»Und Eure eigene Tochter, Monsieur Berne, wie alt ist sie?«
»ZwölfJahre.«
»Richtig. Eine kürzlich erlassene Verordnung ermächtigt die im reformierten Glauben erzogenen Mädchen, mit zwölf Jahren die Religion zu wählen, der sie in Zukunft angehören wollen.«
»Ich vermute, daß meine Tochter schon gewählt hat«, murmelte Maître Gabriel. »Ihr habt Euch eben davon überzeugen können.«
»Mein lieber Freund -«, die Stimme des Statthalters klang frostig, »- es betrübt mich, daß Ihr meine Hinweise in einem Geist aufnehmt, der mir - wie soll ich sagen? - ein wenig spöttisch, wenn nicht gar widersetzlich scheint. Bedauerlicherweise muß ich auf ihnen beharren. All das ist äußerst ernst. Und ich kann Euch nur einen Rat geben: Schwört ab . schwört ab, glaubt mir, bevor es zu spät ist. Ihr werdet Euch tausend Unannehmlichkeiten ersparen.«
Angélique wäre froh gewesen, wenn Monsieur de Bardagne sich irgendwo anders hätte vernehmen lassen. Sie war es müde, ihnen den Rücken zuzuwenden und sich mit allerlei nutzlosen Dingen zu beschäftigen, um sich Haltung zu geben.
Endlich verklang die Stimme im Treppenhaus. Gleich darauf fiel die Haustür, dann das Hoftor geräuschvoll zu, der Lärm der Stiefel und Pferdehufe verhallte, und die Familienmitglieder erschienen nacheinander in der Küche und reihten sich um die Tafel. Die alte Dienstmagd Rebecca, diejenige, die die Zwiebeln geworfen hatte, trippelte wie eine Maus zum Herd und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie feststellte, daß die von ihr im Fieber der Ereignisse so völlig vergessene Mahlzeit keinen Schaden gelitten hatte.
»Danke, meine Schöne«, flüsterte sie Angélique zu. »Ohne Euch hätte unser Herr mir gewiß ganz hübsch die Leviten gelesen.«
Nachdem sie die Schüssel abgestellt hatte, blieb Rebecca am Ende des Tisches stehen, und der Pastor Beaucaire nahm das Wort zu einer kurzen Ansprache, einer Art Gebet, in der er den Segen des Herrn auf das einfache Mahl herabflehte. Jedermann setzte sich. Bedrückt und unsicher, was sie tun sollte, blieb Angélique am Herd. Maître Gabriel rief sie an: »Angélique, nähert Euch und nehmt Platz. Unsere Dienstboten haben immer zur Familie gehört. Auch Eure Tochter ehrt uns durch ihre Gegenwart. Kindliche Unschuld lenkt den Segen Gottes auf ein Haus. Wir brauchen einen Stuhl, der zu ihrer Größe paßt.«
Der Martial genannte Knabe sprang auf und kehrte bald darauf mit einem hohen Stuhl zurück, den man offenbar auf den Dachboden verbannt hatte, seitdem der Jüngste, ein siebenjähriger Junge, seine ersten Kniehosen trug. Angélique setzte Honorine hinein, die einen olympischen Blick über die Versammlung schweifen ließ.
Im warmen Licht der Kerzen schien sie mit größter Aufmerksamkeit die aus dem Dunkel tauchenden Gesichter dieser Städter über ihren Kragen und makellosen Halsbinden zu studieren. Die Schatten verschluckten deren schwarze Kleidung. Die weißen Flügelhauben der Frauen wandten sich ihr raschelnd zu. Dann fiel ihr Blick auf den Pastor Beaucaire am anderen Ende des Tisches. Ein süßes Lächeln strahlte aus ihren dunklen Augen, und mit ausdrucksvoller Mimik gab sie einige Worte von sich, die man nicht recht verstand, über deren liebenswürdige Absicht es aber keinen Zweifel gab. Der Takt, mit dem sie
ihre Neigung auf den Ehrengast in dieser kleinen Gesellschaft zu konzentrieren schien, entzückte alle Welt.
»Wie schön sie ist!« rief die junge Abigaël, die Tochter des Pastors, aus.
»Und wie reizend sie sich benimmt!« sagte Séverine.
»Ihr Haar ist wie das Kupfer der Kasserollen!« rief Martial.
Sie lachten bezaubert und glücklich, während Honorine fortfuhr, den Pfarrer mit frommer Bewunderung zu betrachten. Der alte Mann schien gerührt und sogar ein wenig geschmeichelt, der jungen Dame ein so ausschließliches Gefühl eingeflößt zu haben. Er bat darum, sie als erste zu bedienen.
»Die Kleinen sind Könige unter uns. Der Herr nahm sich ihrer mit Vorliebe an.«
Er sprach von dem Gleichnis des Kindes, das Jesus mitten unter die zweifelnden Erwachsenen gesetzt hatte, indem er zu ihnen sagte: »Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«
Während er sprach, fanden die Gesichter zu ihrer Ernsthaftigkeit zurück, und der älteste Sohn des Hauses erhob sich und reichte die Speisen herum, wie es in den bürgerlichen Familien üblich war.
»Vater«, sagte Séverine, die zwölfjährige Tochter, in leidenschaftlichem Ton, »was hättet Ihr getan, wenn man Onkel Lazare gezwungen hätte zu kommunizieren? Was hättet Ihr getan?«
»Man kann niemand zwingen zu kommunizieren, meine Tochter. Selbst die Papisten würden es als Sakrileg ansehen, als Gott gegenüber nicht gültig.«
»Aber wie hättet Ihr Euch verhalten, wenn sie es trotzdem getan hätten? Hättet Ihr sie getötet?«
Sie hatte schwarze, brennende Augen in einem kleinen, kreidigen Gesicht, dem die weiße, der bäuerlichen Haube ähnelnde Kappe einen ältlichen Ausdruck verlieh.
»Gewalttätigkeit, meine Tochter .«, begann Maître Gabriel.
Ihr großer, unhübscher Mund verzerrte sich.
»Natürlich, Ihr hättet sie es tun lassen. Und unser Haus wäre entehrt.«
»Kinder können über derlei Dinge nicht richten!« donnerte Maître Gabriel, plötzlich von Zorn übermannt.
Er schien äußerlich ruhig, und man hätte ihn sich gern von jovialer, gutmütiger Natur vorgestellt. Doch gab es trotz seiner leicht fülligen Erscheinung und der Sanftheit seiner blauen Augen kaum einen Mann, zu dem diese Eigenschaft weniger gepaßt harte. Im Umgang mit ihm sollte Angélique erfahren, daß die Bewohner La Rochelles unter einer dünnen materialistischen Schale die Härte des Eises verbargen. Blitzartig erinnerte sie sich der Knüppelschläge, mit denen er sie auf der Straße nach Les Sables d’Olonne bezwungen hatte. Geschaffen, um sich vor einer Schüssel voller Fettammern niederzulassen und ihre ganze kernige Vollkommenheit zu genießen, war er auch imstande, ohne sich überwinden zu müssen, wie der gute König Heinrich, der lange Zeit Gast La Rochelles gewesen war, von einem Kanten Brot und einer Knoblauchzehe zu leben.
Als sich die Familie in ein anderes Zimmer zurückgezogen hatte, um dort die Bibel zu lesen, fühlte sich die mit der alten Rebecca allein gebliebene Angélique tief deprimiert.
»Ich weiß nicht, ob Euch diese Mahlzeit wirklich genügt«, sagte sie, »aber mein Kind hat jedenfalls nicht genug gegessen. Selbst im tiefsten Wald ist sie stets besser genährt worden als in diesem Haus, dessen Bewohner wohlhabend, wenn nicht gar reich zu sein scheinen. Haben sich die Hungersnot und das Elend des Poitou etwa bis hierher verbreitet?«
»Was redet Ihr da!« rief die Alte entrüstet. »Wir aus La Rochelle sind die reichsten Leute aller Städte des Königreichs. Aber wir haben unsere Erfahrungen gemacht. Nach der Belagerung hättet Ihr hier nicht einmal ein Radieschen gefunden. Und wenn Ihr jetzt in die Lagerhäuser und auf die Kais geht . Wir quellen von Waren über, von Wein, Salz und Lebensmitteln.«
»Warum dann diese Knauserei?«
»Ah! Man sieht gleich, daß Ihr nicht von hier seid! Ihr müßt wissen, daß wir uns seit der Belagerung daran gewöhnt haben, einen Hering in vier Teile zu teilen und die Bataten zu zählen. Ihr hättet den Vater Monsieur Gabriels erleben müssen. Ah, was für ein prachtvoller Mann! Man hatte ihm Kieselsteine auftischen können, ohne daß es ihm aufgefallen wäre. Nur was den Wein anging, da war er schwierig. Die schönsten Weine der Charente liegen da unten in unserem Keller«, fügte sie hinzu, mit einem ihrer Holzschuhe auf die Fliesen der Küche klopfend.
Während sie plauderte, hatte sie die Teller abgeräumt und begann nun, sie in einem mit heißem Wasser gefüllten Zuber abzuwaschen. Angélique sah ihr mit hängenden Armen zu. Als Dienstmagd war mit ihr nicht allzu viel Staat zu machen. Aber sie hatte Hunger. Sie fröstelte sogar, als ob sie krank würde. Die Brandwunde auf ihrer Schulter eiterte, und ihr Mieder klebte fest. Jede Bewegung erinnerte sie an den schimpflichen Augenblick, an den Schreck, an die Qualen der Angst, die erst so kurze Zeit zurücklagen, daß sie sie noch wie einen kalten Schatten fühlte.
Sie nahm Honorine in die Arme. Die Kleine verlangte nichts. Sie verlangte nie etwas. In den Armen ihrer Mutter geborgen zu sein, schien sie für alle Entbehrungen zu entschädigen. Sie war vielleicht wie diese Protestanten, die, um leben zu können, nur eine wesentliche Sache brauchten und sich aller übrigen zu entäußern vermochten. Wie sie eben dem Kind zuge-lächelt hatten . Dem verfluchten Kind! . Sollte sie in diesem Haus bleiben? . Sollte sie es verlassen? Wo bot sich ein neuer Zufluchtsort?
»Da ist dicke Milch und Brot für die Kleine«, sagte die alte Magd, indem sie eine mächtige Portion auf eine Tischdecke stellte.
»Aber wenn Eure Herrschaft .«
»Sie werden nichts sagen, schon gar nicht ihretwegen . Ich kenne sie. Hinterher könnt Ihr sie dort schlafen legen.«
Sie zeigte Angélique in einer Nische der Küche ein stattliches, hohes, mit Eiderdaunenkissen bedecktes Bett.
»Schlaft Ihr dort nicht für gewöhnlich?«
»Nein, ich habe einen Strohsack im Keller, dicht beim Warenlager. Ich schlafe da, um die Diebe verscheuchen zu können.«
Nachdem Angélique das Kind gesättigt und zu Bett gebracht hatte, kehrte sie zum Herd zurück. Sie wußte, daß sie in dieser Nacht nicht schlafen würde, und zog hundertmal die Gegenwart der offenbar recht geschwätzigen Rebecca vor, die ihr für ihre weitere Existenz in diesem Hause von Nutzen sein konnte. Die Alte stocherte ein wenig in den glühenden Kohlen herum.
»Setzt Euch dorthin, meine Schöne«, sagte sie, auf einen Schemel ihr gegenüber weisend. »Wir werden zusammen eine Krabbe auskratzen und ein gutes, kleines Weinchen von Saint-Martin-de-Ré dazu trinken. Das wird Euch den Kopf wieder zurechtsetzen.«
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