Und war dies das Gesicht meines Vaters? Henry, sicherlich Ende fünfzig, war ein stattlicher Mann, auch wenn sein Haar von Grau durchzogen war und sein Gesicht von den Jahren gezeichnet. Er war immer noch schlank und beweglich und hielt sich kerzengerade. Ich stellte mir vor, daß mein Vater, hätte er damals die Cholera-Epidemie überlebt, jetzt ähnlich aussehen müßte.
«Morgen wirst du dich besser fühlen, Bunny. Du brauchst jetzt vor allem Schlaf.«
«Ja«, sagte ich leise. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit begann zu weichen, mir wurde wohler. Gewiß hatte mich nur die unerwartete Nachricht von Sylvias Tod so aus der Fassung gebracht.»Ich bin froh, daß ich wieder hier bin«, sagte ich, mehr um mich selbst als ihn zu überzeugen. Er musterte mich aufmerksam mit forschendem Blick. Forschend. Das gleiche Wort war mir gekommen, als Anna mich gemustert hatte. Und genauso hatten Theo und Colin mich angesehen, so, als suchten sie noch etwas.
«Bunny«, sagte Henry, und seine Stimme klang weich und tröstlich,»warum bist du eigentlich zurückgekommen? Ich meine, warum bist du erst jetzt gekommen und nicht schon viel, viel früher?«
Ich wußte nicht, wie ich diese Frage beantworten sollte. Das beharrliche Schweigen meiner Mutter über dieses Haus und diese Familie hatte auf mich die Wirkung eines unausgesprochenen Gebots gehabt, Pemberton Hurst zu vergessen. Bis dieser Brief gekommen war. Der Brief von Tante Sylvia.
«Ich werde bald heiraten, Onkel Henry, und ich wollte vorher
— «Er wich einen Schritt zurück.»Du willst heiraten!«
«Ja. Und ehe ich diesen neuen Abschnitt beginne, wollte ich wenigstens einmal noch meine Familie sehen und das Haus, wo ich geboren bin, und — «
«Bunny, wer ist der Mann?«
«Du kennst ihn nicht, Onkel. Er ist Architekt in London. Ein Schüler von Charles Barry. Er ist wohlhabend, Onkel, und aus guter Familie. Und er ist sehr gebildet. Ich lernte ihn — «
«Habt ihr den Tag schon bestimmt?«
«Wir wollen im nächsten Frühjahr heiraten. Er arbeitet an den Plänen für den Victoria-Bahnhof. Er hofft, daß man seinem Entwurf den Vorzug vor den anderen geben wird — «
«Wir müssen ihn kennenlernen, Leyla«, sagte mein Onkel mit, wie mir schien, übertriebenem Ernst.
«Aber natürlich. «Ich sah Henry an. Irgend etwas stimmte nicht. Als er meine Verwirrung bemerkte, wurde er wieder weicher.»Bunny, Kind, du bist noch so jung, und es gibt eine Menge Dinge, von denen du nichts weißt. Als du vor zwanzig Jahren mit deiner Mutter von hier fortgingst, fürchteten wir, daß wir dich niemals wiedersehen würden. Du warst unser
Sonnenschein. Wir gehören alle einer Familie an, in unseren Adern fließt Pemberton Blut. Ich sehe es in deinem Gesicht. Du hast viel von Jenny, aber noch mehr von meinem Bruder Robert. Du und Theo, ihr ähnelt einander, ist dir das nicht aufgefallen? Ich bin einzig um dein Wohl besorgt. Und ich möchte, daß du dich hier zu Hause fühlst. Wir alle wünschen das.«
Aber das stimmt nicht, hätte ich am liebsten gerufen. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte so tun, als wäre dieser Mann mein Vater; ich könnte mich ihm in die Arme werfen. Aber das ging nicht. Er mochte mit mir verwandt, er mochte mir ähnlich sein, er blieb ein Fremder.»Bis morgen legt sich dieser schreckliche Wind bestimmt, dann kann ich dir das Grundstück zeigen. Es beschränkt sich nicht auf den Hügel, weißt du; es reicht viel weiter.«
«Ja, ich weiß. Das Wäldchen.«
Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, das zu sagen; die Wirkung jedenfalls, die es auf meinen Onkel hatte, war völlig unerwartet. Sein Gesicht veränderte sich, wurde hart und verschlossen.»Du erinnerst dich also an das Wäldchen?«
«Nein. Colin hat mir davon erzählt.«
«Ach so. Und was hat er dir erzählt?«
«Nur, daß wir dort gespielt haben.«
«Ja, wir haben große Ländereien. Fast der ganze Grund zwischen dem Haus und East Wimsley gehört uns. Du wirst mit der Zeit alles kennenlernen. Ich hoffe, du bleibst lange bei uns, Bunny. Ich hoffe es von Herzen.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
«Ah, da kommt Gertrude mit dem Tee. Schlaf gut, Bunny, morgen sieht alles ganz anders aus.«
Gertrude wartete, bis er gegangen war, dann kam sie mit dem Tablett leise herein. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich hatte den Eindruck, daß sie, als sie das Tablett auf den kleinen
Tisch vor dem Kamin stellte und dann zum Bett ging, um das Kissen aufzuschütteln, verstohlen zu mir herüberblickte, als wage sie es nicht, mich offen anzusehen. Viel zu müde, um lange Umschweife zu machen, fragte ich unverblümt:»Erinnern Sie sich an mich, Gertrude?«
Sie hielt augenblicklich in ihrer Tätigkeit inne.»Ja, Miss Leyla, ich erinnere mich.«
«Es tut mir leid, aber ich kann mich an Sie nicht erinnern. «Ich ging um das Bett herum und stellte mich ihr gegenüber.»Sind Sie schon lange bei der Familie Pemberton, Gertrude?«
«Fast dreißig Jahre.«
Noch immer sah sie mich nicht an. Noch immer stand sie regungslos da, wie auf dem Sprung. Ich fand dieses Verhalten bei einer Frau, die mich wahrscheinlich versorgt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, ausgesprochen sonderbar. Sie schien beinahe Angst vor mir zu haben.»Danke für den Tee, Gertrude. Sonst brauche ich jetzt nichts mehr. «Schlurfenden Schrittes, das eine Bein etwas nachziehend, ging sie zur Tür. Der Schein des Feuers glänzte auf ihrem krausen Haar. Hatte dieser seltsame Gang nicht etwas Vertrautes? Hatte ich als Kind Gertrude beobachtet und mich gefragt, warum sie hinkte? Als sie die Tür öffnete, ergriff mich ein Gefühl — das Gefühl, diese Frau schon früher gekannt zu haben.»Haben Sie mich vermißt, als ich fort war, Gertrude?«
Sie fuhr herum, und ich sah erstaunt die Tränen in ihren Augen.»O ja, ich habe Sie schrecklich vermißt, Kindchen. Sie und Ihre liebe Mutter. Ich habe immer darum gebetet, daß Sie wiederkommen. «Ich trat einen Schritt auf sie zu.»Und jetzt bin ich wieder da.«
«Ja, Kindchen. «Ihre Lippen zitterten. Ich konnte ihren Kummer nicht verstehen.
«Ich möchte so gern über früher sprechen. Können wir beide das nicht bald einmal tun?«
«Ach, ich habe ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen.«
«Das glaube ich nicht. Sie können mir von meiner Mutter erzählen und von meinem Vater — «
«Verzeihen Sie mir, Miss Leyla, aber Vergangenes gehört in die Vergangenheit. Eine schöne junge Frau wie Sie sollte sich nicht um Dinge kümmern, die aus und vorbei sind. Verzeihen Sie, daß ich das so sage.«
«Wenn Sie meinen. «Ich breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus.»Sind die anderen denn auch dieser Meinung?«Sie nickte mit Nachdruck.
«Spricht denn die Familie nie über die Vergangenheit?«Sie schüttelte den Kopf.
«Ich verstehe. «Aber ich verstand natürlich nicht.»Nochmals danke für den Tee. Wecken Sie mich zum Frühstück? Gute Nacht. «Die Tür schloß sich leise, und ich war nun allein. Ich konnte mich nicht erinnern, mich je in meinem Leben einsamer und verlorener gefühlt zu haben. Das merkwürdige Verhalten meiner Verwandten, Gertrudes Abwehr und eine neue Sehnsucht nach meinem Vater, lösten in mir ein Gefühl der Leere und tiefer Schwermut aus.
Das Zimmer war plötzlich klein und fremd. Abgesehen von den persönlichen Dingen, die ich im Raum verteilt hatte, war es ein Zimmer, das ich nicht kannte und das mich nicht kannte. Mit dem Haus war es ähnlich; es war groß und leer und fremd, und die Menschen, die in ihm wohnten, waren Unbekannte für mich und behandelten mich wie eine Unbekannte, mit der sie nichts gemeinsam hatten.
Alles war ganz anders, als ich erwartet hatte. Woran lag das? Lag es vielleicht nur an mir? War ich überempfindlich? Ich hatte die ersten fünf Jahre meines Lebens in diesem Haus verbracht. Mein Vater und mein Bruder waren in diesem Haus gestorben. Vielleicht hatte ich allzu hohe Erwartungen gehegt.
War es denn verwunderlich, daß ich nach so langer Zeit diesen Menschen hier genauso fremd war wie sie mir? Ich mußte Geduld haben. Mit der Zeit würden sie mich gewiß in ihrer Mitte aufnehmen.
Der Tee wirkte Wunder. Er versetzte mich in einen Zustand leichter Euphorie, so daß ich schließlich mit einem Gefühl des Wohlbehagens mein Nachthemd anlegen und in das Bett schlüpfen konnte. Henry hatte recht gehabt. Morgen würde alles anders aussehen. Nachdem ich die Kerze auf dem Nachttisch gelöscht hatte, drehte ich mich auf die Seite und schloß aufatmend die Augen. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. So müde und erschöpft ich von den Ereignissen des Tages war, mein Geist war hellwach. Fragen begannen mich zu quälen; Fragen, die ich, durch das Zusammensein mit der Familie abgelenkt, hatte verdrängen können, die mir aber jetzt, in der Dunkelheit und Stille des Schlafzimmers, wieder in den Sinn kamen. Sicherlich war das seltsame Verhalten meiner Verwandten mir gegenüber zum Teil damit zu erklären, daß wir einander fremd waren, aber ihr offenkundiges Widerstreben, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, war so einfach nicht zu begründen. Alle hatten sie deutliche Abwehr gezeigt, wenn das Gespräch auf die Vergangenheit gekommen war, so als wäre das Thema peinlich oder schmerzlich. Aber warum war das so? Was an der Vergangenheit war so aufwühlend, daß man jetzt, zwanzig Jahre später, nicht darüber sprechen konnte?
Eine der wenigen Auskünfte, die ich von meiner Mutter auf meine Fragen bekommen hatte, war, daß mein Vater und mein Bruder in diesem Haus an Cholera gestorben waren. Gewiß war das tragisch, aber es konnte doch kein so erschütterndes Ereignis gewesen sein, daß die Familie noch heute darunter litt.
Und doch gab es keinen Zweifel, daß sie jedes Gespräch über die Vergangenheit bewußt vermieden. Alle, außer Colin. Er hätte am liebsten den ganzen Abend Erinnerungen aufgefrischt, wenn Theo uns nicht unterbrochen hätte. Aber gerade vor Colin hatte Anna mich gewarnt. Ich lag mit offenen Augen in der Dunkelheit und dachte über meinen Vetter Colin nach. Ich rief mir unser Gespräch in der Bibliothek ins Gedächtnis, die Wärme, mit der er von unserer Kindheit und von unseren Spielen im Wäldchen erzählt hatte. Und plötzlich hörte ich glasklar seine Antwort auf meine Bemerkung, daß meine Mutter niemals über die Pembertons gesprochen hatte, und die mich jetzt tief traf: >Als wollte sie vergessen, daß es uns gibt.<
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