Die Krabbe, die sie aus einem Fischkasten in der Speisekammer zog, war groß wie ein Teller. Sie bewegte sich ein wenig und veränderte ihre Farbe von Violett zu Rosa und dann zu Rot. Rebecca drehte sie geschickt mit dem Schürhaken um. Dann brach sie sie mit geübtem Griff auseinander und reichte die Hälfte Angélique.
»Macht es wie ich. Haltet Euer Messer so. Vor allem: laßt nur die Schale zurück. An einer Krabbe ist alles gut.«
Das aus den Scheren gezogene dampfende Fleisch hatte den Geschmack des Meeres, so verschieden von dem der Erzeugnisse der Erde, daß es schien, als käme man durch ihn dem Heimweh nach fernen Horizonten nahe, der Poesie der Küsten.
»Kostet mir von diesem Wein«, drängte Rebecca. »Er duftet nach Meergras.«
Sie hob den Kopf und lauschte besorgt nach draußen.
»Manchmal kommt Dame Anna noch mal her. Da würde sie wohl Augen machen .«
Doch das große Haus blieb still. Nach dem Gesang der Psalmen war alles zu Bett gegangen. Eine Öllampe wachte neben dem kranken Greis. Im Erdgeschoß führte Maître Gabriel seine Rechnungsbücher. In der Küche knisterte und knackte das Feuer. Und hinter den geschlossenen Fensterläden war ein raunendes Geräusch zu vernehmen: das Meer.
»Nein, Ihr seid gewiß keine von uns«, begann die Alte wieder. »Mit den Augen, die Ihr habt, könntet Ihr vielleicht aus der Bretagne . kommen.«
»Nein, aus dem Poitou«, sagte Angélique und bedauerte im nächsten Augenblick, sich verraten zu haben.
Wann würde sie wohl lernen, die Welt als etwas Feindliches anzusehen, etwas, das mit Fallen gespickt war?
»Dort ist allerlei Schlimmes passiert«, bemerkte Re-becca mit teilnehmender Miene. »Erzählt ein wenig.«
Ihre Augen glitzerten vor Neugier.
»Ah, ich merke schon«, fuhr sie fort, als Angélique still blieb. »Ihr habt so viel gesehen, daß Ihr nicht davon zu sprechen wagt. Ihr seid wie die Jeanne oder die Madeleine, die Cousinen des Bäckers, oder wie die dicke Sarah aus dem DorfVernon, die beinah närrisch dadurch geworden ist. Macht kein solches Gesicht, ich habe nichts gesagt. Eßt lieber. Verlaßt Euch drauf, man wird mit allem fertig. Jede will die Unglücklichste sein, dabei gibt’s immer eine andere, die Euch noch viel Schlimmeres erzählen kann. Sobald es einmal mit Krieg, Belagerungen und Hungersnot angefangen hat, ist nur eins zu erwarten: Unheil! Und es gibt keinen Grund, warum Ihr bei der Verteilung zu kurz kommen solltet. >Wenn der Fähnrich reitet, verlieren die Mädchen ihre Ehre<, sagt das Sprichwort. Ich habe die Belagerung erlebt, und meine drei Kinder sind Hungers gestorben. Wenn Ihr wollt, erzähle ich Euch davon .«
Betroffen durch ihren naiven Gedankengang, dachte Angélique:
»Ja, aber ich, ich war die Marquise du Plessis-Bel-lière.«
Rebeccas hohe, spitz zulaufende Haube umrahmte ein runzliges Gesicht und lustige, von einem Gewirr von Fältchen umgebene Augen. Selbst wenn sie ernsthaft von tragischen Dingen sprach, behielt ihr Blick einen Schimmer spöttischer Heiterkeit.
»Ich«, sagte Angélique, diesmal laut - und sie war selbst verwundert, sich zu hören -, »ich habe mein ermordetes Kind in den Armen gehalten.« Von einer plötzlichen Erregung gepackt, zitterte sie am ganzen Körper.
»Ich verstehe Euch, meine Schöne. Wenn man ein Kind verloren hat, lebt man in einer andern Welt. Man gleicht nicht mehr den übrigen. Wie gesagt, ich hab’ drei unschuldige Würmer während der Belagerung begraben müssen. Ja, ich habe die Belagerung durchgemacht. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Das Älteste war sieben und ist zuerst gegangen. Ich dachte, es schliefe, und wollte es nicht wecken, weil ich mir sagte, daß es so weniger Hunger hätte. Aber als es sich gegen Abend noch immer nicht rührte, ist es mir komisch vorgekommen ... Und als ich mich dann dem Bettchen näherte, hab’ ich allmählich verstanden. Es war schon seit dem Morgen tot, vor Hunger gestorben. Ich hab’s Euch ja gesagt, Tochter - warum sollten die Kriege, die Belagerungen uns Glück bringen?«
»Aber warum habt Ihr nicht versucht, die Stadt zu verlassen?« warf Angélique unwillig ein. »War es nicht möglich?«
»Vor der Stadt lagen die Soldaten Monsieur de Richelieus. Und außerdem war’s nicht ich, die entscheiden konnte, ob die Stadt besiegt war oder nicht. Jeden Tag erwarteten wir die Engländer, Aber die Engländer waren gekommen und wieder verschwunden, und Monsieur de Richelieu hatte inzwischen seinen Damm gebaut. Jeden Tag dachten wir, daß irgend etwas geschehen würde. Was, wußten wir nicht. Die Soldaten starben vor Hunger auf den Wällen. Mein Mann hatte nicht mehr die Kraft, seine Hellebarde zu halten, und ich sah, daß er sich gegen die Mauer stützte. Als er eines Abends nicht zurückkehrte, begriff ich. Er war auf dem Wall tot umgefallen, und sie hatten ihn im Massengrab verscharrt. Sie wagten es nicht, die Leichen einfach über die Mauer zu werfen, weil die königlichen Truppen sonst gesehen hätten, daß von der Garnison bald niemand mehr übrig war . Der Hunger, das ist etwas, was man weder beschreiben noch jemand verständlich machen kann, wenn er’s nicht selbst erlebt hat . Vor allem, wenn er lange anhält . Jedesmal, wenn man auf die Straße geht, hofft man, irgend etwas zu finden . Überall sucht man, hinter jedem Prellstein, unter jeder Stufe, man sucht auch auf jeder Mauer, als ob es zwischen den Steinen etwas Eßbares geben könnte . ein Kraut. Welche Freude, als ich die Mäuse unter den Dielen sich rühren hörte! Stundenlang lauerte ich ihnen auf, und mein Ältester war sehr geschickt darin, sie zu erwischen. Ein flämischer Händler verkaufte sechs oder sieben Jahre alte Häute. Sie taten viel Gutes. Die Stadt hat achthundert davon gekauft und sie den Soldaten und den Einwohnern gegeben, die noch imstande waren, Waffen zu tragen. Aus ihrer Bouillon kochte man gute Gelees . ich hab’s selbst gemacht - für die beiden Kinder, die mir blieben. Und noch immer passierte nichts, nur jeden Tag gab’s ein wenig mehr Leid. In den Straßen sah man nur graue Skelette, in Tücher gewickelte Leichen, die man kaum noch zum Friedhof schleppte. Männer trugen ihre Frauen auf den Schultern wie ein Stück Speck ... zwei Mädchen auf einer Bahre, der alte Vater ... Die Mutter trug den Sohn im Arm wie zur Taufe ...«
»Und warum seid Ihr nicht wirklich geflohen?«
»Draußen warteten die Soldaten des Königs. Die Männer hängten sie, mit den Frauen machten sie, was sie wollten. Die Kinder .? Kann man wissen, was sie mit ihnen angefangen hätten? Und dann - man konnte die Stadt einfach nicht verlassen. Es hätte bedeutet, daß sie besiegt gewesen wäre. Es gibt Dinge, die man nicht tun kann. Man hat keinen Schimmer, warum. Man mußte mit ihr sterben oder ... Ich weiß nicht mehr, wann mein Zweiter gestorben ist. Ich weiß nur noch, daß mir der Jüngste geblieben war, als eine Abordnung vor König Ludwig XIII. niederkniete, um ihm die Schlüssel La Rochelles auf einem Kissen zu überreichen. Man schrie und stürzte zu den Toren, weil das Gerücht umging, daß Brotkarren kommen sollten. Und ich lief mit ... das heißt, ich glaubte, daß ich lief, aber in Wirklichkeit hab’ ich mich wie die andern durch die Gassen geschleppt, wie die andern Gespenster, die sich nur aufrecht halten konnten, wenn sie sich gegen die Mauern stützten. Wahrhaftig, es waren alles Gespenster . Ich betrachtete den Kleinen, seine großen schwarzen Augen im mageren Gesichtchen, und sagte mir: >Es ist zu Ende, die Abordnung hat die Unterwerfung gebracht ... Der König kommt in die Stadt und das Brot desgleichen!
Es ist zu Ende, die Stadt ist besiegt! Aber dieser da bleibt dir. Dieser da wenigstens. Für diesen da ist die Unterwerfung noch zur rechten Zeit gekommen<, sagte ich mir. >Ein paar Tage noch, und du wärst eine Mutter mit leeren Armen gewesen. Gott sei gelobt!< Wißt Ihr, was dann geschehen ist?«
»Nein«, sagte Angélique, ohne die schreckerfüllten Augen von ihr zu lassen, ohne daran zu denken, daß die Belagerung La Rochelles bereits rund vierzig Jahre zurücklag.
»Nun, trinkt erst einmal einen Schluck, statt Euren Wein warm werden zu lassen - der Wein der Ile de Ré muß nämlich hübsch kühl getrunken werden. An den Toren verteilten die Soldaten also Brotlaibe, die noch warm von den Öfen des Lagers waren. Sie hatten Befehl, sich zu den tapferen Rochellesern anständig zu benehmen. Und schließlich sind Soldaten, wenn man sie nicht gerade antreibt, auch nur Menschen wie die andern . Ich habe sogar welche gesehen, denen die Tränen in die Augen traten, als sie uns sahen . Ich aß also, ich aß, und der Kleine, der seinen Laib wie ein Eichhörnchen in beiden Händen hielt, konnte auch nicht genug kriegen . Und dann war er plötzlich tot. Weil er zuviel und zu schnell gegessen hatte . Der Kopf fiel ihm auf die Schulter, und es war aus. Ich brauchte ihn nur noch zu begraben, wie die andern . Und was denkt Ihr, was danach mit mir passiert ist? Gewiß, ich bin närrisch, beinah närrisch geworden. Aber laßt Euch eines wenigstens sagen, Tochter. Was einem auch geschieht, was man auch durchmacht - das Leben ist wie eine Spinne, die die zerrissenen Fäden wieder erneuert, schneller als man’s glauben möchte. Man kann nichts dagegen tun.«
Sie unterbrach sich für einen Moment, und man hörte nur das Kratzen ihres geschäftigen Messers gegen die Schale der Krabbe.
»Was mich zuerst tröstete«, nahm sie den Faden wieder auf, »war, daß ich genug zu essen hatte. Alle die Dinge in Reichweite zu haben, die einem so lange gefehlt hatten, verschaffte mir eine Art von Zufriedenheit, und während dieser Zeit vergaß ich. Und danach tröstete es mich, wenn ich das Meer betrachtete. Ich ging auf die Klippen und blieb dort lange Zeit. Ich hörte den Lärm der Hacken, die die Wälle und Türme La Rochelles, unserer stolzen Stadt, niederrissen. Aber das Meer war da, und niemand konnte es mir nehmen. Das tröstete mich, Tochter ... Und dann liebte mich ein Mann. Er war ein Papist. Es gab jetzt viele von der Sorte in La Rochelle. Es kam einem vor, als ob sie wie Pilze aus dem Pflaster wüchsen. Aber dieser konnte hübsche Liebesworte drechseln, und das war alles, was ich von ihm verlangte. Wir hätten geheiratet, aber was wären das für Umstände gewesen! Ich hätte mich vorher bekehren müssen, und das war nun wahrhaftig nicht nach meinem Geschmack. Er ist mit einem Schiff nach Saint-Malo gereist, wo er Verwandte und eine Erbschaft hatte. Ich habe ihn nicht wiedergesehen ... Was liegt daran! Ich hatte ein Kind von ihm, einen Jungen . und schließlich mußte ich weiterleben, nicht wahr? Kinder geben einem Kraft.«
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