»Wahrhaftig, die Narrheiten der Frauen sind mannigfaltig, aber ich muß gestehen, daß Ihr bei weitem das übliche Maß überschreitet. Rekapitulieren wir: als ich Euch das letztemal begegnete, seid Ihr mir davongelaufen, nicht ohne mir als Erinnerung meine in Flammen stehende Schebecke und fünfunddrei-ßigtausend Piaster Schulden zurückzulassen; vier Jahre später findet Ihr es ganz natürlich, zu mir zu kommen, ohne irgendwelche Bestrafung zu fürchten, um mich zu bitten, Euch und vierzig Eurer Freunde an Bord zu nehmen und ihnen zur Flucht zu verhelfen. Gebt zu, daß Eure Forderung jedes Verständnis

übersteigt!«

Er stieß die auf einem niedrigen Tischchen neben dem Diwan stehende Sanduhr an und drehte sie um. Dank einem schweren Bronzefuß, der es auf seinem Platz hielt, schien das Instrument durch die Bewegungen des Schiffes nicht beeinflußt zu werden. Der Sand begann zu rieseln, ein winziger, schneller Sturzbach, der Angéliques Augen in seinen Bann schlug. Die Stunden verrannen, die Nacht verstrich ...

»Schließen wir ab«, sagte der Rescator. »Ich bin weder an Eurer Transportgeschichte noch an Euch selbst interessiert. Da Ihr aber die Unvorsichtigkeit begangen habt, Euch in die Hände eines Herrn zu geben, der es sich hundertmal geschworen hat, Euch für die Unannehmlichkeiten, die Ihr ihm verursacht habt, teuer bezahlen zu lassen, werde ich Euch trotzdem an Bord behalten . In Amerika stehen die Frauen weniger hoch im Kurs als im Mittelmeer, aber es wird mir durch Euren Verkauf vielleicht gelingen, einiges von dem Schaden wiedergutzumachen.«

Trotz der Wärme im Raum fühlte sich Angélique von einer eisigen Kälte bis ins Herz durchdrungen. Ihre durchnäßten Kleidungsstücke klebten an ihrem Körper, aber im Eifer des Gesprächs hatte sie bisher nicht darauf geachtet.

Jetzt zitterte sie vor Kälte.

»Euer Zynismus beeindruckt mich nicht«, sagte sie mit heiser werdender Stimme. »Ich weiß, daß .«

Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie und ließ sie nicht weitersprechen. Das vollendete das Bild ihrer Vernichtung ... Zu ihrem jämmerlichen Äußeren fügte sich der Anblick einer kränklichen Frau, die nach Atem rang.

In diesem Moment fand er angesichts ihrer Niederlage zu einer Geste, die sie nicht erwartet hatte. Er trat zu ihr, legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben.

»Das kommt davon, wenn man in einer Sturmnacht an der Küste hinter einem Piraten herläuft«, murmelte er.

Die Maske näherte sich ihrem Gesicht. Es war ein erstaunlicher Kontrast: das harte, kalte Leder und das Funkeln brennender Augen, die ihre Willenskräfte lähmten.

»Was haltet Ihr von einer Tasse guten Kaffees, Madame?«

Angélique begann sich unversehens besser zu fühlen.

»Kaffee? Echten türkischen Kaffee?«

»Ja, türkischen Kaffee, wie man ihn in Kandia trinkt ... Aber entledigt Euch zuvor dieses mit Wasser vollgesogenen Umhangs. Ihr habt meine Teppiche unter Wasser gesetzt.«

Um sich herum sah sie den samtweichen orientalischen Bodenbelag, auf dem man zwischen Blüten wie auf Moos zu gehen glaubte, in einem erbärmlichen Zustand.

Der Rescator nahm ihr den Umhang ab und warf ihn in eine Ecke, als wäre es ein Bündel Lumpen. Von der Lehne eines Sessels nahm er seinen eigenen Mantel.

»Einen schuldet Ihr mir bereits, den Ihr ohne Gewissensbisse in der Nacht des Brandes mitgenommen habt. Ah, niemals sah man den Rescator mehr der Lächerlichkeit preisgegeben .«

Und es war wie in jener Nacht im Orient: zwei warme Hände auf ihren Schultern und um sie die schützenden Falten des duftenden samtenen Mantels ... Sie noch immer an sich drückend, führte er sie zum Diwan. Als sie sich gesetzt hatte, begab er sich in den Hintergrund des Salons, und sie vernahm von draußen den Ton einer Glocke. Der Sturm beruhigte sich offenbar, denn die Bewegungen des Schiffs wurden weniger heftig.

Der Sand des schönen Instruments zum Messen der Zeit fuhr fort zu rieseln, schimmernd im orangenen Licht der venezianischen Laternen.

Angélique entfloh der Wirklichkeit. Sie befand sich in der Höhle des Zauberers .

Auf das Glockenzeichen hin war ein Mann eingetreten, ein barfüßiger Maure in kurzem Burnus über roten Matrosenhosen. Mit den geschmeidigen Bewegungen seiner Rasse kniete er nieder und schob einen niedrigen Tisch zum Diwan, auf den er ein silberverziertes Kästchen aus Korduanleder stellte. Klappte man die beiden Seitenwände herunter, verwandelten sie sich in Präsentierplatten, auf denen alle zur Bereitung und zum Kosten des Kaffees notwendigen Utensilien in schönster Ordnung befestigt waren:

Der silberne Samowar, das Tablett aus massivem Gold mit zwei Tassen aus chinesischem Porzellan, ein mit geeistem Wasser gefülltes chinesisches Kännchen und eine Schale mit Kandiszucker.

Der Maure verschwand und kehrte gleich darauf mit einem Kessel kochenden Wassers zurück. Mit großer Sorgfalt und ohne einen Tropfen zu verschütten, bereitete er das orientalische Getränk, dessen Duft Angélique durchdrang und ein fast kindliches Vergnügen in ihr weckte. Ihre Wangen erhielten plötzlich ihre Farbe wieder, als sie ihre Hand nach dem silbernen Becher ausstreckte, in dem die chinesische Tasse ruhte. Neben ihr sitzend, beobachtete sie der Rescator mit rätselhaftem Blick, während sie nach muselmanischem Ritus mit zwei Fingern die winzige Tasse ergriff, einen Tropfen Eiswasser hineinfallen ließ, um das Sinken des Satzes zu beschleunigen, und sie schließlich an die Lippen führte.

»Man sieht, daß Ihr Gast im Harem Moulay Ismaëls gewesen seid«, sagte er. »Welche Meisterschaft! Man könnte Euch für eine Muselmanin halten. Trotz Eurer augenblicklichen Lage habt Ihr Euch ein paar gute Sitten bewahrt, an denen man Euch wiedererkennt.«

Der Maure hatte sich zurückgezogen.

Angélique stellte die Tasse in ihre Hülle zurück, die sie davor bewahrte umzustürzen, und der Rescator beugte sich vor, um sie von neuem zu bedienen. Dabei bemerkte er Blutspuren am Rand des silbernen Bechers.

»Woher dieses Blut? Seid Ihr verletzt?«

Angélique sah auf ihre zerschundenen Handflächen.

»Ich spürte nichts. Es ist vor kurzem auf den Klippenfelsen geschehen ... Bah! Auf den Pfaden des Rifs war es schlimmer.«

»Eure Flucht? ... Wißt Ihr, daß Ihr die einzige christliche Sklavin seid, der ein solcher Streich geglückt ist? Ich glaubte lange, daß Eure Knochen auf irgendwelchen Fährten der Wüste bleichten.«

Vor Angéliques weitgeöffneten Augen wurde die grausame Odyssee von neuem lebendig.

»Ist es wahr ... daß Ihr nach Miquenez gekommen seid, um mich zu holen?« fragte sie.

»Es stimmt. Übrigens war es nicht schwer, Euch zu folgen. Ihr hattet ein Gemetzel hinter Euch gelassen.«

Die Lider der jungen Frau schlossen sich. Ihre Züge spiegelten Entsetzen wider.

Der Maskierte murmelte mit zweideutigem Lächeln:

»Dort, wo die Französin mit den grünen Augen vorüberzieht, bleiben nur Schutt und Leichen zurück.«

»Ist das ein neues Sprichwort im Mittelmeer?«

»Ja, etwas dergleichen.«

Bedrückt sah Angélique auf das Blut an ihren Händen .

Er stellte eine weitere Frage:

»Ihr seid zu zehnt aus Miquenez geflüchtet. Wie viele davon haben Ceuta erreicht?«

»Zwei.«

»Wer war der andere?«

»Colin Paturel, der König der Gefangenen.«

Wieder begann Angst in ihr aufzusteigen. Eine ungreifbare, nicht zu bestimmende Gefahr ...

Um sie zu bannen, bemühte sie sich, von neuem dem Blick des Maskierten zu begegnen.

»Wir haben viele gemeinsame Erinnerungen«, sagte sie leise.

Er lachte auf seine jähe, heisere Art, die sie erschreckte.

»Viel zu viele. Mehr als Ihr meint.«

Plötzlich reichte er ihr sein Taschentuch.

»Wischt Eure Hände ab.«

Sie gehorchte mechanisch. Der bisher betäubte Schmerz begann spürbar zu werden. Das Salz brannte in den Wunden.

»Ich wollte über den Strand gehen, um mich nicht zu verirren«, erklärte Angélique.

Sie erzählte, daß sie auch diesmal angesichts der steigenden Flut geglaubt habe, ihre letzte Stunde sei gekommen. Sie fragte sich, durch welches Wunder es ihr gelungen sei, an den steil abfallenden Klippen emporzuklettern.

»Der Tod schien mich schon in seinen Krallen zu haben ... Aber schließlich habe ich Euch doch wiedergefunden.«

In Angéliques Stimme schwang bei diesem letzten Satz ein Ton träumerischer Weichheit. Übrigens sprach sie ihn aus, ohne sich seiner Bedeutung bewußt zu sein. ». habe ich Euch doch wiedergefunden.«

In dem geheimnisvollen Licht sah sie nur sein schwarzes, unbewegliches Gesicht. Dort endeten alle ihre Träume.

Einen Augenblick lang schien es Angélique, daß sie sich an die breite Brust des Mannes werfen, daß sie ihr Gesicht in den Falten seines samtenen Rockes verbergen müsse.

Dieser Samt war nicht schwarz, wie sie geglaubt hatte, sondern dunkelgrün wie das Moos der Bäume. Sie betrachtete ihn und dachte: Wie gut täte es, sich in ihm zu bergen!

Der Rescator streckte die Hand aus. Er berührte ihre Wange, ihr Kinn; unerklärlicherweise waren ihm, dessen durchdringenden Augen nichts verborgen blieb, die sanften Bewegungen des Blinden eigen, der ihm unsichtbare Züge zu erkennen sucht.

Dann löste er mit einem Finger langsam das armselige, kleine Halstuch, das noch immer um Angéliques Haar geknüpft war, und warf es beiseite. Das angeklatschte, durch das Meerwasser dunkler getönte Haar fiel auf die Schultern der jungen Frau herab. Die weißen Strähnen zogen lichte Streifen hindurch. Angélique hätte sie gern vor ihm verborgen.

»Warum war Euch so sehr daran gelegen, mich wiederzufinden?« fragte der Rescator.

»Weil Ihr der einzige seid, der uns retten kann.«