«Man soll die Kaufkraft einer Frau nie unterschätzen. «Chris griff in ihre Tasche, zückte eine Kreditkarte und öffnete die Tür zu einem Geschäft, das neben Reisegepäck auch bunte Regenschirme führte. Sie kaufte einen grüngelben.

Draußen spannte sie ihn auf. Sie quetschten sich darunter und hielten ihn abwechselnd.

«Tut mir Leid, daß ich so weit weg parken mußte. Ich hätte dich absetzen sollen.«

«Macht doch Spaß. Ich hab viel Spaß mit dir. Ich hab tatsächlich mehr Spaß mit dir als mit sonst irgendwem.«

«Ah-hm. «Vics Tonfall klang munter, ungläubig.

«Ehrlich.«

Sie kamen beim Auto an.

«Verdammt, ich hab vergessen, ein Handtuch zu kaufen!«Chris stemmte die Hand in die Taille, so daß ihr Ellbogen in den Regen ragte.»So, wo kriegen wir Handtücher her?«

«Ich fahr dich.«

«Nein, wir werden naß.«

«Du hast mich nicht ausreden lassen. Du sitzt hinten.«

«Ich lasse mich nicht öffentlich mit einer Frau sehen, die einen nassen Hintern hat. Komm, wir verstauen unsere Sachen im Kofferraum, dann können wir irgendwo ein Handtuch kaufen.«

Das dauerte noch einmal zwanzig Minuten. Endlich saß Vic am Steuer und ließ den Motor an.

«Wo möchtest du hin?«

«Ich hab 'nen Bärenhunger. Wo können wir hingehen, wo nicht ein Mordsgedränge ist?«Chris klappte die Sonnenblende herunter, kramte nach dem Kamm in ihrer Handtasche.»Du kennst alle Welt.«

«Man grüßt sich, mehr nicht. Hamburger? Grillfleisch? Salat? Oder Pseudoessen?«

«Was ist das denn?«

«Tofu, Sojasprossen.«

«Schade, daß wir nicht zu euch gehen können. Deine Mutter ist eine Spitzenköchin. Ich bin nicht so gut wie sie, aber ich kann kochen. Bloß jetzt bin ich zu hungrig, um die Sachen zu kaufen und zuzubereiten. Laß uns irgendwo essen gehen, egal wo. Ich verspreche dir, daß ich bald mal für dich koche. Meine Mutter, die den>Sorge-der-Woche<-Preis gewinnen könnte, hat mir kochen beigebracht. Würde ich auf einer Insel stranden, ich könnte Feuer machen und überleben.«

Dukes war eines der beliebtesten Restaurants der Stadt, aber bei diesem Regen blieben die meisten Leute zu Hause oder in den Wohnheimen. Außer Vic und Chris waren nur noch sechs weitere Gäste im Lokal.

Als sie ihr gebratenes Hähnchen, die Pommes und den Krautsalat aufgegessen hatten, spürten sie die herrliche Zufriedenheit, die sich bei gefülltem Magen einstellt.

«Nachtisch?«

«Kaffee. Ich bin zu satt für Nachtisch«, antwortete Vic. Während sie den Kaffee tranken, erklärte Vic, wo die besten Geschäfte, Restaurants und Bars zu finden waren. Dann stellte sie Chris ein paar persönliche Fragen.

«In meinem ersten Jahr in Vermont habe ich jedes Wochenende gefeiert. Das hat sich im zweiten Jahr gelegt. Immer dieselben Gesichter. Immer dieselben Geschichten. Ich hatte es satt, mich selbst reden zu hören. «Chris rührte noch etwas Sahne in ihren Kaffee.»Zum Glück hab ich nie so ausgiebig gefeiert, daß meine Zensuren gefährdet waren. Mein Dad hätte mich umgebracht. Bist du viel auf Partys gegangen?«

«Nein. Sobald mehr als acht Personen zusammen sind, hab ich das Gefühl, einen Job erledigen zu müssen. Ich muß mit allen reden, muß der Gastgeberin zur Hand gehen. Grauenhaft. «Sie lächelte.»Benimmunterricht.«

«Hey, so was haben wir in York auch. Wir nennen es bloß Tanzschule. Ich mußte da hin.«

«Sport. Ich hab immer Sport getrieben. «Vic umfaßte mit ihren langen, anmutigen Fingern die Kaffeetasse.»Das hat dem letzten bißchen Lust auf Geselligkeit, das mir noch geblieben war, den Rest gegeben.«

«Golf?«

«Nein, das überlasse ich Tante Bunny. Baseball. Baseball hab ich geliebt, und dann kam ich an den Punkt, wo Mädchen nicht Baseball spielen durften. Ich meine, ich konnte im Sommer mit den Jungs spielen, aber in der Schule war nur Softball erlaubt. Deshalb hab ich mit Tennis angefangen, das war okay. Hockey. Lacrosse. Leichtathletik. Ich hab alles ausprobiert. Leichtathletik mochte ich am liebsten, aber Mutter und Tante Bunny sagten immer, der Hundertmetersprint bringt auf Dauer nichts.«

«Ich dachte, du und Jinx spielt Lacrosse für William and Mary.«

«Stimmt. Jinx. Ich tu's für Jinx. Ich würde genau so gern Tennis für Mary spielen, aber nicht für William. «Sie lachte.

«Ich war früher Rückenschwimmerin. Schwimmtraining mit blonden Haaren ist keine gute Idee. Deine Haare färben sich grün.«

«Wie punkig.«

Sie lachten. Bald darauf zahlten sie, jede für sich, und rannten zum Auto.

Der Regen auf der Windschutzscheibe und das Hin und Her der Scheibenwischer waren die einzigen Geräusche im Wagen. Die durch den Regen verwischten Scheinwerferlichter der Autos verstärkten das Gefühl der Intimität in dem Impala.

«Jetzt sehe ich, was du damit meinst, daß jeder Regen seinen eigenen Charakter hat«, erklärte Chris, als Vic in Chris' Zufahrt einbog.»Möchtest du mit raufkommen? Wir können unsere nassen Sachen waschen. Ich kann die Waschmaschine und den Trockner benutzen.«

«Hast du ein Glück. «Vic mußte mit ihrer Wäsche in den Waschsalon.

Sie stiegen aus und liefen ins Haus. Chris ging voraus zur Waschmaschine, sortierte frohgemut ihre durchweichten Sachen und belud die Maschine. Dann gingen sie die Treppe zu ihrem Apartment hoch. Sie zündete Kerzen an, statt die Lampen anzuknipsen.

«John Coltrane,>A Love Supreme<? Bob James? David Sanborne? Oder.?«

«Den Regen. Ich möchte am liebsten dem Regen zuhören. «Vic setzte sich aufs Sofa.

«Ich mach mal lieber die Heizung an. Kaum zu glauben, wie rauh das Wetter ist.«

«Ende September. Der Jahreszeitenwechsel. Man kann nie wissen. Ich liebe diese Zeit. Als ich klein war, war ich manchmal draußen auf dem Fluß; Tante Bunny hatte ein Segelboot. Wir waren draußen und binnen Sekunden wurde das Wasser kabbelig, die Wolken wälzten sich herab. Wunderbar.«

«Wo du lebst, ist es wunderbar. «Chris setzte sich neben sie.»Die Savedges sind wunderbar. «Sie lehnte sich an die große geschwungene Armlehne des Sofas, streifte ihre Gummistiefel ab und legte die Füße aufs Sofa.»Zieh doch deine auch aus. Mach's dir gemütlich. Weißt du, der Besuch bei euch war.«, Chris rang um die richtigen Worte,». wie ein Blick in eine andere Welt. Eine glückliche Welt.«

«Wir sind alle ein bißchen irre, das mußt du berücksichtigen.«

«Ihr seid eine glückliche Familie. Wir nicht. «Chris stellte das nüchtern fest.»Mom und Dad wahren den Schein. Mom ist furchtbar kritisch. Das Leben muß nach ihrer Pfeife tanzen. Sie ist eine Perfektionistin, und sie macht uns Übrigen das Leben schwer.«

«Aber sie liebt dich. «Vic konnte sich nicht vorstellen, eine Mutter zu haben, die sie nicht liebte.

«Mutter möchte ein Ebenbild von sich. Sie möchte den Tisch exakt auf ihre Art gedeckt, den Thermostat auf zwanzig Grad, die Uhr auf die richtige Zeit gestellt haben, nicht eine Minute vor oder nach. Wenn ich das alles tue und allem zustimme, was sie sagt, dann liebt sie mich. «Chris lächelte wehmütig.»Meine Mutter ist herrschsüchtig, und sie ist kein sehr glücklicher Mensch.«»Und dein Dad?«

«Er arbeitet schwer. Verdient 'nen Haufen Kohle. Hält es mit ihr aus. Spielt seine Rolle. «Sie schüttelte ein Sofakissen auf.»Eure Familie ist glücklich. Ihr akzeptiert euch gegenseitig. In meiner Familie heißt es ständig, das ist falsch, tu dies, tu das. Deine Mom und dein Dad tragen dir vielleicht was auf, aber hinterher sagen sie dir nicht, wie miserabel du es gemacht hast. Deine Eltern lieben dich. Bei euch zu Hause sein, das ist, ich weiß nicht, es ist wie atmen können.«

Vic hörte zu, sie wußte nicht recht, wie sie reagieren sollte.»Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.«

Chris warf den Kopf hin und her; ihre Haare flogen herum und fielen dann wieder zurück. Sie waren noch ein bißchen naß.»Denkst du jemals über das Morgen nach? Wer du sein wirst und was du tun wirst?«

«Manchmal. Vor allem, was ich tun werde. Du?«

Chris zuckte mit den Achseln.»Ab und an. Manchmal schalte ich ab und manchmal schalte ich an. Ich hab's satt, mir von allen sagen zu lassen, daß ich das ganze Leben noch vor mir habe. Woher wissen die das? Keiner weiß es. Ich schon gar nicht.«

Vic lächelte.»Ich vermute, es würde uns den Spaß verderben, wenn wir's wüßten.«

«Oder den Schrecken nehmen.«

«Ich hab keine Angst.«

«Echt?«Chris, die oft innerlich angespannt war, wunderte sich, wieso Vic das sagen, wieso sie das fühlen konnte.

«Was passieren wird, wird passieren. Man macht sich und alle anderen verrückt, wenn man versucht, es zu ändern. Ich finde, man muß das Leben akzeptieren. Und sich selbst.«

«Sich selbst akzeptieren ist vermutlich das Schwerste. Die eigenen Grenzen akzeptieren.«

Vic betrachtete Chris' Mund, einen schön geformten Mund mit fein gezeichneten Lippen.»Sich selbst akzeptieren, das ist es vielleicht, was ein gutes Leben ausmacht. Was man kann, erkennt man nur, wenn man weiß, was man nicht kann.«

«So hab ich das nie gesehen. «Chris lehnte sich wieder an die Armlehne des Sofas.»Die Menschen leben ihr ganzes Leben ohne zu wissen, was sie können. Sie lassen sich treiben. Ich würde verrückt dabei.«

Vic lachte sie aus.»Das ist es nicht wert. Nichts ist es wert, deswegen verrückt zu werden.«

«Glaubst du das wirklich?«

«Ja. Ganze Gesellschaften wurden zerstört, ohne daß die Menschen verrückt wurden. Einige vielleicht, aber die meisten nicht. Rußland. Frankreich während der Revolution. Der Erste Weltkrieg hat eine ganze Weltordnung hinweggefegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten die Völker in Europa und Japan in Trümmern. Aber sie lebten.«

«Siehst du, das ist der Vorteil, wenn man Geschichte als Hauptfach hat. Wer Englisch als Hauptfach hat, liest die Romane, die aus diesen Kriegen entstehen. Da ist natürlich jeder elend oder entfremdet oder sonst was. Vielleicht werden nur unglückliche Menschen Schriftsteller.«