In Virginia geboren und aufgewachsen, kannte R. J. die Bedeutung von Abstammungen und war bis zu einem gewissen Grad der Meinung, daß die Zeugung von Menschen sich keinesfalls von der Pferdezucht unterschied. Man paare die Besten mit den Besten und hoffe das Beste. Aber Geld spielte eine viel größere Rolle, als die alteingesessenen Familien Virginias wahrhaben wollten.

Eins mußte man den Yankees lassen, sie waren vollkommen aufrichtig in ihrem Streben nach Wohlstand. Und diesen Mangel an Zurückhaltung konnte ihnen natürlich kein Virginier verzeihen.

«O ja, ich wünsche dir Glück, ein reiches, erfülltes Leben. Und Mignon auch. Eine gute Heirat ist ein Schritt in die richtige Richtung.«

«Du hast einen solchen Schritt nicht getan«, hielt Vic ihrer Mutter unverblümt vor.

«Nein. Ich habe aus Liebe geheiratet, und du siehst, wohin mich das geführt hat. «Sie lächelte verhalten.»Und ich liebe deinen Vater immer noch. Er spielt. Oh, er tut's an der Börse, das macht es irgendwie annehmbar, aber ich sehe da keinen Unterschied zu den Jungs draußen in Goswells, die auf Hähne wetten. Hahnenkämpfe versprechen wenigstens mehr Spannung als kleine graue Zahlen.«

«Ich hab etwas Geld auf die Seite gelegt. Ich könnte Mignon was zum Anziehen kaufen.«

«Vic, du bist ein Schatz, aber tu das nicht. Sie muß erst mal den Babyspeck loswerden. Es macht mir nichts aus, wenn ich sie in Großmama Catletts alte Hauskleider stecken muß, bis sie die Pfunde los ist. Das sollte ihr ein Ansporn sein. In der Zwischenzeit verplempere ich die spärlichen Mittel, die ich zur Verfügung habe, für Zigaretten und Rosen. Mein Garten hat noch nie so prächtig ausgesehen wie dieses Jahr.«

Ihr Gespräch wurde von Schritten auf der Treppe unterbrochen.

Vic stand auf und öffnete die Tür, noch bevor der Gast Zeit hatte anzuklopfen.»Komm rein.«

«Verzeihung. Ich wußte nicht, daß du Besuch hast. «Chris trat einen Schritt zurück.

«Meine hochverehrte Mutter. Nur hereinspaziert. Mutter liebt Publikum. Du bist ein neues Ohr für ihre vielen Geschichten.«

Chris trat über die Schwelle. Sie bemerkte, wie kahl Vics Apartment war. Ein Küchentisch, vier Stühle und eine eingebaute Anrichte. Das war alles, was sie sah.

«Mutter, das ist Chris Carter. Chris, meine Mutter, R. J. Savedge, die schönste Frau im Süden von Virginia.«

Chris ging zu R. J. um ihr die Hand zu geben. Wie es sich für ihren Stand schickte, streckte R. J. nur die Hand aus, ohne aufzustehen.

«Ich freue mich immer, Freunde meiner Tochter kennen zu lernen.«

«Setz dich. Jetzt kann ich mich revanchieren, du kriegst 'ne Cola von mir. «Vic stellte Chris ein mit Eiswürfeln gefülltes Glas hin. Die kalte Dose folgte sogleich.»Mutter, soll ich dir nachschenken?«

«Nein, danke. Aber du kannst den Aschenbecher ausleeren.«

Vic kippte die Asche weg, wischte den Aschenbecher aus und stellte ihn ihrer Mutter wieder hin.

«Danke, Liebes. «Sie sah sich den Aschenbecher genau an, einen runden Glasbehälter, mit einem Minigummireifen, eine Goodrich-Reklame aus den 40er Jahren.»Hat deine Tante Bunny dir den geschenkt?«

«Ja.«

R. J. wandte sich Chris zu.»Du darfst Vic das mit der schönsten Frau nicht glauben. Sie schmeichelt mir.«

«Ich glaube ihr. Sie könnten Zwillinge sein. Kaum zu fassen, daß Sie ihre Mutter sind.«

R. J. lächelte.»Du gefällst mir, Chris.«

Wer R. J. zum ersten Mal sah, war gewöhnlich überwältigt. Wie Vic gesagt hatte, war sie etwas über einsfünfundachtzig groß, vollendet proportioniert, mit tiefschwarzen Haaren und grünen Augen — allerdings waren ihre Augen einen Ton heller als die ihrer ältesten Tochter.

«Danke. «Chris lächelte ebenfalls; ihre Nervosität legte sich etwas.

«Da wir auf der anderen Seite vom Fluß wohnen, kann ich bequem nach Williamsburg kommen, was meiner geliebten Erstgeborenen nicht immer in den Kram paßt.«

«Ich seh dich gern bei mir, Mutter. «Vic sagte es scherzhaft, aber es war offensichtlich ernst gemeint.

«Und wo ist Charly?«

«Beim Training. «Vic wandte sich an Chris.»Charly ist mein Freund. Er ist der Halfback der Footballmannschaft. Mutter ist in ihn verknallt.«

R. J. lächelte darüber, wie ihre Tochter ihre Gefühle für Charly einschätzte.»Chris, wie hast du Victoria kennen gelernt?«»Sie hat mir meine Kommode in meine Wohnung nebenan geschleppt.«

«Ein Kraftbolzen, was? In der Schule hat sie die Jungs auseinander genommen, sogar auf der Highschool. Sie hat sie zum Heulen gebracht. Ich hab ihr gesagt, es gibt bessere Methoden, Männern Zugeständnisse abzuringen.«

«Mutter. «Vic seufzte.

«Ich denke, ich sollte Mignon Manieren beibringen. «Sie drückte ihre Zigarette aus, die bis zum Stummel heruntergeraucht war.»Mignon ist ihre jüngere Schwester — erheblich jünger, gerade fünfzehn. Ich konnte den Gedanken an zwei Windelkinder zur gleichen Zeit nicht ertragen. Das Tier namens Mensch reift langsam. Mignon sollte zum Weibchen der Familie erzogen werden, da Victoria weiterhin auf Ringkampfgriffe setzen wird.«

Sie langte automatisch nach den Lucky Strikes.»Ich kann dem Zeug nicht widerstehen, ich schwör's. Aber immer noch besser, als wenn ich eine Nymphomanin wäre. Mein Spitzname ist Orgy. «Sie lachte über Chris' überraschten Gesichtsausdruck.»Ich bin keine Nymphomanin; ich nehme an keinen Orgien teil. Der Spitzname stammt aus meiner Kindheit. Immer noch besser als Schlafmütze oder Erdnuß. Und ich kann mir noch schlimmere denken. «Sie tätschelte Chris' Hand, die auf dem Tisch lag.»Ich bin keine Durchschnittsmutter.«

«Nein, Mrs. Savedge, wirklich nicht.«

«Und deine ehrwürdige Mutter«, sie machte eine theatralische Pause,»wastut sie?«

«Mich ertragen«, antwortete Chris lachend.

«Ach ja, ich nehme an, das erfordern alle Töchter, weil ihr euren Müttern das Herz brecht. Woher kommst du, Chris?«

«York, Pennsylvania.«

«War früher mal die Hauptstadt des Landes, wenn ich in Geschichte richtig aufgepaßt habe.«

«Ja, das stimmt, Mrs. Savedge.«

«Du siehst nicht sehr deutsch aus. Ich denke immer, wer aus Pennsylvania kommt, ist entweder deutsch oder Quäker. Carter. Guter englischer Name. Wir haben den Engländern viel zu verdanken, vor allem, daß sie uns Namen gegeben haben, die wir buchstabieren können — und daß sie schließlich von hier verschwunden sind. Es würde nicht gut gehen, wenn wir Könige und Königinnen in Amerika hätten. Allerdings ist es bei ihnen auch nicht immer gut gegangen.«

«Chris ist von der Vermonter Uni rübergewechselt. Ich werde sie hier rumführen. «Vic war es gewohnt, daß ihre Mutter unvermittelt vom Thema abschweifte.

«Vic kennt alle Welt. Und wenn ich sagen darf, warum ich ein bißchen stolz auf meine Tochter bin — sie ist eine gute Freundin.«

«Danke, Mutter.«

R. J. sah auf ihre Uhr, eine alte Bulova, die ihrem Vater gehört hatte.»Darf ich euch zwei zum Essen einladen?«

«Vielen Dank, ich bin eigentlich bloß vorbeigekommen, um zu fragen, ob Vic einen guten Klamottenladen in der Stadt kennt.«

«Tut sie, und ich auch. Ich fahr dich hin, aber sie machen bald zu. Kommt, Mädels. Ich weiß, wie viel ihr eßt in eurem Alter. Ich bin am Verhungern, und so viel habe ich bereits gelernt: Hier kann man nichts zu essen erwarten. Dabei fällt mir ein, Liebes, du kommst dieses Wochenende am besten nach Hause. Wenn du kannst.«

«Ja, Ma'am.«

«Bring Chris mit. «J.R. hielt inne und ließ ihren Blick über Vics Jeans und nabelfreies T-Shirt gleiten.»Du willst doch nicht etwa so gehn, oder?«

«Mutter, wieso denn nicht? Wir gehn ja nicht in die Kirche.«

Als sie die Treppe hinunterstiegen, rief J.R. lässig über die Schulter:»Töchter werden geboren, um ihren Müttern das Herz zu brechen.«

3

«Irgendwo da draußen wartet ein tollerTyp auf dich. Vielleicht sogar hier auf dem Campus«, sagte Vic.

«Ach, hör doch auf. «Jinx Baptista zog die Nase kraus.

Vic schlang ihren Arm um Jinx' Taille, als sie über den Innenhof spazierten; Charly Harrison ging rechts von Vic, den Arm um deren Taille gelegt.

Vics beste Freundin zu sein, das konnte manchmal ganz schön nerven. Jinx ertrug es, so gut sie konnte; denn schon als Kind hatte sie eingesehen, daß aller Augen sich immer zuerst auf Vic richten würden.

«Ein intelligenter. Er muß intelligent sein, um es mit dir aufnehmen zu können, Jinx«, sagte Charly.

«Und gut bestückt«, kicherte Vic.

Jinx zwinkerte Vic zu.»Deine Mutter hat dich nicht anständig erzogen.«

«Ich hör nicht hin, bin zu empfindsam. «Charly amüsierte sich über die beiden.

Sie schlenderten über den Campus und in die Stadt, wo in Gelb und Grün geschmückte Geschäfte die zurückgekehrten Studenten begrüßten, die jeden Herbst einfielen wie vergoldete Heuschrecken.

Jinx kam wieder auf das Thema Männer zu sprechen, an denen in ihrem Leben Mangel herrschte.»Charly, Männer mögen keine intelligenten Frauen. Ich hab darüber nachgedacht, was du gesagt hast.«

«Was hab ich gesagt?«

«Daß ein Mann intelligent sein muß, um es mit mir aufzunehmen.«

«Oh. «Er trat zwischen die Frauen und legte einer jeden eine Hand auf den Rücken, um sie sicher auf die andere Straßenseite zu bugsieren.»Muß er auch.«

«Und ich sage, Männer mögen keine intelligenten Frauen.«

«Ach komm, Jinx. «Vic verdrehte die Augen.

«Ist doch wahr.«

«Vic ist intelligent«, sagte Charly überzeugt.

«Ach Quatsch — du würdest sie auch lieben, wenn sie strohdoof wäre.«

«Würde ich nicht. «Er legte entrüstet die sonnengebräunte Stirn in Falten.