Im dichten Nebel erreichten sie den Fuß der Wälle und bald darauf die kleine Ausfallpforte. Angélique legte Honorine in Abigaëls Arme.

»Ich kann Euch nicht weiter begleiten. Ich muß die anderen noch benachrichtigen. Seht zu, daß Ihr nach Saint-Maurice gelangt. Wenn alle dort versammelt sein werden, brechen wir zu dem Ort auf, an dem wir uns einschiffen müssen. Die Fischer des Weilers dürfen von Euren Absichten nichts erfahren. Erzählt ihnen, daß Ihr gekommen seid, um einen Glaubensgenossen in der Heide zu begraben.«

»Kennst du den Weg, Martial?« fragte Maître Gabriel seinen Sohn. »Führe die Frauen bis zum Weiler. Ich muß bei Dame Angélique bleiben.«

»Nein«, protestierte diese.

»Glaubt Ihr, daß ich Euch mit diesen verdächtigen Ausländern allein lassen werde?«

Angélique gelang es, ihn davon zu überzeugen, daß er seine Familie begleiten müsse. Sie fürchtete nichts, sie fühlte sich vor Zudringlichkeiten sicher, sie wolle vor allem sobald als möglich außerhalb der Mauern wieder zu ihnen stoßen. Dies sei nur die erste Etappe.

»Ein Mann wie Ihr wird vonnöten sein, um die Familien zu beruhigen, die ich zum Dorf schicken werde. Sie werden ihre Häuser verlassen müssen, ohne viel Zeit zum Überlegen zu haben. Aber es kann sein, daß sie in Panik geraten, sobald sie den Treffpunkt erreicht haben.«

Als die kleine Schar, die aus den Bernes, den beiden Pastoren, Abigaël und Honorine bestand, endlich verschwunden war, übernahm Angélique umsichtig und entschlossen die Aufgabe des Schäferhundes, der seine Herde zusammentreibt.

Weder die Mercelots, die die Nachricht mit Ruhe aufnahmen, noch ihre Tochter Bertille bestanden auf weiteren Erklärungen. Angélique sagte ihnen, daß sie sofort aufbrechen müßten, wenn sie nicht abends im Gefängnis schlafen wollten. Rasch kleideten sie sich an. Maître Mercelot nahm ein Buch unter den Arm, an dem er seit langen Jahren arbeitete. Es war auf feinstem Papier geschrieben, das das Wappen des Königs als Wasserzeichen trug, und betitelte sich »Annalen der den Bewohnern La Rochelles in den Jahren des Heils von 1663 bis 1676 auferlegten Verfolgungen und Opfer«.

Es war sein Lebenswerk.

Bertille erkundigte sich, was mit ihrem Gut geschehen solle, das man bereits auf die Sainte-Marie gebracht habe.

»Wir werden uns später damit befassen.«

Die Familie Mercelot schlug den Weg zu den Wällen ein, während sich Angélique aufmachte, um den Uhrmacher zu wecken.

Ein wenig später läutete sie bei den Carrères. Dieser mit elf Kindern gesegnete Advokat ohne Prozesse repräsentierte das, was der Rescator als nutzlosestes Zubehör seiner Ladung bezeichnet hatte. Doch gerade er war es, der die meisten Einwendungen erhob. Fortgehen? Jetzt? Aber warum? Weil man sie verhaften würde? Woher wußte sie das? Man habe es ihr gesagt? Wer habe es gesagt? Könne sie mit Beweisen aufwarten? ... Angélique lehnte jede Diskussion ab, ging von Zimmer zu Zimmer und weckte die Familie. Zum Glück boten die von ihrer Mutter bewundernswert erzogenen Kinder keinerlei Schwierigkeiten. Die größeren halfen den jüngeren beim Ankleiden, diese ordneten ihre kleine persönliche Habe. In wenigen Minuten waren alle bereit, die Zimmer aufgeräumt, die Betten gemacht. Maître Carrère war in Hemd und Nachtmütze noch dabei, Beweise für seine bevorstehende Verhaftung zu fordern, als ihn seine Nachkommenschaft bereits von Kopf bis Fuß reisefertig im Vestibül erwartete.

»Wir wollen fortgehen, Vater«, sagte der Älteste, ein Junge von sechzehn Jahren. »Wir wollen nicht ins Gefängnis. Die Söhne des Uhrmachers sind weggeschleppt worden und nie zurückgekehrt.«

»Komm nur, Matthieu«, drängte seine Frau. »Da wir uns nun einmal entschlossen haben, La Rochelle zu verlassen, ist es einerlei, ob heute oder später.«

Sie legte ihren Letztgeborenen in Angéliques Arme, um ihrem Gatten die Kniehosen reichen zu können. Nachdem sie ihm gut zugeredet und ihn wie ein Kind angekleidet hatte, machte sie kurzen Prozeß und schob ihn hinaus.

»Meine Tabaksdose«, ächzte er.

»Hier ist sie.«

Der Nebel begann durchsichtig zu werden. Der steigende Tag durchdrang ihn mit seinem Licht. Schon begann man das Erwachen der Stadt zu spüren.

Angélique und die ihr auf Schritt und Tritt folgenden Matrosen geleiteten die Familie des Advokaten zur Ausfallpforte.

Während sie einen nach dem anderen auf dem Küstenpfad im Nebel verschwinden sah, empfand Angélique unsagbare Erleichterung.

Noch drei oder vier Familien waren zu benachrichtigen, dazu die Manigaults, die in einem entfernteren Viertel wohnten.

Ein Glockenspiel perlte durch die Dämmerung, und fast gleichzeitig erhoben durch den Nebel erstickte rhythmische Glockentöne den Ruf des Angelus. Das Erwachen der Stadt wurde spürbarer. Handwerker schlugen die Läden vor ihren Buden zurück.

Mit der Familie des Bäckers der Walltreppe zustrebend, blieb Angélique plötzlich stehen und horchte.

Vom Wallgang herunter drang das Geräusch eiliger Schritte. Männerstimmen riefen sich etwas zu. Dann beugte sich etwas Scharlachrotes oben über den Rand der Bastion. Der Nebel war noch zu dicht, als daß der Soldat die Flüchtlinge unten in der Gasse hätte bemerken können. Sie zogen sich lautlos zurück und beratschlagten im Schütze der Wölbung eines benachbarten Haustors.

»Die Ablösung ist eingetroffen, und sie haben das Verschwinden des Wächters entdeckt«, sagte Angélique. »Wahrscheinlich haben sie ihn im Verdacht, durch die Pforte entwischt zu sein. Aber in jedem Fall werden sie sie verriegeln oder einen Posten davor stellen.«

Die Sicht wurde mit jedem Augenblick klarer und ließ bereits die stattliche Zahl der oben versammelten Uniformen erkennen.

»Die Rotröcke, die Dragoner«, murmelte der Bäk-ker. »Warum solche Machtentfaltung?«

»Vielleicht wegen der Ankunft der holländischen Flotte.«

Die Frau des Bäckers begann zu weinen.

»Da haben wir unser Pech! Wenn du dich ein bißchen mehr beeilt hättest, Antoine, hätten wir noch passieren können. Wie sollen wir jetzt aus der Stadt kommen?«

»Natürlich durch eins der Stadttore«, beruhigte sie Angélique. »Man wird eben dabei sein, sie zu öffnen.«

Sie setzte ihnen auseinander, daß sie nicht mehr Aufmerksamkeit erregen würden als andere Handwerker oder Kaufleute, die sich in den ersten Tagesstunden nach La Pallice oder zur Ile de Ré begaben.

»Die Stadt befindet sich nicht im Belagerungszustand, und die Polizei läßt uns noch einen Tag Ruhe. Ihr werdet mit euren Brotkörben durchgehen, als ob ihr irgendwo etwas zu liefern hattet. Wenn man euch fragt, nennt ihr eure Namen.«

Sie brachte es zuwege, ihnen erneut ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, und sie entfernten sich zwischen den ersten Passanten. Meister Romain hatte sich mit einem tüchtigen Vorrat seines letzten Ofenschubs ausgerüstet. Man würde auf diese Weise wenigstens etwas zu beißen haben, bis man die erste Ration Schiffszwieback erhalten würde.

In den Augen derer, die ihn vorbeigehen sahen, war er an diesem Morgen nicht mehr und nicht weniger als ein Bäcker aus La Rochelle unter seinen Mitbürgern, und dennoch fühlte er sich schon als Exilierter, während er und die Seinen schweren Herzens und noch betäubt von der Überstürzung des Aufbruchs dem Saint-Nicolas-Tor zuschritten.

Angélique fand die Manigaults bei Tisch in ihrem prächtigen ausgestatteten Speisezimmer und Siriki damit beschäftigt, ihnen heißen, duftenden Kakao einzuschenken.

Sie war zumindest ebenso außer Atem wie an dem Tage, an dem sie zum erstenmal zu ihnen gekommen war, um Monsieur de Bardagne zu holen.

Denn die Sonne stand bereits hoch. Nach dem nächtlichen Sturm kündigte sich ein strahlender Tag an. Der Nebel hatte sich fast völlig aufgelöst. Die Stadt summte vor Leben. Die Nacht entzog ihnen ihren Beistand. Sie mußten den Gefahren nun bei Tageslicht trotzen.

So kurz zusammengefaßt wie möglich, teilte ihnen Angélique die letzten Ereignisse mit. Ihr Fluchtplan war entdeckt, ihre Arretierung stand unmittelbar bevor, ein einziger Ausweg blieb: sich sofort auf ein Schiff zu begeben, das bereit war, sie an Bord zu nehmen, und in der Umgebung La Rochelles ankerte. Die Schwierigkeit war, aus der Stadt herauszukommen, ohne Verdacht zu erregen. Die Manigaults waren sehr bekannt, und man hatte zweifellos ihretwegen schon gewisse Befehle erteilt. Es war unbedingt erforderlich, getrennt und unter falschem Namen die Tore zu passieren. Einmal außerhalb der Stadt, würde man sich im Weiler Saint-Maurice treffen ...

Maître Manigault, seine Frau, seine vier Töchter, sein kleines Söhnchen und sein Schwiegersohn schienen wie zu Stein erstarrt, in der gleichen Bewegung, in der sie bei ihrem Frühstück unterbrochen worden waren.

»Sie ist verrückt, dieses Mädchen!« zeterte Madame Manigault. »Wie? So, wie wir sind, sollen wir nach Amerika reisen? Und alles stehen und liegen lassen?«

»Wie nennt sich das in Frage stehende Schiff?« erkundigte sich der Reeder streng.

»Die ... Gouldsboro.«

»Kenn’ ich nicht. Gehören diese Männer, die Euch begleiten, zu ihrer Mannschaft?«

»Ja, Monsieur.«

»Nach ihren Visagen zu schließen, scheint es ein wenig empfehlenswertes, wenn nicht gar verdächtiges Schiff zu sein.«

»So ist es, aber sein Kapitän ist bereit, andere Verdächtige, uns nämlich, an Bord zu nehmen. Um so schlimmer für Euch, wenn Ihr diesen da die Galgenvogelgesichter der Büttel Baumiers vorzieht, die Euch heute abend verhaften und ins Gefängnis werfen werden.«

»Aus dem Gefängnis kommt man auch wieder heraus. Ich habe Beziehungen.«

»Nein, Monsieur Manigault, diesmal werdet Ihr nicht wieder herauskommen.«

Einer der Matrosen, die sie begleiteten, berührte sie am Arm.