nun ihre ganze Welt sah, das beinah sinnliche Gefühl des Besitzens, das Angélique für sie empfand - »Du hast nur mich, ich habe nur dich« -, all das ließ die Gründe, die ihr als Vorwand gedient hatten, diese kleine Existenz zu hassen, wie hinter einem undurchdringlichen Vorhang verschwinden.
Wie rasch der Geist vergißt!
Der Körper vergißt weniger schnell. In ihren Alpträumen hörte Angélique zuweilen das Horn Isaac de Cambourgs, auch geschah es ihr, daß sie an den Gelenken ihrer Hände und Füße den Griff brutaler Hände spürte, die sie am Boden festhielten.
Doch wenn sie erwachte, sah sie auf der Mauer den Widerschein der auf der Spitze des Laternenturms brennenden Flamme tanzen, die die Schiffe in den Hafen geleitete. Honorine schlief neben ihr. Angélique betrachtete sie lange, und der Friede zog in sie ein, während sie diesen Schatz bestaunte, der ihr geblieben war und der ihr armseliges, zerstörtes Dasein rechtfertigte.
»Schlaf, kleines Herz, schlaf, mein Kind . du bist bei deiner Mutter. Fürchte nichts .«
Seitdem sie wußte, daß Angélique eine Papistin war, beobachtete Séverine sie mit heiligem Schrecken.
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