»Mir ist aufgefallen, meine Tochter, daß Ihr bei den Antworten der Gebete stumm bleibt. Offenbar habt Ihr Euren Glauben lau werden lassen. Nehmt also das Buch der Bücher, aus dem jede gläubige Frau den ihrer Lage förderlichen Geist des Gehorsams, der Treue und Ergebenheit schöpfen kann.«
Allein geblieben, machte sich Angélique, nachdem sie die Bibel unentschlossen in ihren Händen hin und her gewendet hatte, auf die Suche nach Maître Gabriel. Ein Kommis sagte ihr, daß er sich im Erdgeschoß, in den Magazinen aufhalte, wo er mit seinen Rechnungsbüchern beschäftigt sei.
Durch den Hof und über eine Stufe hinunter gelangte man zu zwei oder drei großen Räumen, in denen der Kaufmann seine kostbareren Produkte unterstellte, unter anderem Proben von Charente- und Branntweinen, die er in großen Posten nach Holland und England lieferte. Gerade verabschiedete sich ein englischer Kapitän, nachdem er eine Bestellung aufgegeben und zweifellos auch seinem Gaumen etwas zugute getan hatte. Branntweinduft schwebte in der Luft, Fliegen summten um die beiden gläsernen Humpen, die im Laufe der Verhandlung geleert worden waren.
Der englische Kapitän ging sehr steif an ihr vorbei, nahm sich aber die Mühe, seinen verwaschenen Filzhut vor Angélique zu ziehen und ein Kompliment über »the charming wife of Maître Gabriel« zu drechseln. Dieser verbesserte, ohne die Nase von seinem Buch zu heben:
»Not my wife, servant .«
»Oh, yes«, sagte der Engländer und grüßte erneut mit entzückter Miene.
Angélique, die kein Englisch verstand, hatte dem Gespräch nicht folgen können und suchte es auch nicht zu deuten. Die Folgen ihres bevorstehenden Geständnisses beschäftigten sie zu sehr.
»Maître Gabriel«, sagte sie, all ihren Mut zusammennehmend, »ich muß ein Mißverständnis aufklären. Ich hätte es schon früher tun sollen. Ich gehöre nicht zur reformierten Religion, wie Ihr und die Euren zu vermuten scheinen. Ich . ich bin katholisch.«
Der Kaufmann fuhr auf und schien verärgert.
»Warum habt Ihr Euch dann die Lilie einbrennen lassen?« rief er. »Ihr hättet Eure Konfession bekennen müssen. Dann hättet Ihr Euch diese schreckliche Marter erspart. Das Gesetz sagt es ausdrücklich: Jede irgendeines Delikts schuldige reformierte Frau muß mit der königlichen Lilie gezeichnet und gepeitscht werden. Dank dem unseren Glauben angehörenden Richter, den wir in Les Sables antrafen, konnte ich bewirken, daß man Euch die Peitsche erließ. Über den ersten Teil der Strafe konnte er sich jedoch nicht hinwegsetzen, da man Euch mit gefährlichen Banditen zusammen erwischte. Wißt Ihr, daß drei von ihnen gehängt und die übrigen zu den Galeeren verurteilt wurden?«
»Ich wußte es nicht. Arme Kerle!«
»Es scheint Euch nicht allzusehr zu berühren. Immerhin waren es Eure Kameraden .«
»Ich kannte sie kaum.«
Maître Gabriel machte eine überraschte Bewegung, die seine Rechnungen mit Tintenspritzern zierte.
»Warum habt Ihr das nicht rechtzeitig gesagt, Unglückselige?«
Er trocknete sorgfältig die Spritzer und wischte die Feder ab.
»Für eine Katholikin bedeutet das Zeichen der Lilie, daß sie sich schimpflicher Vergehen schuldig bekannt hat: des Mordes, der Prostitution, des Diebstahls. Ihr riskiert, ins Gefängnis gesteckt oder in die Kolonien nach Kanada geschickt zu werden, wenn man Euch entdeckt. Warum habt Ihr nicht rechtzeitig gesprochen?«
Er musterte sie aufmerksam und fuhr gedämpft fort:
»Vielleicht legtet Ihr keinen Wert darauf, allzu viele Fragen beantworten zu müssen?«
»So ist es, Maître Gabriel. Ich legte keinen Wert darauf. In jenem Augenblick dachte ich nur an meine Tochter. Ich wußte noch nicht, daß Ihr sie gerettet hattet. Ich habe alles mit mir tun lassen, ohne daß ich recht wußte, was geschah . jetzt ist es zu spät. Ich bin fürs Leben gezeichnet. Aber Ihr, Maître Gabriel, seid der einzige, der es weiß. Wenn Ihr mich nicht verratet .«
»Ich habe Euch bereits in mein Haus aufgenommen. Niemand wird Eure Sicherheit antasten, solange Ihr Euch unter meinem Dach befindet. Das ist das alte Gesetz der Gastfreundschaft.«
»Ihr jagt mich also nicht fort?«
»Warum sollte ich Euch verjagen?«
»Ich will versuchen. Euer Vertrauen nicht zu enttäuschen, Maître Gabriel. Indessen ... muß ich Euch gleich sagen .«
»Ich weiß, was Ihr mir sagen wollt«, brummte er, »Daß Ihr nicht daran denkt, Euch zu bekehren. Nun, trotzdem hindert Euch nichts, die Bibel zu lesen. Öffnet sie jeden Tag auf irgendeiner Seite. Jedesmal werdet Ihr die Antwort finden, die Euch fehlt. Ihre Lektüre wird Euch ein vergessenes Land ins Gedächtnis zurückrufen und das Herz erheben.«
Er legte sie in ihre Hände zurück.
Sonne - südliche Sonne - erfüllte den Hof, in dessen Mitte sich eine Palme mit behaartem Stamm erhob und ihre spitz zulaufenden Wedel einem Himmel von durchsichtigem, klarem Blau entgegenstreckte. Längs der Mauer, nahe einer Bank, sah man einen Busch spanischen Flieders, eine Reihe Stockrosen, die so groß wie Kohlköpfe waren, und in antiken Krügen Büschel brauner und gelber Levkojen. In einer Ecke, unter einem mit Muscheln ausgelegten Bogen, murmelte ein Springbrunnen und vollendete die exotische Atmosphäre dieses halb wie ein Patio, halb wie ein Garten wirkenden Hofes. Über all dies schloß der hohe Torweg seine schützenden Flügel.
Angélique kehrte noch einmal zurück, um die auf dem Tisch stehengebliebenen Gläser zum Abwaschen in die Küche mitzunehmen.
»Entschuldigt, Maître Gabriel, daß ich Euch von neuem störe. Ist Madame Anna für das Haus verantwortlich? Wird sie mir Anweisungen geben?«
»Meine Tante hat noch niemals eine Kasserolle von einem Hut unterscheiden können«, knurrte er. »Wenn sie sich einmischt, ist niemand geholfen. Außerdem langweilt es sie.«
»Wer soll also den Haushalt leiten?«
»Warum nicht Ihr?« fragte er, sie über seine Brillengläser hinweg betrachtend. »Ihr seht mir aus, als ob Ihr in diesen Dingen erfahren seid. Daß in der Schüssel etwas zu essen ist und kein Staub auf den Möbeln liegt, ist alles, was ich verlange. Für die notwendigen Einkäufe werdet Ihr von mir Geld erhalten. Hier, nehmt das.«
Er übergab ihr eine Börse. Häusliche Details schienen ihn wie die meisten Männer zu reizen. Trotzdem rief er sie zurück.
»Denkt daran, ich verlange genaue Abrechnung. Könnt Ihr schreiben und rechnen?«
»Ja, Monsieur«, erwiderte Angélique.
Als der Abend anbrach und nachdem sie den Hausgenossen unter dem verdutzten Blick Tante Annas eine mit Speck versetzte Kohlsuppe, geröstete, mit Gewürzen eingeriebene, in Butter getränkte Fische, einen Apfelkuchen und Salate vorgesetzt, nachdem sie die Kupferkessel der Küche wieder auf Hochglanz gebracht, die schönen Möbel in den Zimmern abgestaubt und dem kleinen Laurier durch das Märchen vom Aschenbrödel ein Lächeln entlockt hatte, fühlte die erschöpfte, aber innerlich zufriedene Angélique, daß sie einen neuen Vertrag mit dem Leben eingegangen war. Brennende Fragen wie die, ob sie sich wohl endgültig den Nachforschungen des Königs hatte entziehen können, waren in den Hintergrund gerückt, und es schien ihr viel wichtiger zu wissen, ob der kleine Junge in dieser Nacht friedlich schliefe.
Mehrmals schlich sie sich zum Speicher hinauf, um nach ihm zu sehen. Sie streichelte ihn, erzählte ihm Geschichten, zankte ein wenig mit ihm, aber jedesmal, wenn sie in der Hoffnung, ihn endlich eingeschlafen zu finden, auf Zehenspitzen zurückkam, saß er von neuem auf seinem Lager und beobachtete sein Abbild im Spiegel.
Beim viertenmal hielt sie nicht mehr an sich. Schon allzulange, seit Jahren vielleicht, konnte der Kleine nur während kurzer Erschöpfungsminuten geschlafen haben, immer wieder auffahrend, um auf das Rascheln der Ratten zu lauschen, die beunruhigenden Formen zu betrachten, die das Durcheinander im Speicher schuf, an die Dinge zu denken, die er nicht verstand, die düsteren Psalmen, die man ihn singen ließ, die Worte, die man bei seinem Anblick sagte: Dieses Kind hat seiner Mutter das Leben gekostet ...
Jede Nacht mußte zu einer endlosen Prüfung für ihn geworden sein, fern menschlicher Wärme und der vertrauten Umwelt, eine traurige, kalte Reise, deren Ende das durch die Luke fallende trübe Licht der Dämmerung anzeigte. Dann erst glitt er vielleicht in beruhigten Schlaf. Nicht für lange, denn Tante Anna weckte alle Welt spätestens um fünf.
Angélique öffnete einen Schrank, nahm ein paar Laken heraus und begab sich in ein kleines Zimmer, das sie entdeckt hatte. Niemand schien es zu bewohnen. Laurier würde dort vertrauensvoll schlafen, besänftigt durch die nahe Nachbarschaft der Küche, durch Onkel Lazare, dessen nächtlicher Husten ihn über die Gegenwart eines Menschen vergewissern würde, durch das Ticken der großen Standuhr im Treppenhaus. Außerdem würde ihm Angélique während der ersten Nächte ein Lämpchen lassen.
Sie machte mit geschwinden Griffen das Bett und schloß die Vorhänge halb, die aus schöner, durchwirktet Seide waren. Holländische Seide. Angélique vermochte den Wert all dessen, was es in diesem Hause gab, zu schätzen, mehr noch vielleicht als ihre Herrschaft, die diesen reichen Komfort zugleich zu suchen und zu verachten schien.
In der Küche nahm sie einen Bettwärmer von der Wand und füllte ihn rasch mit einigen glühenden Kohlen. Als sie zurückkehrte, bemerkte sie, daß eine zweite in den kleinen Raum führende Tür, die ihn mit dem Zimmer Maître Bernes verband, geöffnet worden war.
Der Hausherr stand auf der Schwelle, einen Finger zwischen den Seiten eines Gebetbuchs.
»Was treibt Ihr hier noch, Angélique? Mitternacht ist vorüber. Euer Dienst zwingt Euch nicht, bis zu so später Stunde aufzubleiben.«
Der höfliche Ton konnte eine gewisse Gereiztheit nicht verbergen. Wenn sich Maître Berne nach Erledigung seiner Abrechnungen in sein Zimmer zurückzog, um dort über den Heiligen Schriften zu grübeln, hatte er es gern, um sich herum die Stille des schlafenden, vom Hin und Her häuslicher Verrichtungen nicht in Unruhe versetzten Hauses zu wissen.
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