An den Straßenecken brannten schon die Lampen. Die Stadt machte einen sauberen, beruhigenden Eindruck. Weder Betrunkene noch Passanten mit Galgengesichtern. Die Leute schlenderten trotz der späten Stunde dahin, als hätten sie einen Spaziergang vor sich.
Maître Gabriel hielt zum erstenmal vor einem noch offenen Torweg an.
»Hier sind meine Lagerhäuser. Sie gehen zum Hafen hinaus. Aber ich ziehe es vor, meine Getreidesäcke weiter hinten, fern von neugierigen Blicken, abzuladen.«
Er dirigierte die Maultiere und die beiden Karren durch den Torweg, und nachdem er einigen herbeigeeilten Gehilfen seine Befehle erteilt hatte, stieg er wieder in die Kutsche.
Das Gefährt holperte hart über die runden Steine, mit denen die Gassen gepflastert waren und aus denen die Hufe des Pferdes hin und wieder Funken schlugen.
»Unser Viertel am Wall ist recht ruhig«, erklärte der Kaufmann weiter, der zufrieden schien, bald in seinen eigenen vier Wänden zu sein. »Dabei sind wir kaum zwei Schritt von den Kais entfernt und .«
Er schien die Absicht zu haben, sich noch ausgedehnter über die Annehmlichkeiten auszulassen, gleichzeitig nahe dem Hafen und doch fern von seinem Gelärm zu wohnen, als sie hinter einer Biegung der Gasse auf unruhig sich bewegende Lichter und ein Durcheinander erregter Stimmen stießen, die im Widerspruch zu seinen Worten standen.
Ein lebhaftes Hin und Her von mit Hellebarden bewaffneten Gendarmen war zu beobachten, deren Fackeln rötliche Lichter auf die weiße Fassade eines hohen Gebäudes warfen, dessen Torflügel weit geöffnet waren.
»Häscher in meinem Hof?« murmelte Maître Gabriel. »Was geht da vor?«
Nichtsdestoweniger stieg er scheinbar unbewegt aus der Kutsche.
»Folgt mir mit Eurer Tochter. Es besteht keinerlei Anlaß, daß Ihr hierbleibt«, meinte er, als er bemerkte, daß Angélique zögerte, sich zu zeigen. Sie hatte im Gegenteil mehrere und ausgezeichnete Anlässe, ihm nicht in diese Falle der Gendarmerie zu folgen. Doch auch auf die Gefahr hin, bemerkt zu werden, mußte sie sich ihrem neuen Herrn anschließen.
Die Gendarmen kreuzten ihre Hellebarden.
»Nachbarn sind nicht zugelassen. Wir haben Befehl, jede Ansammlung zu zerstreuen.«
»Ich komme nicht als Nachbar. Ich bin der Herr dieses Hauses.«
»Ah, gut! Das ist eine andere Sache.«
Nach Durchquerung des Hofs stieg Maître Gabriel ein paar Stufen hinauf und betrat einen durch schwere Tapisserien und Bilder verdunkelten Flur mit niedriger Decke. Ein sechsarmiger Leuchter verbreitete auf einer Konsole unruhiges Licht.
Ein kleiner Junge kam hastig, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die steinerne Treppe herunter.
»Schnell, Vater, kommt! Die Papisten wollen den Onkel zur Messe schleppen!«
»Er ist sechsundachtzig und kann nicht gehen. Es kann nur ein Scherz sein«, erwiderte Maître Gabriel in beruhigendem Ton.
Die hohen Hacken seiner Stiefel mit bekümmerter Nonchalance auf die Fliesen setzend, näherte sich ihnen auf dem oberen Treppenabsatz ein elegant in kastanienfarbenen Samt gekleideter Herr, dessen Manschetten, Halsbinde und gleichfalls auffällig gepflegte Perücke seinen hohen Rang verrieten.
»Mein lieber Berne, es freut mich, Euch zu sehen. Ich war untröstlich, in Eurer Abwesenheit Zutritt zu Eurem Haus erzwingen zu müssen, aber es handelte sich um einen besonderen Fall .«
»Ich fühle mich durch Euren Besuch sehr geehrt, Herr Generalstatthalter«, sagte der Kaufmann, indem er sich tief verneigte, »aber darf ich um Erklärungen bitten?«
»Ihr wißt, daß gemäß neuer Verordnungen, deren Anwendung wir uns nicht entziehen können, jeder zur sogenannten reformierten Religion gehörende Todkranke von einem katholischen Priester aufgesucht werden muß, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese Welt befreit von seinen Ketzereien und des ewigen Heils gewiß zu verlassen, Als er vernahm, daß Euer Onkel, der Sieur Lazare Berne, im Sterben liegt, hielt es ein glaubenseifriger Kapuziner, der Vater Germain, für seine Pflicht, mit dem Pfarrer der zuständigen Gemeinde und von einem Gerichtsdiener begleitet, wie es die Formalitäten vorschreiben, zu ihm zu gehen. Da diese Herren von den Frauen Eures Hauses - ah, diese Frauen, mein armer Freund! - so unfreundlich empfangen wurden, daß sie zunächst ihre Mission nicht erfüllen konnten, bat man mich der allseits bekannten Freundschaft wegen, die ich für Euch empfinde, die Damen zu besänftigen; eine Aufgabe, zu deren Erfolg ich mich beglückwünsche, denn Euer bedauernswerter Onkel ist kurz vor seinem Hinscheiden .«
»Ist er tot?«
»Er hat nur noch wenige Augenblicke zu leben. Euer Onkel, sage ich, ist angesichts des Nahens der Ewigkeit endlich durch die Gnade erleuchtet worden und hat eingewilligt, die Sakramente zu empfangen.«
Plötzlich begann eine durchdringende, hysterische Mädchenstimme zu schreien:
»Nicht das! . Nicht das im Hause unserer Ahnen!«
Der Generalstatthalter selbst umschlang eine klei-ne, magere Gestalt, die sich auf ihn stürzte und ihm mit einer reichberingten Hand auf den Mund schlug.
»Ist das Eure Tochter, Maître Berne?« fragte er kalt. Gleich darauf stieß er einen Wutschrei aus. »Sie hat mich gebissen, die Dirne!«
Aus den Tiefen des Hauses erhob sich schrilles Getöse.
»Hu! Hu! Macht euch fort!«
Eine kleine, hexenhafte Alte tauchte aus dem Dunkel eines Korridors auf und begann, irgendwelche Wurfgeschosse zu schleudern. Angélique bemerkte, daß es sich um Zwiebeln handelte. Sie schienen der alten Hugenottin zufällig in die Hände geraten zu sein . Diener polterten mit ihren derben Schuhen über die Fliesen des Vestibüls.
Nur Maître Gabriel bewahrte kaltes Blut. In trok-kenem Ton befahl er seiner Tochter zu schweigen.
Währenddessen hatte der Generalstatthalter durch das Fenster ein Zeichen gegeben. Soldaten hasteten die Treppe herauf. Ihre Gegenwart besänftigte die Unruhe, und die Neugier trieb alle Welt vor dem Eingang eines Zimmers zusammen.
Zwischen den Kissen des Bettes unterschied Angélique undeutlich den Kopf eines Greises, der in der Tat in den letzten Zügen zu liegen, wenn nicht gar schon tot schien.
»Mein Sohn, ich bringe Euch den Leib unseres Herrn Jesus Christus«, sagte der Priester, während er sich näherte.
Die Worte hatten eine überraschende Wirkung.
Der Greis öffnete plötzlich ein äußerst waches, lebendiges Auge und hob den Kopf, der auf einem langen, dürren Hals saß.
»Ich bezweifle, daß derlei in Eurer Macht steht.«
»Ihr habt eben noch zugestimmt .«
»Ich weiß nichts davon.«
»Die Bewegungen Eurer Lippen waren nicht anders zu deuten.«
»Ich hatte Durst, das ist alles. Aber erinnert Euch, Herr Pfarrer, ich habe während der Belagerung von La Rochelle gekochtes Leder und Distelsuppe gegessen. Und das nicht, um fünfzig Jahre später einen Glauben zu verleugnen, in dessen Namen dreiundzwanzigtau-send von achtundzwanzigtausend Einwohnern meiner Stadt gestorben sind.«
»Ihr faselt!«
»Mag sein, aber Ihr werdet mich nicht dazu bringen, verkehrt zu faseln.«
»Ihr werdet sterben.«
»Was tut’s!«
Mit einer seltsam gesprungenen, aber noch klaren Stimme rief er:
»Man bringe mir ein Glas guten Weins.«
Die Angehörigen des Hauses brachen in Gelächter aus. Der Onkel belebte sich wieder. Der entrüstete Kapuziner gebot Schweigen. Man mußte diese frechen Ketzer bestrafen. Eine kleine Kostprobe Gefängnis würde ihnen beibringen, sich wenigstens äußerlich, wenn auch nicht von Herzen, ehrerbietig zu geben. Eine besondere Behandlung war übrigens für diejenigen vorgesehen, die durch ihre Haltung einen Skandal provozierten.
In diesem Augenblick drang ein Geruch nach etwas Verbranntem in Angéliques Nase und veranlaßte sie, sich aus dieser Auseinandersetzung zurückzuziehen, die weder ihr noch sonst jemand Gutes bringen konnte, und sich in die Küche zu begeben.
Es war ein riesiger, warmer, behaglich möblierter Raum, der ihr auf den ersten Blick sympathisch war. Sie beeilte sich, Honorine in einem Sessel nahe dem Herd abzusetzen, und entdeckte, als sie den Deckel eines Topfes hob, Kartoffeln, die sich bereits zu bräunen begannen, aber gerade noch vor dem endgültigen Verbrennen zu retten waren. Sie schüttete einen Suppenlöffel voll Wasser in den Kessel, dämpfte die Flammen und beschloß, nachdem sie sich umgesehen hatte, die Bestecke auf dem langen Mitteltisch auszulegen.
Der Streit würde sich allmählich beruhigen, und da sie die Dienstmagd war, fiel es ihr zu, die Mahlzeit vorzubereiten.
Die seltsame Szene bei ihrer Ankunft erfüllte sie noch immer mit peinlichster Bestürzung. Ein protestantisches Haus war vielleicht doch kein idealer Zufluchtsort für sie. Aber dieser Kaufmann hatte ihr gegenüber menschlich gehandelt. Er schien in bezug auf ihre Person keinerlei Verdacht zu hegen. Man würde ihre Spur verlieren. Wer würde sie schon in der Rolle der Dienstmagd eines hugenottischen Kaufmanns aus La Rochelle vermuten? Sie stieß die Tür eines dunklen, kühlen Nebenraums auf und fand, was sie suchte. Sorgfältig aufgereihte und etikettierte Lebensmittelvorräte.
»Wer ist die Frau? Eure Magd?« fragte die Stimme des Statthalters. »Ja, Monseigneur.«
»Ist sie reformierten Glaubens?«
»Allerdings.«
»Und das Kind? . Ihre Tochter? Zweifellos ein Bastard. In diesem Fall muß sie in der katholischen Religion erzogen werden. Hat man sie taufen lassen?«
Angélique sortierte Äpfel. Sie hielt sich so, daß sie den Sprechenden den Rücken zuwendete. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hörte Maître Gabriels Erwiderung, daß er diese Magd erst kürzlich eingestellt habe, daß er jedoch nicht verfehlen werde, sich über ihre Verhältnisse und die ihres Kindes zu informieren und sie über die gesetzlichen Erfordernisse zu unterrichten.
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