»Madame«, sagte er in gebrochenem Französisch, »der Chef hat uns befohlen, uns bei Tagesanbruch aus der Stadt zu verkrümeln. Wir müssen uns beeilen.«
Angélique wäre angesichts dieser Familie, die friedlich um ihren reich besetzten Tisch saß und es sich schmecken ließ, als ob der Himmel nicht jeden Augenblick über ihr einstürzen könne, am liebsten aus der Haut gefahren. Manigault zurückzulassen, bedeutete, auf einen erfahrenen Kaufmann zu ver-zichten, mit dessen Reichtum es kein anderer der kleinen Gemeinschaft aufnehmen konnte. Sie hatte dem Rescator versprochen, daß man ihn belohnen würde. Und vor allem war da dieses schöne, blonde Kind, der kleine Jérémie, der soviel Ähnlichkeit mit Charles-Henri aufwies.
»Um so schlimmer für Euch und Euren Sohn«, sagte sie. »Ich bedaure nur, mein Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, weil ich Euch benachrichtigen wollte. Wenn ich nicht bis hierher hätte laufen müssen, wäre ich jetzt zweifellos schon in Saint-Maurice. Jede Minute, die verstreicht, verringert unsere Chancen. Ihr hattet Euch schon entschlossen fortzugehen, nun wollt Ihr nicht. Ihr wartet auf das Wunder, das Euch erlauben würde, alles zu behalten; Eure Stellung, Euer Geld, Euren Glauben, Eure Stadt. Ihr, die Ihr die Schriften lest, hättet Euch erinnern müssen, daß den in Ägypten gefangenen Juden befohlen war, das Passahlamm stehend, mit gegürteten Lenden, den Stecken in der Hand, zum Aufbruch bereit, zu essen, auf daß sie fliehen konnten, sobald das Zeichen gegeben war ... bevor der Pharao sich eines andern besann.«
Der Reeder Manigault starrte sie an. Sein Gesicht rötete sich und verlor gleich darauf alle Farbe.
»Bevor der Pharao sich eines andern besann«, murmelte er. »Ich hatte in dieser Nacht einen Traum. Alle Bedrohungen, die uns umringen, nahmen Gestalt an. Ich wußte, daß eine riesige Schlange mich und die Meinen ersticken würde. Sie kroch immer näher, und ihr Kopf... ihr Kopf war der .«
Er unterbrach sich, stand mit noch immer starrem Blick auf, und nachdem er sich bedächtig den Mund mit seiner Serviette gewischt hatte, legte er sie neben die halb mit Kakao gefüllte Tasse.
»Komm, Jérémie«, sagte er und nahm die Hand seines Sohns.
»Wohin geht Ihr?« rief Madame Manigault.
»Zum Schiff.«
»Ihr werdet doch nicht den albernen Geschichten dieses Mädchens glauben!«
»Ich glaube an sie, weil ich weiß, daß sie wahr sind. Schon seit mehreren Tagen habe ich den Verdacht, daß wir verraten worden sind.« Er wandte sich an den alten Neger. »Hole mir Mantel und Hut, desgleichen für Jérémie.«
»Nehmt Gold mit«, flüsterte ihm Angélique zu. »Alles, was Ihr in Euren Taschen forttragen könnt.«
Madame Manigault erging sich in Klagen:
»Er verliert wahrhaftig den Kopf! Was soll aus uns werden, meine Töchter?«
Die jungen Mädchen sahen ratlos von ihrem Vater zu ihrer Mutter.
Der Offizier, Schwiegersohn des Reeders, erhob sich gleichfalls.
»Komm, Jenny«, sagte er, seine junge Frau bei den Schultern nehmend. Er betrachtete sie mit ernster Zärtlichkeit.
»Wir müssen fort.«
»Wie denn? Jetzt?« stammelte sie bestürzt.
Schon die Aussicht auf die Fahrt mit der Sainte-Marie hatte sie in Schrecken versetzt, denn sie erwartete ein Kind.
»Du hattest doch schon ein wenig Gepäck für den Aufbruch vorbereitet. Nimm es. Der Augenblick ist gekommen.«
»Ich habe auch einen Reisesack«, sagte Manigault. »Er ist ziemlich umfangreich, aber Siriki wird ihn tragen.«
»Siriki darf uns nicht folgen«, riet Angélique mit leiser Stimme. »Allzu viele in der Stadt wissen, daß er Euer Neger ist. Man wird Euch sofort bemerken. Ihr werdet überwacht.«
»Siriki zurücklassen?« protestierte der Reeder. »Das ist ganz unmöglich. Wer wird sich um ihn kümmern?«
»Euer Teilhaber, Sieur Thomas, der nach Eurer Abreise Eure Geschäfte wahrnehmen und sich mit Euch in Verbindung setzen soll, sobald Ihr auf den Inseln angelangt seid.«
»Mein Teilhaber? ... Gerade er ist es, der uns verraten hat. Jetzt bin ich dessen sicher. Zweifellos träumt er davon, sich alles anzueignen.«
Er fügte düster hinzu:
»Der Kopf der Schlange, die ich in meinem Traume sah, war der seine.«
Im Vestibül streifte sein bitterer Blick die festgefügten und verzierten Deckenwölbungen. Verglaste Türen öffneten sich auf die Alleen eines großen Gartens, andere auf den Hof mit der unvermeidli-chen Palme.
Manigault ergriff Jérémies Hand und überquerte den Hof. Einer der Matrosen folgte ihm mit seinem Reisesack.
»Wohin geht Ihr?« kreischte Madame Manigault. »Ich bin noch längst nicht fertig. Ich muß noch einige Schüsseln der Sammlung einpacken, die kostbarsten .«
»Packt ein, was Ihr wollt, Sarah, und stoßt zu uns, wann Ihr könnt, aber beeilt Euch wenigstens diesmal«, antwortete der Reeder mit der weisen Miene eines Philosophen.
Das junge Ehepaar folgte ihm. Eine seiner Töchter lief hinter ihm her und erreichte ihn, als er eben die Straße betreten wollte.
»Vater, ich will mit Euch gehen.«
»Komm, Deborah!«
Neben Jérémie war sie sein Liebling.
Er hatte die Kraft, die Schwelle zu überschreiten und in die Straße einzubiegen, ohne den Kopf zu wenden.
In der Nähe des Saint-Nicolas-Tor beschloß die aus dem Reeder, seinem Sohn und seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und dessen Frau sowie aus Angélique und den drei Matrosen bestehende Gruppe, sich zu trennen. Joseph Garret, der Offizier, passierte als erster mit Jenny und Jérémie, ihm folgte Manigault, von den drei Seeleuten umgeben. Auf die Fragen, die ihnen gestellt wurden, antwortete einer der Matrosen des Piratenschiffs in englischer Sprache. Es traf sich, daß der Posten kein Sterbenswörtchen davon verstand, aber wußte, daß ein englisches Schiff seit dem vorhergehenden Tage im Hafen lag. Mit einer Geste, die bedeuten sollte, daß er sehr wohl begriffen habe, gab er den sich offenbar auf einem Spaziergang befindlichen Ausländern den Weg frei. Zwei Schöne aus der Gegend - Angélique und Deborah - schienen sie zu begleiten. Sobald ihnen die Genehmigung erteilt worden war, durchschritten sie sichtbar frohgemut das Tor, ohne sich die Mühe zu machen, Namen und bürgerliche Stellung zu nennen, und die Soldaten wagten es nicht, sie zurückzurufen.
Die Gruppe entfernte sich, von nachsichtigen Blicken gefolgt.
»Das Schwerste haben wir hinter uns«, raunte Angélique Manigault zu, »Man hat Euch nicht erkannt.«
Sie reihten sich einer hinter den andern, um schneller voranzukommen. Der Wind blies lebhaft. Blendend weiße, an den Rändern fedrig zerfaserte Wolken segelten rasch über ihnen dahin. Die dunkel wirkende Reede schien sich vom zornigen Aufruhr der Nacht noch nicht erholt zu haben.
»Und unsere Mutter?« fragte Deborah. »Meine Schwestern?«
»Sie werden uns folgen oder auch nicht .«
Der Blick ging weit über die Ebene, schon tauchten die Hütten von Saint-Maurice auf.
»Da seid Ihr endlich!« riefen ihnen die Flüchtlinge entgegen.
Sie traten aus den Häusern, an deren Herdfeuern sie gewartet hatten.
Maître Berne hatte es nicht leicht gehabt, sie zur Geduld zu mahnen und ihr Vertrauen zu erhalten.
Man hatte ihnen von einem Schiff erzählt. Wo war es? Jeder wurde sich bewußt, daß er irgend etwas Wichtiges vergessen hatte.
»Raphaëls Schal!«
»Meine Börse. Sie enthielt noch fünf Livres!«
Dank Gabriel Bernes Eingreifen war die Ruhe dennoch einigermaßen bewahrt worden. Man hatte den Kindern frische Milch zu trinken gegeben, dann hatte der Pastor Beaucaire Gebete angestimmt, und die rauhen Bewohner von Saint-Maurice hatten sich zu ihnen gesellt, da sie trotz des Namens ihres Dorfes allesamt Hugenotten waren.
Außer Madame Manigault und ihren beiden ältesten Töchtern fehlte niemand mehr.
»Gehen wir trotzdem«, entschied einer der Matrosen der Gouldsboro, der französisch mit seltsamen Akzent sprach und auf den Namen Nicolas Perrot hörte. »Die Flut wird bald zu steigen beginnen. Fangen wir immerhin schon an, die Passagiere einzuschiffen. Einer meiner Kameraden wird hierbleiben, um die Verspäteten zu erwarten und zum Ankerplatz zu führen.«
Man rief die Kinder zusammen, die, ganz und gar wach und entzückt von der unvorhergesehenen Landpartie, allerlei Spiele veranstaltet hatten.
Nach Familien geordnet, schlugen sie den von dem französisch sprechenden Matrosen bezeichneten Weg ein, als ein aus der Heide herüberdringender Ruf sie von neuem am Boden festwurzelte.
Eine Art orangene, von Gebüsch zu Gebüsch hüpfende Flamme näherte sich in unglaublicher Geschwindigkeit. Schließlich erkannten sie den alten Neger Siriki, der, wie eine Antilope fliehend, in seiner goldbetreßten Livree aus amarantfarbenem Satin auf sie zukam.
»Mein Herr! Wo ist mein Herr?«
»Ah, mein Sohn!« rief Manigault, den alten Sklaven ans Herz drückend.
Siriki hatte seine hochhackigen Schuhe abgestreift, um sich rascher fortbewegen zu können. Er drehte seinen von schneeiger Leinwand umwundenen Kopf nach allen Seiten und schüttelte seine Goldringe. »Du wirst nicht gehen ohne mich, Herr! Ohne dich ich sterben.«
»Was haben die Wachen gesagt, als sie dich passieren ließen?« fragte Angélique.
»Wachen? . Nichts sagen. Ich nur lief, immer nur lief!«
Und seine weißen Zähne zeigend, brach er in schallendes Gelächter aus.
»Schnell! Beeilen wir uns«, befahl Angélique, indem sie ihre Begleiter auf dem Pfad voranstieß.
Sie hatte Honorine an die Hand genommen. Die vordersten Gruppen hatten schon die Heide betreten. Bis zu den ersten Dünen nahe dem Meer war die Landschaft flach und ohne Deckung. Die Ebene schien unendlich, nackt. La Rochelle mit seinen Türmen und Wallen war noch ganz klar zu erkennen. Angélique fühlte ihre Unruhe wachsen. Der seinem Herrn gefolgte Sklave Siriki mußte Verdacht erregt haben.
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