Ihr Sohn würde seine blauen Augen und seine Kraft besitzen. Ein kleiner, göttlicher Herkules, vom Strahlenglanz der Sonne des Mittelmeers wie von einer Aureole umgeben!
Er würde schön sein wie das erste auf Erden geborene Kind.
Sie sah ihn vor sich. Für ihn, durch ihn würde sie zu ihrer Kraft zurückfinden und kämpfen, um ihm die Freiheit zu gewinnen.
Lange lag sie so, ganz ihrer ein wenig närrischen Träumerei hingegeben, und sprach zuweilen halblaut vor sich hin.
»Du bist vergebens vor mir geflohen, Colin«, sagte sie. »Du hast mich vergebens verschmäht und zurückgestoßen. Du wirst trotzdem ein wenig bei mir bleiben, Colin, mein Kamerad, mein Freund ...«
Einige Tage später verließ eine Karosse mit vergitterten Türen und mit von schwarzen Vorhängen verhängten Fenstern Marseille und schlug die Straße nach Avignon ein. Eine stattliche Eskorte von zehn Musketieren begleitete sie.
Monsieur de Breteuil, der drinnen neben Angélique saß, drängte zur Eile.
Man hatte ihm soviel von der unglaublichen Geschicklichkeit und Bosheit Madame du Plessis-Bellières erzählt, daß er unaufhörlich darauf gefaßt war, sie sich jäh in ein Nichts auflösen zu sehen, und ihn plagte nur ein Gedanke: sich möglichst schnell seines Auftrags zu entledigen. Daß die junge Frau ihre Erschöpfung überwunden zu haben schien, beunruhigte ihn. Daß sie sich aufrecht hielt und sich zuweilen unverschämt gegen ihn benahm, ließ ihn das Schlimmste fürchten. Erwartete sie etwa Hilfe von ihren Komplizen?
Es war nicht zuviel gesagt, daß er sich während der Übernachtungen quer vor ihrer Tür ausstreckte und nur mit einem Auge schlief.
Vor der Durchquerung jedes Waldes, in dem man Gefahr lief, von zur Befreiung der Gefangenen entschlossenen Banden angegriffen zu werden, schlug er sich mit dem Gouverneur der nächstgelegenen Stadt wegen Gestellung zusätzlicher Begleitmannschaften herum. Die Kavalkade glich immer mehr einer militärischen Expedition. Müßiggänger drängten sich in den Städten um die Karosse, um herauszufinden, wer soviel Aufwand benötigte.
Monsieur de Breteuil tobte und bezahlte Gendarmen, die die Menge mit Hellebardenstößen zerstreuen mußten, was die Neugier und die Ansammlungen nur noch vermehrte.
Da er nicht mehr schlief und ständig von Unruhe gepeinigt wurde, sah Monsieur de Breteuil nur noch einen Ausweg aus seinen Qualen: Eile. Kaum, daß man nachts die Fahrt für einige Stunden in einer Herberge unterbrach, deren Gäste man ausquartierte und deren Wirtsleute man nicht aus den Augen ließ. Tagsüber wurden die abgetriebenen Pferde unaufhörlich durch neue ersetzt, die ein vorausgeschickter Kurier bestellte, um Wartezeiten auf den Poststationen zu vermeiden.
Von den Stößen des Wagens auf den holprigen Straßen durchgeschüttelt und erschöpft von der unsinnigen, unaufhörlichen Hast, protestierte Angélique:
»Wollt Ihr mich töten, Monsieur? Ich brauche ein paar Stunden Ruhe. Ich kann nicht mehr.«
»Plötzlich so zart, Madame?« spottete Monsieur de Breteuil. »Habt Ihr im Königreich Marokko nicht schlimmere Anstrengungen überstanden?«
Sie wagte ihm nicht zu sagen, daß sie schwanger war.
An die Bank oder den Türgriff geklammert, halb erstickt vom Staub, wünschte sie sich nichts anderes als endlich am Ziel dieser teuflischen Reise anzulangen.
Am Abend eines besonders aufreibenden Tages -sie nahmen eben in vollem Galopp eine Kurve auf der Kuppe eines Hügels - schien der Wagen plötzlich nur noch auf zwei Rädern zu rollen, dann schwankte er und stürzte um. Dem Kutscher, der den Unfall hatte kommen sehen, war eben noch Zeit geblieben, sein Gespann zu zügeln. Der Schock war weniger heftig als befürchtet, aber Angélique, die der Aufprall von ihrem Sitz geschleudert und zwischen Wagenwand und der losgerissenen Bank eingekeilt hatte, begriff sofort, was ihr geschehen war.
Man zog sie rasch aus der Karosse und bettete sie ins Gras zu Seiten der Straße.
Monsieur de Breteuil beugte sich mit bleichem Gesicht über sie. Wenn Madame du Plessis starb, war ihm der Zorn des Königs gewiß. In einer jähen Ahnung wurde ihm klar, daß es um seinen Kopf ging, und er glaubte schon die Schneide der Axt des Henkers kalt in seinem Nacken zu spüren.
»Es ist Euch doch nichts geschehen, Madame?« flehte er. »Der Sturz war nicht der Rede wert!«
Mit völlig veränderter, verzweifelter, verstörter Stimme schrie sie ihm zu:
»Ihr seid schuld! Ihr und Euer sinnloses Jagen! Ihr habt mir alles genommen! Ich habe alles verloren durch Eure Schuld, Elender!«
Ihre Hände schnellten vor, und ihre Fingernägel zerrissen seine Wangen.
Auf einer improvisierten Bahre wurde sie von den Soldaten ins nächste Dorf geschafft. Die bestürzten Männer sahen die Blutflecken auf ihrem Kleid und hielten sie für ernstlich verletzt. Doch der Chirurg, den man zu Rate zog, erklärte nach der Untersuchung, daß der Fall ihn nicht betreffe und daß man eine Hebamme holen solle.
Angélique lag im Hause des Bürgermeisters. Sie fühlte ihre Lebenskräfte mit jenem anderen Leben schwinden.
Ein Geruch nach Kohlsuppe durchzog die Räume des großen, bürgerlichen Hauses und steigerte ihre Übelkeit und ihren Ekel. Das rote, schwitzende, von einer bäuerlichen Haube umrahmte Gesicht der Hebamme neigte sich von Zeit zu Zeit über sie und ließ sie die Augen schließen. Die ganze Nacht kämpfte die gute Frau hartnäckig, um dieses seltsame, seiner Körperlichkeit fast schon entflohene Wesen mit dem von honigfarbenem Haar umflossenen, wunderlich gebeizten Gesicht zu retten. Der Sonnenbrand hob sich in bräunlichen Flecken von dem wachsigen Teint ab, die Augen verloren ihren Glanz, und in den Mundwinkeln sammelte sich malvenfarbener Schleim. Die Hebamme erkannte die Zeichen des Todes.
»Nicht, meine Kleine«, flüsterte sie, über die halb bewußtlose Angélique gebeugt, »Ihr dürft nicht ...«
Angélique verfolgte die Bewegungen der Schatten um ihr Lager wie etwas, das sie nicht mehr betraf.
Sie fühlte, daß jemand sie anhob, daß frische Laken unter sie gebreitet wurden, und das Kupferoval der Wärmeflasche vollführte einen lauwarmen, besänftigenden Tanz.
Sie fühlte sich besser, die Kälte, die ihre Glieder hatte erstarren lassen, wich von ihr. Man rieb sie ab und gab ihr warmen, gewürzten Wein zu trinken.
»Trinkt, meine Kleine. Ihr müßt wieder Blut in die Adern kriegen. Ihr habt schon zuviel verloren.«
Sie begann den herben Geruch des Weins wahrzunehmen, den Duft von Zimt und Ingwer ...
Oh, der Duft der Gewürze ... der Duft glücklicher Reisen! ... Mit diesen Worten war der alte Savary gestorben.
Angélique öffnete die Augen. Vor ihr ein großes Fenster zwischen schweren Vorhängen. Vor den Scheiben dichter, rauchfarbener Nebel. »Wann wird es Tag werden?« murmelte sie.
Die derbe, rotwangige Frau an ihrem Bett betrachtete sie befriedigt. »Er ist schon da«, meinte sie jovial. »Das da draußen ist nur der Nebel vom Fluß. Heute ist es frisch. Die richtige Zeit, um in den Federn zu bleiben und nicht mit der Postkutsche herumzukutschieren. Besser hattet Ihr’s gar nicht abpassen können.«
Sie schwieg, dann fügte sie vertraulich hinzu:
»Jetzt, wo Ihr aus dem Gröbsten raus seid, kann man ja sagen, daß es ein wahres Glück gewesen ist. Ihr habt es wenigstens hinter Euch.« Der wilde Blick, der ihr antwortete, überraschte sie:
»Was denn? Für eine große Dame in Eurer Lage ist ein Kind immer unwillkommen. Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt genug, die zu mir kommen, um sich ihrs wegbringen zu lassen. Ihr braucht Euch keine Sorgen mehr zu machen. Und es war nicht einmal so schlimm, obwohl Ihr mir ganz schön Angst gemacht habt.«
Verwirrt durch das Schweigen ihrer Patientin fuhr sie fort:
»Glaubt mir, meine Kleine, man darf nichts bedauern. Kinder machen alles nur schwierig. Wenn man sie nicht liebt, weiß man nicht, was man mit ihnen anfangen soll. Wenn man sie liebt, machen sie einen schwach.«
Sie schloß mit einem Schulterzucken:
»Und wenn’s Euch wirklich so bekümmert, wird Euch, schön wie Ihr seid, die Gelegenheit nicht fehlen, ein anderes zu bekommen.«
Angélique preßte die Zähne zusammen, bis sie ihr wehtaten.
Das Kind Colin Paturels würde nicht zur Welt kommen.
Sie fühlte sich nun wirklich um alles gebracht.
Alles! Ein heftiges Gefühl, dem Haß verwandt, stieg in ihr auf und rettete sie vor der Verzweiflung. Es war wie ein reißender Strom, der noch nicht sein Ziel gewählt hatte, der aber das Verlangen nach Kampf in ihr löste. Ein rasendes Verlangen zu überleben, um sich zu rächen, zu rächen für alles.
Denn trotz allem, was sie erduldet hatte, war sie hellsichtig genug, um die Größe der Gefahr zu begreifen, die ihre Freiheit bedrohte. Bald würde sie, wie eine Verbrecherin von bewaffneten Soldaten bewacht, ihre vom Herrn des Königreichs befohlene Reise fortsetzen müssen. Welcher endgültigen Strafe, welchem Kerker würde sie entgegenfahren?
Ein zitternder Ruf stieg in die Nacht, schwebte in der Stille und erlosch wie erschöpft.
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