Die Enthüllung der Identität der Marquise du Plessis-Bellière, der Rebellin des Poitou, ihre Verhaftung im Namen des Königs, das Gefängnis, der Richterspruch, Honorine ins Nichts geschleudert, für sie verloren wie Florimond, die Flucht nach den Inseln vereitelt .

Ihr gelähmtes Hirn war nicht in der Lage, über den Schock dieser Begegnung hinauszudenken. Sie erkannte ihn wieder. Sie war sogar auf unbestimmte Weise zufrieden, ihn wiederzusehen. Desgray! Es lag so weit zurück . und nun war er ihr so nah!

Er verbeugte sich, als ob er sie gestern verlassen hätte.

»Ich grüße Euch, Madame. Wie geht es Euch?«

Seine Stimme ließ sie erzittern. Sie trug das ferne Echo ihrer Streitgespräche in sich, der Augenblicke des Hasses und der Furcht, die sie seinetwegen erfahren, der Momente heißen, brutalen Liebesgenusses, die er ihr auferlegt hatte.

Sie folgte ihm mit den Augen, während er den Raum durchquerte und sich vor dem Schreibtisch Baumiers niederließ. Er trug keine Perücke, was das vertraute Bild früherer Zeiten hervorhob und ihm trotz der im Laufe der Jahre immer stärker betonten Härte seiner Züge das Gesicht des armen, unbekümmerten Studenten zurückgab, den sie in jenen Tagen gekannt hatte, als er noch nicht der Polizei beigetreten war. Im Gegensatz dazu waren ihr seine gewählte Kleidung und seine sicheren Bewegungen, war ihr die Art, in der er sich als Mann zeigte, der es gewöhnt war, schwere Verantwortungen zu tragen, fremd.

Seine Züge waren wie in Stein gemeißelt. In den Augenwinkeln würden sich die tief eingegrabenen Zeichen der Ironie nicht mehr verwischen, und die Kerben zu beiden Seiten seines Mundes verliehen ihm einen halb weichen, halb bitteren Zug. Doch er widmete ihr alsbald den liebenswürdigen Glanz seines alten Lächelns.

»Nun, meine liebe Marquise der Engel, es stand also im Buche des Schicksals geschrieben, daß wir uns trotz der Hast, mit der Ihr mich bei unserer letzten Begegnung floht, wiedersehen würden. Wann war das noch? . Es muß ziemlich lange her sein ... vier ... nein, fünf Jahre! ... Schon! Wie die Zeit vergeht. Für manche ist sie überaus fruchtbar in puncto Ereignissen, für Euch, zum Beispiel. Euch nicht ruhig halten zu können, ist ein Teil Eures besonderen Genies. Für mich? ... Oh, was wollt Ihr, das Leben ist gewiß erheblich friedlicher, wenn Ihr nicht plötzlich in ihm erscheint. Ich erledige die laufenden Angelegenheiten, alles, was mir so vor die Finger kommt. Kürzlich verhaftete ich eine Eurer Nachbarinnen . die Marquise de Brinvilliers. Ich weiß nicht, ob Ihr Euch erinnert. Sie wohnte ein paar Straßen von Eurem Hôtel du Beautreillis entfernt. Sie hat ihre ganze Familie vergiftet, zuzüglich einiger zehn Personen. Seit Jahren bin ich ihr schon auf der Spur, und Ihr habt mir schließlich dabei geholfen, sie zu überführen. Ja doch! Jene unschätzbaren Informationen, die ich gelegentlich eines von Euren guten Freunden aus dem Hof der Wunder verübten Einbruchs zart aus Euch herausquetschte, boten mir den fehlenden Fingerzeig. Erinnert Ihr Euch nicht mehr? . Nun, es ist auch wahrhaftig allzuviel seitdem geschehen. Ah, meine Liebe, man geht zur Zeit in Paris mit Gift verschwenderisch um. Ich stecke bis über die Ohren in Arbeit. Auch in Versailles wird vergiftet. Dort sind die Nachforschungen erheblich delikater . Aber ich sehe, daß Euch solches Geschwätz nicht mehr recht zu fesseln vermag. Sprechen wir also von etwas anderem.

Man hat mich beauftragt, Euch zu finden und in sicheres Gewahrsam zu nehmen. Man bürdet mir immer die unerfreulichsten Pflichten auf. Die Rebellin des Poitou in Gewahrsam nehmen! Wie unbequem!

Überdies ist es nicht meine Spezialität, in einer Provinz wie der Euren herumzustreifen ... Armselige Provinz«, murmelte er, »ausgeblutet, verwüstet, mit Menschen wie Tiere, deren Mund sich verriegelte, sobald man nur Euren Namen aussprach! ... Ich habe meine Nachforschungen aufgegeben und dem Zufall vertrauen müssen ... Dieser Schnüffler Baumier hat diese Rolle gespielt und mir schließlich auf die Sprünge geholfen. Er war nach Paris gekommen, um über irgendwelche Religions-Angelegenheiten zu berichten und gleichzeitig Erkundigungen über eine Frau einzuziehen, die ... über eine Frau, von der ... Was hat mir nur die Idee eingegeben, daß Ihr diese Frau sein könntet? Ich weiß es nicht. Und nachdem ich mich noch mit dem liebenswürdigen Gouverneur La Rochelles, Monsieur de Bardagne, unterhielt, schwanden meine letzten Zweifel. Ich bin also in aller Hast mit der Post hierhergekommen, um Euch wiederzusehen, meine Liebste. Ihr seid es wirklich. Meine Mission ist erfüllt.

Wißt Ihr, daß Ihr Euch verjüngt habt? ... Aber ja, es fiel mir im selben Augenblick auf, in dem ich mich in Eurer Gegenwart fand. Liegt es an dieser einfachen, kleinen Haube, die mir die Magd Meister Bourgeauds ins Gedächtnis zurückruft, aus jenen entlegenen Zeiten, als ich noch von Suresnes aus die Taverne zur Roten Maske aufzusuchen pflegte, um ein Glas Weißwein zu trinken? Später hat mich Euer neues Gesicht, das mit Juwelen überladene Antlitz der Favoritin des Königs, heftig enttäuscht. Glaubt mir, ich begann in ihm bereits die Zeichen zu erkennen, die die Gesichter meiner Giftmörderinnen tragen: Gier, Ehrgeiz, Angst, Rachsucht. Das ist nun vorbei. Ihr habt wieder die aufrichtigen, arglosen Augen, die Euch als junge Frau auszeichneten ... und etwas mehr: die schwere Erfahrung. Was hat Euch nur von all dem reingewaschen? Was hat Euch Eure glatten, reinen Wangen zurückgegeben? Eure dunkel glänzenden, verzehrenden Augen, die um Hilfe rufen?

Als ich eben hier eintrat, sagte ich mir: >Mein Gott, wie jung sie ist!< Eine angenehme Überraschung, ich gebe es zu, nach fünf Jahren der Trennung. War es vielleicht wegen der Tränen auf Euren Wangen? ...

War es diese alte Ratte Baumier, die Euch zum Weinen brachte, meine Liebe? Warum? Was habt Ihr wieder einmal angestellt, daß Ihr zwischen die schmutzigen Finger der Polizei geraten seid? ... Wann werdet Ihr es lernen, klug zu sein? ... Wollt Ihr mir nicht endlich antworten? Eure Augen sind gewiß beredt, wie sie es immer gewesen sind, aber das genügt mir nicht. Ich möchte den Klang Eurer Stimme hören.«

Er beugte sich vor, sehr ernst, unverwandt ihren Blick festhaltend. Sie blieb stumm, unfähig, ein Wort zu formulieren. Aus der Tiefe ihrer Verzweiflung erhob sich ein Ruf:

»Desgray, mein Freund Desgray, zu Hilfe!«

Aber kein Laut drang über ihre Lippen.

Desgray schwieg. Lange betrachtete er sie. Zug um Zug, Einzelheit nach Einzelheit, mußte er wieder Besitz von diesem Gesicht nehmen, von einer menschlichen Gestalt, die allzu oft seine Träume beunruhigt hatte.

Er war auf alles gefaßt gewesen: sie heruntergekommen, gealtert, arrogant, verbittert, haßvoll vorzufinden, aber nicht auf soviel ruhigen, gefaßten Schmerz, auf den stummen, herzzerreißenden Anruf ihrer grünen Augen, die ihm klarer und lichter als früher erschienen.

»Ich wußte dich schön«, dachte er, »aber du bist viel schöner! Durch welches Wunder?«

Ein echter Respekt für diese Frau bemächtigte sich seiner, die ein solches Kunststück zuwege gebracht hatte: sich ihre geistige Integrität zu erhalten trotz schrecklicher Jahre, Krieg, Niederlage, trotz einer Existenz, die nur die eines gejagten, ewig in Gefahr befindlichen Tieres gewesen sein konnte.

Wieder beugte er sich vor und wurde ernst.

»Madame, was kann ich tun, um Euch zu helfen?«

Angélique erbebte heftig, als habe man sie aus einem hypnotischen Schlaf geweckt.

»Mir helfen? Ihr wollt es auf Euch nehmen, mir zu helfen, Desgray?«

»Was habe ich anderes getan als Euch zu helfen, seitdem ich Euch kenne? Ja, selbst als ich Euch in Marseille zu verhaften suchte, geschah es nur, um Euch zu helfen. Was hätte ich nicht darum gegeben, verhindern zu können, daß Ihr Euch in jenes unglückselige Abenteuer einließt, daß Ihr so teuer habt bezahlen müssen!«

»Aber ... habt Ihr nicht Befehl, mich zu verhaften?«

»Sicher ... eher zweimal als einmal. Doch ich werde es nicht tun.«

Er schüttelte den Kopf.

»Weil es diesmal ... schrecklich für Euch würde. Ihr könntet nicht mehr entkommen. Ich wäre gezwungen, Euch mit gebundenen Füßen und Händen auszuliefern, mein Lämmchen. Und ich weiß nicht einmal, in welchem Maße Euer Leben dabei auf dem Spiel steht. Mit Eurer Freiheit wäre es in jedem Falle vorbei. Ihr würdet das Tageslicht nie mehr wiedersehen.«

»Ihr riskiert Eure Karriere, Desgray.«

»Es ist nicht eben geschickt von Euch, mich gerade in dem Augenblick, in dem ich Euch meine Unterstützung anbiete, daran zu erinnern. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß man Euch für den Rest Eures Lebens einsperrt, Euch, die Ihr für die Weite geschaffen seid ... Apropos, ist es wahr, daß Ihr mit dreißig Protestanten zu Schiff fliehen wollt?«

Nachlässig durchblätterte er die Liste der Passagiere der Sainte-Marie. Sie sah die Namen tanzen: Manigault, Berne, Carrère, Mercelot ... Die Vornamen: Martial, Séverine, Laurier, Rebecca, Jérémie, Abigaël, Raphaël ... Sie zögerte eine letzte Sekunde.

Ein Polizist kennt hundert Arten, ein Geständnis hervorzulocken. Hatte die muntere Stimme Desgrays, hatten seine von zärtlichen Untertönen begleiteten spöttelnden Äußerungen etwas anderes zum Ziel gehabt, als ihr Mißtrauen einzuschläfern und sie im Guten zur Preisgabe ihres Geheimnisses zu überreden? Mit einem Wort konnte sie ihre Freunde ausliefern, die, die sie um jeden Preis hatte schützen wollen. Ihre Lippen zitterten. Sie setzte alles aufs Spiel:

»Ja, es ist wahr«, sagte sie.

Desgray ließ sich gegen die Lehne zurücksinken und stieß einen merkwürdigen, kleinen Seufzer aus.

»Gut«, sagte er. »Ihr habt nicht an mir gezweifelt. Wäret Ihr mir anders gekommen, hätte ich Euch vielleicht verhaftet. Es ist seltsam in unserem Metier. Mit dem Alter wird man zugleich härter und sentimentaler, grausamer und zärtlicher. Man verzichtet auf alles, abgesehen von einigen kleinen Dingen, die nicht mit Gold aufzuwiegen sind. Und je mehr Zeit verstreicht, desto kostbarer scheinen sie. Eure Freundschaft gehörte zu ihnen. Ich erlaube mir, meine Liebe, Euch diese im allgemeinen wenig zu meiner Art passenden Konfidenzen zu machen, weil ich weiß, daß ich Euch nie wiedersehen werde, wenn ich Euch diesmal freigebe.«