Eine Sternschnuppe spannte einen Bogen über den James und zog einen blitzenden Schweif hinter sich her, silbern wie eine Forelle. Chris nahm das als gutes Omen.
Mignons Antwort kam zurück:»Charly ist scharf. Ich wollte, ich hätte einen Freund wie ihn. Klug ist er auch.«
Chris fühlte einen eifersüchtigen Stich, aber sie verdrängte es.»Mignon«, schrieb sie,»du wirst den Freund haben, der für dich der Richtige ist. Wenn du allerdings abnimmst, wer weiß, ob du Charly deiner Schwester nicht ausspannen kannst (ist bloß Spaß)?«
Die Briefchen gingen hin und her, bis Chris abschließend schrieb:»Bin müde. Bis morgen. Träum süß.«
11
Der runde Rand der Sonne schob sich über den Horizont. Der dichte silbrige Nebel, der den Fluß einhüllte, färbte sich rosa, dann rot, dann golden. Es würde wohl neun Uhr werden, bis der Nebel sich heute lichtete, und wenn die Sonne über dem James aufging, würde der ganze Fluß bronzebraun gefärbt sein, während der Nebel seine Finger nach dem unglaublich tiefblauen Himmel ausstreckte.
Vic spazierte still am Flußufer entlang. Sie konnte nicht schlafen, deshalb wollte sie die Morgendämmerung begrüßen, ihre liebste Tageszeit.
Als sie sich dem Steg zuwandte, sah sie ihre Mutter, einer mittelalten Venus gleich, die durch das blasse silbrige Licht glitt, zum Steg schreiten.
Dort trafen sie sich und gingen zum Boot, stiegen wortlos ein und legten ab; R. J. nahm die Ruder. Wegen des Nebels ruderte sie nur hundert Meter weg vom Ufer. Ein größeres Boot würde sie nicht rechtzeitig sehen können; allerdings glaubte sie nicht, daß um diese Zeit welche auf dem Wasser unterwegs waren. Falls jemand angelte, würde er sich ruhig treiben lassen.
«Träumst du mit offenen Augen?«, fragte R. J. die Arme auf die Ruder gestützt.
«So ungefähr. «Vic bemerkte die kräftigen Hände ihrer Mutter an den Rudern, die Muskeln an ihren Unterarmen. Hätte R. J. Söhne geboren, würden sie wohl bei den Miami Dolphins oder den Kansas City Chiefs spielen.
«Toll, daß Bunny den Pokal behalten kann. Tut ihr gut.«
«Wieder Ärger mit Onkel Don? Ich dachte, das wär vorbei.«
«Ist es auch, aber die Menschen brauchen lange, um sich wieder zu fangen. Zerstörtes Vertrauen ist schwer zu reparieren. Er schwört bei einem Stapel Bibeln, daß Nora ihm nichts bedeutet hat, daß er es nie wieder tun wird. «R. J. atmete die schwere feuchte Luft ein.»Wer weiß, vielleicht meint er es sogar ernst. Ich würde mir Sorgen um sie machen, wenn sie allein wäre. Ich hab dich und Mignon, egal was passiert. Ich hab's besser getroffen.«»Mutter«, Vic faltete die Hände wie zum Gebet,»ich weiß nicht, ob du das auch gesagt hättest, als ich im ersten Highschooljahr Dads Auto zu Schrott gefahren habe.«
«Da hab ich 'ne Menge andere Sachen gesagt. «Sie lachte. Das Lachen verstärkte sich, als es über das Wasser trug.
«Ich nehme an, Mignon und ich kosten sehr viel.«
«Tja, das gehört nun mal zum Muttersein, aber du hast jeden Sommer gearbeitet, seit du vierzehn warst. Du hast deinen Teil beigetragen.«
«Wenn ich jetzt mein Studium abbreche, bekomme ich den größten Teil der Gebühren für dieses Jahr zurück. Ich kann arbeiten gehen und euch unter die Arme greifen. «Vics leise Stimme schien einen Kontrapunkt zum Plätschern des Wassers zu bilden.
«Auf gar keinen Fall. Vic, schlag dir das gefälligst aus dem Kopf.«
Vic senkte die Stimme, ihr Ton schwang tiefer.»Als Dad letztes Mal unser Geld verloren hat, war er fast zehn Jahre jünger. Er ist sechzig, Mom. Du vergißt, wie viel älter er ist als du. Ich glaube nicht, daß er es wieder hereinholen kann. «Sie hob die Hände, als R. J. sie unterbrechen wollte.»Mignon will aufs College. Wenn ich jetzt anfange zu arbeiten, kann ich auch was dazu beisteuern.«
«Du bist fast fertig, Victoria. Du hast nur noch ein Jahr.«
«Ich kann den Abschluß später nachholen. Wir dürfen die Farm nicht verlieren, Mom.«
«Victoria, ich verbiete es dir. Das ist doch zu blöd, um darüber zu diskutieren. «R. J. hob den Kopf, als ein Blaureiher aus dem Nebel auftauchte und so tief herabstieß, daß sie ihn hätte berühren können.
«Ich weiß noch, wie es letztes Mal war, Mom«, sagte Vic.
R. J. schwieg. Sie ließen sich treiben. Fische schnellten aus dem Wasser. Der Nebel lichtete sich allmählich. Sie konnten die Unterseiten der Enten sehen, die über ihnen flogen.
Schließlich sprach Vic wieder.»Wenn ich Charly heirate, angenommen, er fragt mich, ich weiß nicht, ob seine Eltern uns Geld zur Hochzeit schenken, und ich möchte dich nicht enttäuschen.«»Du wirst mich nicht enttäuschen. Natürlich wird er dir einen Heiratsantrag machen, und seine Familie wird euch ein sehr komfortables Leben ermöglichen.«
«Meinst du?«
«Ja. Sie werden alles tun, was getan werden muß. Ein Haus kaufen. Ihn geschäftlich etablieren. Sie sind so. «Sie hob die Ruder.»Glaubst du, er möchte in Surry Crossing leben?«
«Ich weiß nicht. Er spricht immer mal wieder davon, sich als Profifootballspieler zu verpflichten. Ich weiß es wirklich nicht.«
«Herzchen, ich denke, er wird alles tun, worum du ihn bittest. Ich bin zwar nicht Bunny, aber ich kann dir etwas von meiner schwer errungenen Weisheit in puncto Männer mitgeben. Du mußt frühzeitig um die großen Sachen bitten, solange er noch bis über beide Ohren in dich verliebt ist, solange er sich noch beweisen muß.«
«Mom. «Vic war erstaunt, dies von ihrer Mutter zu hören.
«So ist es nun mal. Im Laufe der Zeit nimmt er dich mehr oder weniger als selbstverständlich. Er liebt dich, das schon, sofern es eine gute Ehe ist, aber das Bedürfnis, der Ritter in glänzender Rüstung zu sein, kommt ihm abhanden.«
«Wahrscheinlich. «Vic beugte sich zu ihrer Mutter vor.»Manchmal denke ich, daß ich überhaupt nichts über die Männer weiß. Aber wenn ich das WortEhe höre, dann höre ich eine Stahltür hinter mir zufallen.«
«Das ist ganz natürlich.«
«War es bei dir auch so?«
«Ob ich es so empfunden habe?«R. J. schüttelte den Kopf.»Ich war total verschossen in deinen Vater. Ich hab keine Stahltür gehört, aber natürlich mußte ich mich fragen, was da auf mich zukam. Was würde die Zukunft bringen? Solche Sachen. Wir hatten keinen Penny. Mom und Dad konnten uns ein Dach über dem Kopf bieten, aber sie waren selbst nicht allzu reichlich mit Geld gesegnet.«
«Aber eine Stahltür hast du nicht gehört.«
«Nein.«
«Tante Bunny sagt immer, es ist genauso leicht einen reichen Mann zu heiraten wie einen armen«, zitierte Vic ihre Tante.»Wenn eine Tür zufällt, dann sollte es sich wenigstens lohnen«, setzte sie nachdenklich hinzu.»Was willst du wegen Dad unternehmen?«
«Ich kann auf keinen Fall zulassen, daß er Land verkauft. Ich muß ihn dazu bringen, Surry Crossing auf meinen Namen zu überschreiben. Er wird's tun, glaube ich. Es wird ihm nicht leicht fallen. Männer sind ja so zartbesaitet.«
Das konnte Vic nicht verstehen. Sie hatte diese Ansicht in mehreren Variationen von anderen Frauen gehört, allesamt älter als sie. Die Männer schienen ausgesprochen stark zu sein. Wieso wurden sie mit solchen Schicksalsschlägen nicht fertig? Es ergab keinen Sinn. Waren sie wahrhaftig zartbesaitet, oder hielten die Frauen sie in diesem Zustand, um sie beherrschen zu können? Sie wollte nicht mit ihrer Mutter darüber diskutieren. Sie kannte R. J. und wußte, sie war keine Frau, die sich anpaßte. R. J. begegnete allen, ob Mann, Frau oder Kind, offen und ehrlich.
Als R. J. zum Ufer zurückruderte, sagte Vic leise:»Ich habe vieles für selbstverständlich gehalten, Mutter, und ich habe vergessen, dir zu danken.«
«Herzchen, du bist zweiundzwanzig. «R. J.s schöne Stimme klang froher.»Damals habe ich auch vieles für selbstverständlich gehalten. Aber ich danke dir.«
«Was sagt Großmama Catlett immer?>Das Leben an sich.<«Vic zog das Wort» Leben «dermaßen in die Länge, daß sie in derselben Zeit leicht vier Silben hätte aussprechen können, eine gelungene Imitation der alten Dame.»Ich bin dabei, etwas über das Leben an sich zu lernen.«
«Ich auch.«
12
Nach einem warmen, kristallklaren Septembertag, wie er nicht schöner hätte sein können, fuhren die drei jungen Frauen zurück nach Williamsburg. Mignon vermißte sie schon, noch bevor sie am Briefkasten an der Landstraße vorbei waren. R. J. legte den Arm um ihre Jüngste und gab ihr zur Aufmunterung eine Fahrstunde.
In der Stadt setzte Vic Jinx ab. Jinx lud sie und Chris für Mittwochabend zum Essen ein. Da am kommenden Wochenende ein Auswärtsspiel stattfinden würde, hatte Vic» dienstfrei«, wie sie es nannte. Jinx meinte, sie sollten alle wieder nach Surry Crossing fahren.
Vic lachte und dankte ihr für die Einladung; dann fuhr sie Chris zu ihrem Haus und hielt in der Zufahrt.
«Du hättest bei dir drüben parken können. Ich wäre zu Fuß gegangen. «Chris lächelte, als sie die Tür aufmachte.»Danke. Ich hatte viel Spaß. Ich könnte auf der Stelle wieder umkehren.«
«Nächste Woche. Jinx hat uns eben eingeladen.«
Chris beugte sich zu ihr hinüber, hielt inne, stieg dann aus.»Du weißt ja, wo ich wohne, komm einfach rüber, wenn dir danach ist.«
«Du auch. «Vic hätte am liebsten den Motor abgestellt, um Chris nach oben zu folgen, aber ihr war klar, daß sie besser daran tat, sich bei Charly zu melden.
Sie fuhr zu seinem Wohnheim. Die Footballspieler wohnten ungeachtet der Jahrgänge zusammen und aßen im Speisesaal gemeinsam an einem gesonderten Tisch, wo ihnen speziell zubereitete Mahlzeiten zur Steigerung der Kondition verabreicht wurden. Charly paßte das überhaupt nicht in den Kram, aber der Trainer fand, es fördere die Kameradschaft. Was nur zum Teil stimmte. Ein Übermaß an rotem Fleisch, Vitaminen und den von einigen Spielern verbotenerweise konsumierten Steroiden erzeugte eine explosive Mischung männlicher Hormone.
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