»Ein Käuzchen«, dachte Angélique. »Es jagt auf Beute ...« Wieder ließ der Vogel seinen samtenen Schrei vernehmen, zart und fern, gedämpft durch den vom Mondlicht durchwirkten Nebel.

Angélique stützte sich auf einem Ellbogen hoch. Vor sich, nahe der Stelle, wo sie auf dem Boden ausgestreckt lag, sah sie einen Ausschnitt des schwarzweiß gemusterten Marmor-Estrichs leuchten, in dem sich die Umrisse von Möbeln spiegelten.

Im Hintergrund des Raums fiel sanftes, milchiges Licht durch das offene Fenster und trug, sich ausbreitend und die Dunkelheit durchdringend, den ganzen Zauber einer Frühlingsnacht ins Zimmer. Angezogen von diesem Schein, gelang es der jungen Frau, sich aufzurichten und mit unsicheren, taumelnden Schritten das Fenster zu erreichen. Eingesponnen vom silbrigen Licht und angesichts des voll ausgerundeten Mondes, der eben aufgegangen war, überfiel sie von neuem ein Schwächeanfall, so daß sie sich auf die Fensterbank stützen mußte. Vor ihr, unter dem nächtlichen Himmel, erhob sich der Schattenwall reglos aneinandergedrängter Bäume mit dichten Kronen, deren von königlichem Blätterprunk umhüllte Äste wie Kandelaber ragten, mächtige Stämme, den dunklen Tempel tragende Säulen, die von dem durch eine Lichtung einfallenden Schimmer des Mondes aus der Nacht gehoben wurden.

»Du ...!« flüsterte sie.

Von einer nahen Eiche erhob sich von neuem der Ruf des Käuzchens, nun klar, durchdringend, und schien den Gruß der Landschaft Nieuls bis zu ihr zu tragen.

»Du«, wiederholte sie, »du! Mein Wald! Mein wilder Forst!«

Ein sanfter Wind, kaum spürbar und von unvergleichlicher Zärtlichkeit, strich in langsamen Zügen seines Atems vorbei, die sich zuweilen nur durch den intensiver werdenden Duft blühenden Weißdorns verrieten. Angélique sog die Luft ein. Ihre ausgedörrten Lungen fanden wie in einem Rausch die heilsame Feuchtigkeit wieder, die strömend zu ihr aufstieg, genetzt durch die Frische all der Quellen und den Weihrauch der steigenden Säfte.

Ihre Schwäche verließ sie, sie konnte den Halt der Fensterbank entbehren und um sich blicken. Über dem Alkoven tummelte sich in einem Rahmen aus vergoldetem Holz ein junger Gott des Olymps unter den Göttinnen. Sie war in Plessis. Es war dasselbe Zimmer, in dem sie einstmals - es war sehr lange her, sie war damals sechzehn Jahre alt gewesen, ein ungezügeltes, neugieriges Mädchen - das Liebesspiel des Fürsten Condé und der Herzogin von Beaufort beobachtet hatte.

Auf demselben Fußboden aus schwarzen und weißen Marmorfliesen, indem sich die schönen Möbel spiegelten, hatte sie wie heute gelegen, vor Schmerz gepeinigt, erschöpft und besiegt, während sich in den Korridoren des Schlosses die taumelnden Schritte des schönen Philippe, ihres zweiten Gatten, entfernten, der so grausam seine Hochzeitsnacht gefeiert hatte.

Dorthin hatte sie sich mit dem Kummer und den Widrigkeiten ihrer zweiten Witwenschaft geflüchtet, bevor sie von neuem der faszinierenden Verlockung des Hofes von Versailles gefolgt war.

Angélique kehrte zu ihrem Lager zurück, streckte sich aus, die Härte des Bodens genußvoll spürend. Mit jenem tierhaften Zusammenrollen, das ihr in der Einöde zur zweiten Natur geworden war, wik-kelte sie sich in ihre Decke wie in einem Burnus. Tiefe Zufriedenheit verdrängte die Angst, die sie im Halbbewußtsein ihres Krankheitszustandes unablässig verfolgt hatte.

»Bei mir«, dachte sie erleichtert. »Ich bin zu mir zurückgekommen ... nun ist alles möglich.«

Als sie erwachte, stand die Sonne am Himmel, und die jammernde Stimme ihrer Dienerin Barbe drang mit den gewohnten Klageliedern an ihr Ohr:

»Da, sehen Sie nur, die arme Dame ... Es ist immer dasselbe! Auf der bloßen Erde wie ein Hund! Ich kann sie abends noch so fest einwickeln, sie findet, kaum daß ich ihr den Rücken wende, immer noch genug Kraft, um sich mit ihrer Decke wie ein krankes Tier auf den Boden zu legen. >Wenn du wüßtest, wie gut es sich auf der Erde schläft, Barbe<, sagt sie zu mir, >wenn du wüßtest, wie gut es tut.< Was für ein Jammer! Sie, die so ihre Bequemlichkeit liebte, die niemals genug Federbetten über sich haben konnte, weil sie immer so fröstelig war. Kaum zu glauben, was diese Leute in der Berberei in weniger als einem Jahr aus ihr gemacht haben! Ihr müßt es dem König sagen, Messieurs! ... Oh, meine schöne, gepflegte Herrin! Ihr habt sie vor noch nicht gar so langer Zeit in Versailles gesehen, und man möchte heulen, wenn man sie heute betrachtet. Ich würde nicht glauben, daß sie es ist, wenn es nicht genauso wie früher immer nach ihrem Kopf gehen müßte, trotz allem, was man ihr sagt. Solche Wilden wie die verdienen gar nicht zu leben. Der König müßte sie bestrafen, Messieurs!«

Drei Paar Halbschuhe und ein Paar Stiefel hatten sich am Rande von Angéliques Lager aufgereiht. Sie wußte, daß die Halbschuhe mit roten Hacken und Schnallen aus vergoldetem Silber Monsieur de Breteuil gehörten, aber die andern waren ihr unbekannt.

Sie hob die Augen. Die Beine in den Stiefeln trugen eine dickbäuchige, in eine blaue Offizierskasacke gezwängte Erscheinung mit hochrotem, schnurrbärtigem Gesicht und rotem Haar.

Die Kastorschuhe mit silbernen Schnallen, schmucklos, wie es die Regel vorschrieb, in denen schwarze Beine mit mageren Waden steckten, wären auch dann ein untrügliches Zeichen der Anwesenheit eines zum Hof gehörenden Muckers gewesen, hätte Angélique in ihrem Eigentümer nicht sofort den Marquis de Solignac erkannt.

Die vierte Person, gleichfalls durch rote Hacken und zudem noch durch diamantbesetzte Schnallen ausgezeichnet, trug über einem breiten, ein wenig altmodischen Spitzenkragen das scharfgeschnittene, trockene Gesicht eines hohen Militärs, dessen Strenge noch durch einen gestutzten grauen Zwickelbart betont wurde. Diese letztere Person war es, die nach einer Verbeugung vor der zu seinen Füßen ausgestreckten jungen Frau das Wort ergriff.

»Ich habe die Ehre, mich vorzustellen, Madame. Ich bin der Marquis de Marillac, Gouverneur des Poitou und von Seiner Majestät beauftragt, Euch ihre Entschließungen zu übermitteln.«

»Könnt Ihr nicht ein wenig lauter sprechen, Monsieur«, sagte Angélique, ihre Schwäche unterstreichend. »Eure Worte gelangen kaum zu mir.«

Monsieur de Marillac blieb nichts anderes übrig als niederzuknien, um sich verständlich zu machen, und seine Begleiter mußten wohl oder übel seinem Beispiel folgen.

Angélique genoß hinter halbgeschlossenen Lidern das Vergnügen, die vier grotesken Gestalten kniend um sich versammelt zu sehen, und ihre Befriedigung wuchs noch, als sie feststellte, daß das Gesicht de Breteuils noch die roten, geschwollenen Spuren trug, die ihre Nägel hinterlassen hatten.

Währenddessen entfaltete der Gouverneur ein Pergament, nachdem er dessen Wachssiegel aufgebrochen hatte, und kratzte sich den Hals.

»An Madame du Plessis-Bellière, Unsere Untertanin, die, schuldig einer schweren Widersetzlichkeit gegen Uns, Unseren Zorn hervorgerufen hat. Wir, König von Frankreich, sind es Uns schuldig, diese Zeilen zu schreiben, um ihr Unsere Gefühle anzuzeigen, die sie vorgeben könnte nicht zu kennen, und sie zum Ausdruck ihrer Unterwerfung zu führen.

Madame,

Unser Schmerz ist groß gewesen, als Ihr vor einigen Monaten durch Undankbarkeit und Ungehorsam auf die Wohltaten geantwortet habt, mit denen Euch sowie die Euren zu überschütten es Uns gefiel. Trotz ausdrücklichen Befehls habt Ihr Paris verlassen, obwohl dieser Befehl durch den Wunsch diktiert war, Euch, deren impulsive Natur Wir kennen, vor Euch selbst und den unüberlegten Handlungen zu bewahren, die zu begehen Ihr hättet versucht sein können. Ihr habt sie begangen, habt Euch in Gefahren und Enttäuschungen gestürzt, vor denen Wir Euch schützen wollten, und seid deshalb unbarmherzig gestraft worden. Der verzweifelte Hilferuf, den Ihr Uns durch den Superiordes Redemptionistenordens, den R. P de Valombreuze, nach seiner Rückkehr aus Marokko habt zukommen lassen, hat Uns in Kenntnis der traurigen Lage gesetzt, in die Euch Eure Irrtümer gebracht hatten. Als Gefangene der Berber habt Ihr das Ausmaß Eurer Verirrungen ermessen können und Euch mit der üblichen Leichtfertigkeit Eures Geschlechts an den Souverän gewandt, den Ihr zuvor verhöhnt hattet, um seine Hilfe zu erflehen.

Mit Rücksicht auf den großen Namen, den Ihr tragt, und auf die Freundschaft, die Uns dem Marschall du Plessis verband, schließlich aus Mitleid mit Euch selbst, die Wir noch immer zu Unseren geliebten Untertanen zählen, haben Wir, um Euch nicht die ganze Schwere der Züchtigung tragen zu lassen, indem Wir Euch jenen grausamen Barbaren überließen, auf Euren Ruf geantwortet.

Ihr befindet Euch nun gesund und wohlbehalten auf dem Boden Frankreichs. Wir sind darüber erfreut.

Indessen scheint es Uns gerecht, daß Ihr Uns um Vergebung bittet. Wir hätten Euch eine Zeitspanne notwendigen Insichgehens in der Zurückgezogenheit eines Klosters auferlegen können. Der Gedanke an die Leiden, denen Ihr unterworfen wart, hat Uns diese Möglichkeit jedoch verwerfen lassen. Wir haben es vorgezogen, Euch im Bewußtsein, daß die heimatliche Umgebung die Besinnung zu fördern vermag, auf Euer Besitztum zu schicken. Ihr befindet Euch dort nicht in der Verbannung. Ihr braucht dort nur bis zu dem Tage zu bleiben, an dem Ihr aus eigenem Entschluß den Weg nach Versailles wählt, um Euch zu unterwerfen. In Erwartung dieses Tages, den Wir nahe wünschen, wird ein von Monsieur de Marillac, Gouverneur der Provinz, ausgewählter Offizier mit Eurer Überwachung beauftragt .«

Monsieur de Marillac unterbrach sich, hob die Augen und wies auf den dicken Militär: »Madame, ich stelle Euch den Kapitän Montadour vor, dem ich die Ehre Eurer Bewachung anvertraut habe.«

Der Kapitän war eben in dem Versuch begriffen, unauffällig von einem Knie aufs andere zu wechseln, um die schmerzlichen Unzuträglichkeiten einer Stellung zu mildern, an die seine umfängliche Person nicht gewöhnt war. Fast wäre er gefallen, raffte sich jedoch im letzten Augenblick hoch und versicherte mit Stentorstimme, daß er der Marquise du Plessis zu Diensten sei.