Sie ließen sie eine steinerne Wendeltreppe hinaufsteigen und führten sie oben in einen Saal mit gewölbter Decke, dessen feuchte Wände von Salz zerfressen waren. Ein Kohlenbecken verbreitete laue Wärme. Es diente übrigens nicht nur dem Zweck, die an ein mittelalterliches Grabgewölbe gemahnende Temperatur zu mildern. Angélique begriff es, als sie die Umrisse eines robusten Mannes entdeckte, dessen scharlachrotes Trikot muskulöse Arme freiließ. Über das Becken gebeugt, drehte er langsam und sorgfältig einen mit einem Holzgriff versehenen langen Eisenstiel in der Kohlenglut.
Unter einer Art Baldachin aus stark ausgeblaßtem blauem, mit Wappenlilien geschmückten Tuch im Hintergrund des Raums unterhielt sich ein Richter in langem schwarzem Talar und gerollter Lockenperücke mit einem der Kaufleute, genauer gesagt demjenigen, der Angélique niedergeschlagen hatte.
Sie plauderten gemächlich und nahmen sich nicht die Mühe, ihr Gespräch zu unterbrechen, als die bewaffneten Männer, die Angélique hereingeführt hatten, sie vor dem Henker auf die Knie stießen, ihr den Mantel abnahmen und sich anschickten, ihr das Mieder von den Schultern zu streifen.
Angélique setzte sich erbittert zur Wehr. Aber kräftige Fäuste hielten sie fest, sie hörte, wie der Rücken ihres Kleides zerriß. Ein rotes Licht schien vor ihren Augen zu zittern, näherte sich, näherte sich noch mehr .
Sie heulte auf wie eine Besessene.
Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie war so beherrscht von dem Verlangen, den sie bändigenden Händen zu entrinnen, daß sie nichts fühlte. Erst als sie sie losließen, nahm sie die grausame Verletzung ihrer Schulter wahr.
»Tüchtig, mein Junge!« knurrte einer der Bewaffneten, sich an seinen Kameraden wendend. »Um die da ruhig zu halten, braucht’s ein ganzes Regiment. Eine wahre Furie, möchte man sagen.«
Die Verbrennung strahlte ihren Schmerz in Angéliques Gehirn, in ihren linken Arm bis zu den Fingerspitzen aus. Sie lag noch auf den Knien und wimmerte schwach. Der Henker stellte das Folterinstrument an seinen Platz zurück, einen langen Stiel, an dessen Ende man einen vom vielen Gebrauch geschwärzten Stempel der königlichen Lilie geschmiedet hatte.
Der Richter und der Kaufmann sprachen noch immer. Ihre Worte hallten ziemlich laut unter den steinernen Wölbungen wider.
»Ich teile Euern Pessimismus nicht«, sagte der Richter. »Unsere Situation ist nach wie vor gefestigt, und es ist nicht wahr, daß der König den Untergang der Protestanten will. Im Gegenteil, er schätzt die Ehrlichkeit und Genügsamkeit unserer Glaubensgenossen. Hier in Sables, zum Beispiel, ist die Zahl der Katholiken so klein, daß drei reformierte Richter auf einen katholischen kommen. Und da der letztere sich ständig auf Entenjagd befindet, fällt es uns zumeist zu, die katholischen Streitigkeiten zu schlichten.«
»Was die Geschichte im Poitou nicht aus der Welt schafft. Ich versichere Euch, daß ich dort gewisse Dinge beobachten konnte, die mich einigermaßen beeindruckt haben .«
»Die Ereignisse im Poitou? . Eine einfache, wenn auch höchst bedauerliche Provokation, ich gebe es zu. Unsere Brüder haben sich einmal mehr für die ehrgeizigen Ziele der großen Herren wie der La Morinière mißbrauchen lassen.«
Der Richter stieg die Stufen seines Podiums hinunter und näherte sich der knienden Angélique. »Nun, meine Tochter, werdet Ihr aus dem, was Euch geschehen ist, eine Lehre ziehen? Mit Räubern und Schmugglern in den Wäldern herumzustreunen, ist nichts für eine Person von gutem Ruf. Von nun an werdet Ihr überall, wohin Ihr auch geht, der könig-lichen Justiz gehören. Ihr seid mit der Lilie gezeichnet worden. Jeder wird wissen, daß Ihr durch die Hände des Henkers gegangen und nicht unter die empfehlenswerten Personen zu zählen seid. Ich hoffe, daß dieser Umstand Euch geneigt machen wird, in Zukunft beim Handel mit Euren Reizen ein wenig mehr Vorsicht und Unterscheidung walten zu lassen .«
Sie hielt ihre Augen beharrlich gesenkt. Da sie nicht erkannt worden war, wollte sie ihnen auch keine Gelegenheit geben, sie genauer aufs Korn zu nehmen. Von allem, was er gesprochen hatte, war nur ein einziger Satz bis in ihr Begriffsvermögen gedrungen: »Ihr seid mit der Lilie gezeichnet worden.«
Sie fühlte das schimpfliche Zeichen, das aus ihr für immer eine Verstoßene machte, tief in ihr Fleisch eingegraben. Sie gesellte sich zur Schar der Frauen am Rande der Gesellschaft: der Freudenmädchen, Verbrecherinnen, Diebinnen .
Doch das belastete sie im Augenblick wenig. Alles war unwichtig mit Ausnahme der Notwendigkeit, so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis herauszukommen und zu erfahren, was aus Honorine geworden war.
So ließ sie die endlosen Ermahnungen und Verwarnungen des Richters, die zuweilen einem pastoralen Sermon sehr ähnlich klangen, geduldig über sich ergehen und horchte erst bei seinen Schlußsätzen auf.
»Eingedenk dessen, daß ich Euch Nachsicht schulde, da Ihr zur reformierten Religion gehört, werde ich Euch nicht in diesen Mauern zurückhalten. Aber ich muß über das Heil Eurer Seele wachen und dafür sorgen, daß Ihr nicht von neuem in Eure Fehler verfallt. Ich kann nichts Besseres tun, als Euch einer Familie anzuvertrauen, deren erbauliches Beispiel Euch auf den Weg des Guten und zu Euren Pflichten gegen Gott zurückführen wird. Der hier anwesende Maître Gabriel Berne hat mir erklärt, daß er eine Dienstmagd für sein Haus und seine Kinder suche. Er ist bereit, Euch in seinen Dienst zu nehmen und so die von Christus empfohlene Vergebung der Sünden zu praktizieren. Erhebt Euch, zieht Euch an und folgt ihm.«
Angélique ließ es sich nicht zweimal sagen.
In der Gasse, in der sich Fischer, Muschelverkäuferinnen und Salinenarbeiter drängten, die mit ihren riesigen Rechen auf der Schulter vom Strand zurückkehrten, lauerte sie auf eine Gelegenheit, dem Kaufmann zu entkommen. Sie verdankte ihm zwar ihre Freiheit, hatte aber nicht die leiseste Absicht, ihm gefügig zu folgen, wie der Richter ihr eingeschärft hatte. Maître Gabriel schien ihre Gedanken zu erraten, denn er hielt sie fest am Arm. Sie erinnerte sich, daß er nicht lange fackelte, wenn es galt, seine kräftigen Fäuste zu gebrauchen, und daß er mit einem Knüppel umzugehen wußte. Obwohl friedlich wirkend, sah er nicht so aus, als ob gut Kirschen mit ihm zu essen sei.
Im Wirtshaus zum »Schönen Salz« zeigte er ihr ihre Kammer.
»Wir reisen morgen in aller Frühe weiter. Ich wohne in La Rochelle, aber ich habe unterwegs noch Kunden zu besuchen. Wir werden deshalb erst gegen Abend zu Hause sein. Inzwischen muß ich mich Eures guten Willens vergewissern, in meinem Dienst zu bleiben, denn ich habe dem Richter dafür gutgesagt, daß Ihr keinen Versuch machen werdet zu fliehen, um Euer unordentliches Leben wiederaufzunehmen.«
Er erwartete eine Antwort. Sie hätte ihren guten Willen beteuern und ihn über ihre Absichten beruhigen können. Doch vor seinem offenen, ehrlichen Blick vermochte sie es nicht. Im Gegenteil: von ihrem bösen Geist angetrieben, protestierte sie heftig.
»Rechnet nicht darauf. Nichts wird mich in Eurem Dienst zurückhalten können.«
»Auch nicht das hier?«
Er wies auf das Bett, das wie die Bauernbetten auf einer mit Schubfächern versehenen Lade hergerichtet war.
Sie verstand nicht.
»Geht näher heran«, sagte er.
Er schien sich über sie lustig zu machen.
Sie machte zwei Schritte und blieb unbeweglich stehen. Auf dem Kopfkissen hatte sie einen roten Haarschopf entdeckt. Bis zum Kinn zugedeckt, einen Daumen im Mund, schlief Honorine friedlich.
Angélique glaubte zu träumen. Auch diese Vision fügte sich in den Reigen wahnwitziger Vorstellungen, in dem sie hilflos zappelte. Sie warf Maître Gabriel einen ungläubigen Blick zu. Dann senkten sich ihre Augen und hefteten sich auf die Stiefel des Kaufmanns.
»Ihr wart es also«, flüsterte sie.
»Ja, ich war’s. Gestern abend ging ich durch den Hof des Gefängnisses, wo ich den Richter besucht hatte, als eine Stimme mich zurückhielt. Eine Frau bat mich, ihr Kind zu retten. Ich nahm mein Pferd, und obwohl es mir nicht viel Spaß machte, zum Ort des Überfalls zurückzukehren, habe ich mich dorthin begeben. Ich hatte Glück und erreichte ihn noch vor Einbruch der Nacht. Ich fand das Kind am Fuß des Baums. Vom Weinen und Schreien erschöpft, war es eingeschlafen. Aber es fror nicht allzu sehr. Ich wickelte es in einen Mantel und brachte es her. Eine Dienerin hat sich auf meine Bitte seiner angenommen.«
Es schien Angélique, als sei ihr nie ein beglückend er es Gefühl der Erlösung zuteil geworden. Das ganze Leben würde von nun an einfach sein, jetzt, da diese schreckliche Last ihr vom Herzen genommen war. Also waren alle Wunder möglich, denn dieses eine Wunder hatte stattgefunden. Die Menschen waren gut, die Welt war schön .
»Seid gesegnet«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Ich werde niemals vergessen, Maître Gabriel, was Ihr für mich und meine Tochter getan habt. Ihr könnt auf meine Ergebenheit zählen. Ich bin Eure Dienerin.«
Der Abend sank, als die zweiräderige Halbkutsche Maître Gabriel Bernes in La Rochelle einfuhr. Über den durchbrochenen Kirchtürmen und halb geschleiften Wällen, Erinnerungen an die stolzen, von Richelieu niedergerissenen Befestigungen, entfaltete sich der Himmel in einem intensiven, tiefen, vom Licht des Tages noch gesättigten Blau.
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