Die Hand schon auf dem Hals des Maultiers, zögerte sie noch einen Moment. War es nicht möglich, ein letztes Mal vom Vater Abbé und ihrem Bruder Abschied zu nehmen?

Der Pförtner schüttelte den Kopf. Die Heilige Woche stand unmittelbar bevor. Das Kloster hatte sich schon gegen die Außenwelt verschlossen.

Wirklich lastete ein noch drückenderes Schweigen als gewöhnlich über der Abtei, Die geweihten Männer sammelten sich für die Wallfahrt der Tage vor Ostern. Die Frau mußte sich entfernen.

Etwas anderes noch riß sich aus dem Herzen Angéliques und blutete schmerzlich. Aber waren nicht auch dieses Leid und die Tatsache, daß sie es empfinden konnte, ein Zeichen ihrer Genesung?

Sie schwang sich auf das Tier, drückte Honorine an sich und ritt unter der Torwölbung hindurch.

Während sie den zum Walde führenden Pfad einschlug, vernahm sie das schwere Knarren des Portals, das sich hinter ihr schloß, und gleich darauf schlug eine Glocke drei helle Töne an.

Wie viele Türen hatten sich schon hinter ihr geschlossen, immer von neuem Auswege versperrend wie Treiber dem gejagten Wild! Jedesmal hatten sich die Möglichkeiten, ihrem Schicksal zu entrinnen, um ein weniges vermindert, und bald würde ihr nur noch ein einziger Weg übrigbleiben: der ihre. Welcher war es? Noch wußte sie es nicht. Sie konnte ihn nur ahnen, und sie begann zu begreifen, daß Katastrophen und unübersteigliche Hindernisse sie immer wieder von ihren eigenen Launen abgebracht und hart einem einzigen, noch unsichtbaren Ziel zugeführt hatten, das das ihre war.

Noch einmal, ein letztes Mal, durchquerte sie den Wald. Bei hellem Tage wagte sie es nicht, sich den Gefahren der Straße auszusetzen. Durch den Wald und die Sümpfe würde sie zur Abtei von Maillezais gelangen.

Als sie die Schlucht der Wölfe erreichte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ihre Strahlen fielen in das Tal, und Angélique hielt an, als sei ihr ein unglaubliches Wunder begegnet.

Drei Wochen zuvor hatte sie sich gerade hier, von schneidender Kälte gepeinigt, durch den Schnee geschleppt, hatte sie in ihrem Fleisch die ganze Grausamkeit des harten Winters erlitten. Heute schien das Tal wie mit grünem Samt ausgeschlagen, der Bach, dessen Eis sie damals überquert hatte, hüpfte sprudelnd wie ein junges Zicklein, Veilchen schmückten den Saum des Waldes. Der Kuckuck stieß seinen leichtfertigen Ruf aus. Er kündigte laue Lüfte und das Aufblühen der Blumen an, er vollendete den Frühling.

Angéliques Blick feuchtete sich vor diesen Wundern. Auch Natur und Leben warteten also mit huldreichen Überraschungen auf. Aus einem langen und strengen Winter sproß mit verdoppelter Kraft der Reichtum der Blätter, Gräser und Blüten; aus einem widerwärtigen Verbrechen, aus namenlosem Entsetzen war diese Blüte der Anmut gewachsen, rundlich, weiß, von Flammen gekrönt, die sie in ihren Armen hielt: Honorine.

Die schwarzen Raben zogen nicht mehr ihre unheimlichen Runden über der Lichtung der Feen. Niemand wäre auf den Gedanken verfallen, daß der Tod je an diesem Ort umgegangen war.

Der Abbé de Lesdiguière, der Abbé von Nieul. Zwei Erzengel waren nötig gewesen, um sie aus dem Abgrund zu ziehen, in den sie gestürzt war. Diese beiden reinen Gestalten löschten die böse Erinnerung an den Mönch Becher.

Sie dachte, daß es richtig und notwendig für sie sei, bis zu diesem Tag gelebt zu haben .

Am folgenden Tag gelangte sie nach Maillezais, der prächtigen, auf einer Insel inmitten toten Gewässers erbauten, von Weiden umstandenen Abtei. Des Nachts glaubte man noch das Anschlagen der Wellen zu hören, die im zwölften Jahrhundert ihre Fundamente umspült hatten. Ihre Mauern hüteten das schläfrige, bukolische Dasein der Mönche, die ihre Tage damit verbrachten, Frösche und Aale zu fangen, mehr Zeit auf ihre Mittagsruhe als auf das Brevier verwandten und die Tradition Rabelais’ bewahrten, der hier seinen »Gargantua« geschrieben hatte.