Mit den fahrigen Bewegungen einer aus der Fassung geratenen alten Mutter hob die Zauberin sie auf, bettete sie auf ein Lager von Farnkräutern und streichelte ihr feuchtes Haar mit ihren gekrümmten, verknöcherten Fingern.

Sie flößte ihr ein beruhigendes Getränk ein und legte Pflaster auf, die sie erleichterten. Das Kind kam schnell zur Welt. Angélique stützte sich auf, um mit Schrecken dieses durch ein Verbrechen geborene Wesen zu betrachten. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, daß es verunstaltet, verkrüppelt sein würde. Ein Kind, das unter solchen Umständen empfangen worden war, konnte nicht gesund sein. Infolgedessen stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus:

»Oh, Melusine, sieh doch . Es ist ein Monstrum . Es hat kein Geschlecht .«

Die Zauberin warf ihr durch ihre weißen Strähnen einen spöttischen Blick zu.

»Ach, was! Es ist ein Mädchen .«

Angélique ließ sich zurückfallen und wurde von einem nicht zu bezähmenden krampfhaften Gelächter geschüttelt.

»Wie dumm ich bin! Ich hatte nicht daran gedacht. O nein ... ein Mädchen! Ich wäre nie darauf gekommen. Ich bin es nicht gewöhnt, verstehst du? . Nicht gewöhnt! ... Ich hab’ nur Jungen in die Welt gesetzt ... Ja, drei Jungen ... drei Söhne ... Jetzt hab’ ich keinen mehr. Keinen einzigen! ... Eine Tochter! ... Es ist zu komisch!«

Ihr Lachen ging in ein wildes Schluchzen über, das wie ein Gewitterregen über sie hereinbrach.

Tränenüberströmt sank sie alsbald in tiefen Schlaf. Ihr gelöstes, lichtes Haar umgab sie mit dem Glanz der Unschuld.

Als sie erwachte, hielt der im Schlaf empfundene Frieden an. Ein völlig körperlicher Frieden, der jedoch auch ihre gemarterte Seele betäubte.

Auf einen Ellbogen gestützt, ließ sie ihren Blick zum Eingang der Höhle hinübergleiten und sah unvermutet etwas Bezauberndes: vor der Laubwand hob sich eine grasende Hirschkuh ab, der ein Junges folgte. Die Umgebung der Höhle schien ihr vertraut zu sein, denn sie hob nicht unruhig den Kopf, wie es Tiere tun, die die Nachbarschaft der Menschen spü-ren.

Angélique beobachtete sie eine Weile mit angehaltenem Atem, und als die graziösen Tiere sich entfernt hatten, streckte sie sich von neuem mit einem Seufzer aus. Sie fühlte sich bei Melusine geborgen. Sie begriff, warum ein durch allzu viele Schläge verletztes Frauenherz seinen einzigen Trost in der Einsamkeit der Wälder fand und sich darum endgültig in ihren Frieden flüchtete. So wurde man zur Hexe der Wälder.

Gegen Abend weckte sie ein anderes Geräusch, und sie fuhr hoch, von neuem geängstigt: ein dünner, halb erstickter Schrei, der nicht von einem Tier herrühren konnte.

»Sie hat Durst«, sagte die Zauberin und humpelte in den Hintergrund der Höhle, um etwas zu holen. Sie tauchte mit einem unförmigen, in einen Fetzen roten Chiffons gehüllten Bündel wieder auf, aus dem das Plärren drang.

Angélique sah der Zauberin mit ungläubiger Bestürzung entgegen.

»Es lebt? Aber es hat doch bei seiner Geburt keinen Ton von sich gegeben!«

»Schon richtig. Jetzt schreit sie dafür um so mehr. Sie hat Durst ...«

Und Melusine hielt das Kind an die Brust der jungen Wöchnerin.

Angéliques ganzes Wesen verweigerte sich dieser Bewegung. Ihre Augen blitzten.

»Nein!« rief sie wild. »Nein, niemals ... Sie hat mein Blut, aber sie wird nicht meine Milch bekommen ... Meine Milch ist nicht für sie, nicht für einen Landsknechtsbastard. Nimm sie fort, Melusine! . Schaff sie mir aus den Augen. Gib ihr Wasser, ganz gleich was, damit sie ruhig ist, aber bring sie nicht zu mir ... Morgen werde ich sie in die Stadt mitnehmen.«

In der Nacht begann Angélique zu sprechen. Sie war noch nicht ganz eingeschlafen. Sie sprach aus einer Art Traum heraus. Sie erzählte, was sie in jener Nacht in Plessis gesehen hatte, in der sie von den Dragonern am Boden festgehalten worden war, in der die roten Teufel ihren jüngsten Sohn umgebracht hatten. Was sie gesehen hatte, als sie, ihr totes Kind ans Herz drückend, durch das zerstörte Schloß gegangen war: Visionen, die sich für immer ihrer Netzhaut eingeprägt hatten und die sie nicht vergessen konnte.

»Ja, ja, ich erinnere mich«, murmelte die dicht neben dem Feuer zusammengekauerte Hexe. »Als ich dir in der Lichtung begegnete, damals im Herbst, sah ich das Todeszeichen über dem blonden Kind .«

Am folgenden Tag erhob sie sich. Sie hatte es eilig, die letzte Etappe zu ihrer Befreiung zurückzulegen. Das unaufhörliche Geplärr des Kindes machte sie rasend.

Sie schlüpfte in ihre Schuhe, bändigte das Haar unter dem schwarzen Satintuch und warf den Mantel über ihre Schultern.

»Gib sie mir«, sagte sie mit fester Stimme.

Melusine reichte ihr das Neugeborene, das sich heiser schrie. Angélique nahm es und ging entschlossen zum Ausgang der Höhle.

Melusine begleitete sie.

»Hör zu, meine Tochter, Hör auf meinen Rat.«

Sie legte ihre braune, klauenartige Hand auf Angéliques Arm und hielt sie zurück.

»Hör mich an, Tochter . Du darfst sie nicht töten.«

»Nein«, antwortete Angélique mühsam beherrscht, »sei unbesorgt. Sie wird nicht sterben.«

»Weil sie gezeichnet ist. Schau.«

Durch ihre Beharrlichkeit zwang sie Angélique, den Blick zu senken und auf der winzigen Schulter ein braunes Mal in Form eines Sterns zu entdecken.

»Kinder, die ein solches Mal tragen, werden von den Gottheiten der Gestirne beschützt .«

Angélique schob sie mit zusammengepreßten Lippen beiseite. Melusine hielt sie noch einmal auf.

»Ich kann dir sogar den Namen dieses seltenen Zeichens sagen . es ist das Zeichen Neptuns.«

»Neptuns?«

»Der Gott des Meeres!« sagte die Hexe, während in ihre Augen ein seltsames Leuchten trat.

Die junge Frau zuckte gleichgültig mit den Schultern und machte sich los.

Trotz ihrer Schwäche gelangte sie ohne Mühe zum Gipfel des Hügels, sosehr beflügelte sie ihr Verlangen, ein Ende zu machen. Sie überquerte die Lichtung des Steins der Feen und schlug den Pfad ein, der zum Kreuzweg der Totenlaterne führte, wegen des weißen, geschnitzten Vogels auf ihrer Spitze die Taubenlaterne genannt. Die Straße nach Fontenay-le-Comte lief dort nicht weit entfernt vorüber.

Nachdem sie zwei Stunden gegangen war, mußte Angélique in der Hütte des Holzschuhmachers eine Ruhepause einlegen. Vor Erschöpfung brach ihr der Schweiß aus und befeuchtete ihre Schläfen. Der Holzschuhmacher würde sie womöglich erkennen, aber das hatte nichts zu bedeuten, da er taubstumm war und dort das ganze Jahr hindurch mit seinem gleichfalls taubstummen zehnjährigen Sohn hauste.

Angélique bat um eine Schale Milch und ein Stück Brot.

Sie tränkte ein paar Krumen mit Milch und schob sie zwischen die Lippen des Kindes, das sofort aufhörte zu schreien. Sie selbst brachte nur mit Mühe ein paar Schluck Milch hinunter.

Nachdem sie sich ausgeruht hatte, brach sie wieder auf und sah bald die Straße vor sich.

Ein Karren näherte sich, und sie bat den Kutscher, sie mitzunehmen. Er fuhr zwar nicht bis Fontenay-le-Comte, versprach aber, sie ein Meile vor der Stadt abzusetzen.

Gegen Ende der Fahrt begann das Kind von neuem zu weinen.

»Gib ihm zu trinken«, sagte der Bauer gereizt.

»Ich habe keine Milch«, antwortete sie trocken.

Er setzte sie am vereinbarten Ort ab und wies mit seiner Peitsche auf die fernen Wälle und Kirchtürme der Stadt.

Fontenay-le-Comte befand sich in den Händen der Aufständischen. Aber Angélique sorgte sich nicht, daß man in der Bäuerin, die zur Stadt gekommen war, um dort ihr Kind zu lassen, die Rebellin des Poitou erkennen könnte, deren Entscheidungen von den Großbürgern Fontenays mit dem Respekt aufgenommen worden waren, den sie allenfalls Gesetzen entgegenbrachten, als sie während der Weihnachtstage unter ihnen geweilt hatte. Sie würde auf jeden Fall den Einbruch der Nacht abwarten, bevor sie die Stadt betrat.

Der runde Kopf des Neugeborenen in ihrer Armbeuge wog schwer wie Blei. Sie kam kaum voran. Ihre Nerven waren am Ende. Es verlangte sie danach, das unaufhörliche Geplärr zu unterbrechen, dieses Leben zu beenden, das sie quälte. Zu vernichten, auszutilgen, was gewesen war.

Entsetzt über ihre Gedanken, blieb sie stehen.

»Ich müßte beten«, sagte sie sich.

Doch sie vermochte nicht zu beten. Gott war fern, und sie fragte sich zuweilen mit Schrecken, ob sie ihn nicht zu vergessen begann.

Sie nahm ihren Marsch zur Stadt wieder auf, über die die Dämmerung bläuliche Schatten warf.

Unter den Wällen zögerte sie lange und strich wie ein Tier des Waldes umher, das die Nähe menschlicher Behausungen scheut.

Als sie bemerkte, daß die Wächter sich anschickten, die Tore zu schließen, überwand sie sich und betrat durch das Korntor die Stadt. In den engen Straßen gingen die Einwohner noch ihren Beschäftigungen nach. Man fand Vergnügen daran, die aromatische Luft dieses schönen, zum Ausgleich für so viele Opfer früh gekommenen Frühlings zu atmen. Die Leute hatten es sichtlich nicht eilig, ihre engen, dumpfen Wohnungen aufzusuchen, und riefen sich von der Schwelle ihrer Häuser aus Scherzworte zu.

Angélique wußte, daß sich das Amt für hilfsbedürftige Kinder an der Place du Pilori nahe dem Rathaus befand. Die Zahl der verlassenen Kinder war so groß, daß die Klöster zu ihrer Aufnahme nicht mehr genügten und daß man schon zu Zeiten Monsieur Vincents öffentliche Institutionen für sie geschaffen hatte. Die Krippe von Fontenay war ein ehemaliger, nun für seine neue Aufgabe umgebauter Getreidespeicher aus dem Mittelalter. Seine Fachwerkfassade war mit zahlreichen hölzernen Figuren geschmückt.

Angélique wagte sich nicht zu nähern, aus Besorgnis, die Blicke der Gevatterinnen durch das Geplärr des Kindes auf sich zu ziehen. Sie irrte durch die benachbarten Gassen, um auf das tiefere Dunkel und die Verlassenheit der Nacht zu warten.